Psychiatr Prax 2005; 32(8): 420
DOI: 10.1055/s-2005-923491
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Publication Date:
12 December 2005 (online)

 

Tabea Apfel: Werden psychisch Kranke zu schnell in Rente abgeschoben? Psychiat Prax 2005; 32: 172-176

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich beziehe mich auf den sehr interessanten Artikel von Frau Dr. Apfel über die unzureichende psychiatrische Diagnostik und Therapie im (Schweizer) Rentenverfahren.

Darf ich mir gestatten als langjähriger Gutachter im deutschen Rentenverfahren einen weiteren Aspekt hinzuzuführen: Die rapiden Veränderungen am Arbeitsmarkt (Stichwort Langzeitarbeitslosigkeit/Hartz IV) und der "Jugendwahn" in den Betrieben (Entlassung der über 50-Jährigen) führen zu einem neuen gesellschaftlichen Problem. Die Generation Ü-50 wird vom gesellschaftlichen Umfeld geradezu in die Frührente hineingedrängt und sieht gar keine andere Perspektive um die drohende soziale Not abzuwenden. In Deutschland wird oft erst dann psychiatrische Hilfe gesucht, nicht mit dem Ziel "gesund zu werden", sondern mit dem Ziel einen "Komplizen" in den anstehenden sozialgerichtlichen Auseinandersetzungen zu finden.

In der Regel wird in Deutschland zunächst ein Scheingefecht um die 50% GdB vor dem Versorgungsamt ausgefochten. Mit 50% Grad der Behinderung ist ja eine Frühberentung möglich. Nach ein paar Monaten erfolgloser psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung wird dann auf ein Attest zugesteuert, in welchem der Therapeut niederlegen soll, dass all die therapeutischen Maßnahmen (leider) nichts gebracht haben.

Völlig absurd wird diese Double-bind-Situation dann, wenn gleichzeitig gegenüber der Krankenkasse eine große Psychotherapie begründet werden muss und im Gutachten, welches der Krankenkasse vorgelegt wird, eine gute Prognose abgegeben wird während im Gutachten, welches der Rentenversicherung vorgelegt wird, eine schlechte Prognose abgegeben wird.

Warum geben sich die psychiatrischen und psychotherapeutischen Kollegen dazu her? Das muss auch einmal thematisiert werden!

Die Kollegen sind eingebunden in dieses korrumpierende System: Wenn sie nämlich nicht den Wünschen des Patienten entgegenkommen, so geht der Patient zum nächsten Psychiater oder Psychologen. Es gibt sie inzwischen (zumindest in Deutschland) durch die Strategie der grün-roten Regierung "wie Sand am Meer". Ich habe das immer wieder erlebt, dass ich mit meinen therapeutischen (idealistischen) Impulsen gar nicht gewünscht war, sondern nur als Schreiber entsprechender Atteste von Interesse war. Sobald das Rentenverfahren abgeschlossen ist, wird auch die psychiatrische Behandlung abgebrochen.

Diese meine Hypothese sollte auch einmal statistisch überprüft werden. Möglicherweise spielt nicht nur die "finanzielle Korruption" aller Beteiligten eine Rolle, sondern auch die genannten "idealistischen Aspekte". Welcher Therapeut hat es schon gerne, wenn seine Therapie erfolglos bleibt? Welche Konsequenzen muss er daraus ziehen: Entweder ist er als Therapeut schlecht oder der Patient ist eben so krank, dass er unheilbar ist. Da vertritt der Therapeut doch lieber die zweite These. Die Wahrheit ist oft, dass der Arzt oder Psychologe als "heilbringender Therapeut" gar nicht gewünscht ist, weil er das Unheil in der Gesellschaft nicht ändern kann und gleichzeitig mit seiner Therapie dem Patienten Armut bringt.