Gesundheitswesen 2007; 69: S62-S63
DOI: 10.1055/s-2006-927377
Zusammenfassung

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J. Donhauser1
  • 1Gesundheitsamt im Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen
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Publication Date:
14 February 2007 (online)

Die Einrichtung Staatlicher Gesundheitsämter durch das „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ zum 1.4.1935 geschah in erster Linie zur Umsetzung der biologistischen, selektionistischen und rassistischen NS-Bevölkerungspolitik.

Die Nationalsozialisten konnten dabei direkt an einen Wertewandel anknüpfen, der sich bereits in den beiden Jahrzehnten vor ihrer Machtentfaltung entwickelt hatte.

So übernahm die NS-Gesundheitspolitik Ideen aus der sozialhygienischen Bewegung der Weimarer Republik und führte diese vor allem im Bereich der Fürsorge, wenn auch unter anderen Vorzeichen, zunächst weiter. Insbesondere fand jedoch die Gedankenwelt der Eugenik/Rassenhygiene ihren Niederschlag in der NS-Gesundheits- bzw. Bevölkerungspolitik. Die deutsche Ausprägung der Eugenik in Form der Rassenhygiene war keine einheitliche Leitwissenschaft, sondern setzte sich aus mehreren Strömungen zusammen, die bis in sozialistische Kreise hinein reichten. Eugenische Forderungen, wie sie vor allem nach dem Kriegsende 1918 zunehmend in der deutschen Politik auf fruchtbaren Boden fielen, waren keineswegs eine deutsche Besonderheit, sondern in vielen anderen bürgerlichen Gesellschaften ebenfalls Ausdruck wissenschaftlichen und politischen Denkens. Insbesondere die Verbindungen der deutschen Rassenhygiene mit der amerikanischen Eugenik sind mittlerweile evident. So konnte der deutschen Eugenik/Rassenhygiene vor allem auch mit kräftiger finanzieller Unterstützung privater Stiftungen aus den Vereinigten Staaten der Aufstieg zur anerkannten wissenschaftlichen Disziplin gelingen. [427]

Die Protagonisten der deutschen Rassenhygiene waren zwar zum großen Teil völkisch rassistisch eingestellt, aber nicht ausschließlich. Nationalsozialistisch organisiert waren vor der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Nazis 1933 die wenigsten. Auch danach taten sich manche schwer mit den neuen Machthabern, auch wenn sie den Eindruck gewannen, dass sie mit den Nationalsozialisten ihre rassenhygienische Utopie am ehesten verwirklichen konnten und ihre Unterstützung des Nationalsozialismus ihrer eigenen beruflichen Kariere nur zuträglich sein konnte.

Der der Rassenhygiene zugrunde liegende Wahn vom „gesunden Volkskörper” befiel die deutschen Medizinalbeamten noch vor 1933. Kritik oder Ablehnung der neuen NS-Gesundheitspolitik war deshalb aus diesen Kreisen nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Umsetzung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, soweit sie zu den Dienstaufgaben der neu geschaffenen staatlichen Gesundheitsämter gehörte, wurde ziemlich effektiv verwirklicht. Das Berufsethos der damaligen Amtsärzte bewirkte wohl bei den meisten, dass sie ihren Dienstaufgaben auch im Rahmen der „Erb- und Rassenpflege“ gewissenhaft gerecht wurden. Die Ausübung der „Erb- und Rassenpflege“ durch das Gesundheitsamt, mit dem Amtsarzt als „Erbheger“ im Mittelpunkt, ließ die im Laufe des Jahres 1935 auf der unteren Verwaltungsebene neu geschaffene Gesundheitsbehörde zu einem Selektionsapparat werden, der die Politik der Ungleichwertigkeit in einem „Apartheidsstaat nach Innen” (Johannes Vossen) mit deutscher Gründlichkeit vollzog. Dazu mussten die Amtsärzte nicht notwendigerweise überzeugte Nationalsozialisten sein, wie Vossen in seiner Studie über die westfälischen Gesundheitsämter eindrücklich belegen kann, wobei überzeugte Nationalsozialisten unter ihnen in ihrer „erbpflegerischen” Effektivität die politisch eher neutralen Kollegen deutlich übertrafen. Die Loyalität der damaligen Amtsärzte ging sogar so weit, dass das Staatl. Gesundheitsamt auch noch im Vorfeld der Massenmorde an behinderten Kindern als zuarbeitende Verwaltungsbehörde funktionierte.

Erst mit Beginn des 2. Weltkriegs erlitt der öffentliche Gesundheitsdienst parallel zum Machtverlust des RMdI und seines „Reichsärzteführers“ Conti und dem Aufstieg von Hitlers „Begleitarzt“ Karl Brandt zum „Reichskommissar für das Gesundheits- und Sanitätswesen“ einen rapiden Bedeutungsverlust.

Obwohl die Dienstaufgaben der „Erb- und Rassenpflege“ im August 1939, zumindest im Bereich des Vollzuges des GzVeN, ausgesetzt waren, wurden sie keineswegs eingestellt, sondern, wenn auch in deutlich beschränktem Maße, weitergeführt.

Die Gesundheitsämter blieben dagegen während des ganzen Krieges als Erfassungs- und Vollzugsapparat im Rahmen der Massenmorde an den behinderten Kindern und Jugendlichen eingebunden und wirkten außerdem mit bei der Anregung und Durchführung von „Verlegungen“ in der Phase der nach dem Stopp der geheimen „Aktion T4“ in den Regionen ab Mitte 1942 wieder aufgenommenen „wilden“ (weil nicht zentral gesteuerten) Euthanasiemaßnahmen.

Die Behauptung des damaligen Bundesvorsitzenden der Medizinalbeamten Deutschlands Fritz Pürckhauer von 1954, das Gesundheitsamt sei „wenig nur in die Politik des 3. Reiches und gar nicht in den verbrecherischen Teil derselben hineingezogen” worden, kann somit als platte Lüge entlarvt werden. Leider wurde diese Sichtweise noch Jahrzehnte danach von Pürckhauers Berufskollegen unkritisch wiedergekäut. [428]

Nachdem alle damals verantwortlichen Amtsärzte mittlerweile verstorben sind, kann es für die gegenwärtige Generation der Amtsärzt/Innen nicht Sinn und Zweck sein, über Schuld bzw. Unschuld ihrer Vorgänger vorschnell zu richten.

Wenig zielführend ist es jedoch auch, jenen „kostenlosen Bekennermut” an den Tag zu legen, der sich, so Norbert Frei, „[...] der historischen Reflexion gerne in den Weg stellt: „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte.” In der Tat, das können wir nicht wissen, doch heißt das ja nicht, daß wir nicht wüßten, wie wir uns hätten verhalten sollen.” [429]

Die Art und Weise, wie in den Jahrzehnten nach Kriegsende mit dem Engagement des ÖGD im Rahmen der NS-Verbrechen umgegangen wurde, darf dagegen m. E. sehr wohl massiv kritisiert werden. Auch wenn wohl aus Sicht der Psychologen dem menschlichen Wesen die „Unfähigkeit zu trauern” (Mitscherlich) in die Wiege gelegt zu sein scheint.

Diese Arbeit soll schließen mit einem Zitat von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke aus ihrer Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses vom März 1947, „Das Diktat der Menschenverachtung”: „[...] Und auch heute noch, nach dem Ende einer brutal ausmerzenden staatsbefohlenen Eugenik, muß der Arzt weiter um jene Freiheit seines Standes kämpfen, an welche immer die Erfüllung seiner elementaren Pflichten gebunden bleibt. Denn es scheint für die Zukunft gleichgültig zu werden, ob das Diktat der Menschenverachtung von bürokratischer Indifferenz oder ideologischer Aggressivität seinen Ausgang nimmt. [...]” [430]

Letzteres können wir in der Bundesrepublik Deutschland derzeit ausschließen.

Ersteres sollte uns, vor allem in der ärztlichen Begutachtung und hier insbesondere im Bereich der Unterbringungsgesetzgebung der Länder und im Vollzug des Ausländergesetzes und des Asylrechts, namentlich bei Gutachtensaufträgen der Sicherheitsbehörden zu Fragen der gesundheitlichen Reisefähigkeit vor Zwangsabschiebung, wachsam bleiben lassen. Gutachtensaufträge, in denen der Auftraggeber ausdrücklich fordert, der ärztliche Gutachter möge sich ausschließlich zur „Frage der körperlichen Reisefähigkeit” äußern, zeugen von der „bürokratischen Indifferenz”, vor der Mitscherlich und Mielke schon 1947 warnten. [431]