Z Geburtshilfe Neonatol 2005; 209(5): 192-198
DOI: 10.1055/s-2005-916172
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anonyme Geburt und Kindestötung in Tirol

Anonymous Birth and Neonaticide in TyrolC. Danner1 , M. Pacher2 , E. Ambach3 , C. Brezinka1
  • 1Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Medizinische Universität Innsbruck
  • 2Universitätsklinik für klinische Psychologie, Medizinische Universität Innsbruck
  • 3Institut für Gerichtliche Medizin, Medizinische Universität Innsbruck
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Publication History

Eingereicht: 22.9.2005

Angenommen nach Überarbeitung: 6.10.2005

Publication Date:
30 November 2005 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Im Jahr 2001 wurde die Möglichkeit der anonymen Geburt in Österreich durch einen Erlass des Justizministeriums geschaffen. Man erhoffte sich von dieser Maßnahme einen Rückgang der Fälle von Kindesweglegung und Kindestötung. Methode: Von 1996 bis 2004 kam es im österreichischen Bundesland Tirol (687.000 Einwohner, ca 7000 Geburten pro Jahr) zu vier dokumentierten Fällen von Kindestötung nach der Geburt. Ein Kind wurde nach der Geburt von der Mutter ausgesetzt. Seit der Legalisierung nutzten in Tirol zwei Frauen das Angebot der anonymen Geburt. Beide Frauen entbanden an der Innsbrucker Universitätsfrauenklinik in Terminnähe nach unauffälligen Schwangerschaften, wobei keine der beiden an Schwangerenkontrollen teilgenommen hatte. Umfangreiche Beratung durch Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen, Hebammen und ÄrztInnen wurde organisiert, die Frauen über die Möglichkeit der offenen Adoption informiert. Beide beharrten auf ihre Entscheidung zur Anonymität. Gegen eine der Frauen wurden Wochen später kriminalpolizeiliche Erhebungen wegen Verdachtes auf Kindesmord eingeleitet, nachdem aus ihrem privaten Umfeld anonyme Briefe mit Denunziationen verschickt worden waren. Erst die Bestätigung der Klinikärzte, dass die Frau tatsächlich anonym entbunden hatte, führte zur Einstellung der polizeilichen Untersuchungen. Ergebnisse: In ganz Österreich kam es seit Legalisierung der „anonymen Geburt”, genauso wie davor, zu sporadischen aber stets sehr tragischen Fällen von Kindestötung. Der Vergleich der Tiroler Fälle von Kindestötung und anonymer Geburt legt die Vermutung nahe, dass Frauen, die anonym gebären, keine durch dieses Angebot vom sonst unvermeidlichen Kindesmord abgehaltenene potenziellen Täterinnen sind, sondern sich dem Zugriff von der als belastend empfundenen familiären und amtlichen Fürsorge entziehen wollen. Ob das Phänomen der Kindestötung durch die Option „anonym” wirksam eingedämmt werden kann, bleibt zweifelhaft.

Abstract

Background: In 2001 the Austrian government provided the legal means that formally enabled „anonymous birth”: a woman can now give birth in any hospital in Austria without giving her name or insurance number, the baby is taken into care by social services and placed with adoptive parents. The cost of the hospital stay is covered from public funds. These measures were put into effect after some highly publicised cases of infant abandonment and neonaticide in Austria. Methods: In the mostly rural and small-town province of Tyrol province in western Austria (687,000 inhabitants, 7000 births per year) four cases of neonaticide were discovered in the years from 1996 to 2004. One child was abandoned inside a hospital. Since 2001 two women have made use of the „anonymous birth” option. Neither had had any pregnancy controls, both showed up at or near term with contractions. They delivered healthy infants that were then taken into care by local adoption services. Both women were extensively counselled by psychologists, social workers, medical and midwifery staff and both insisted on their original decision to remain anonymous. A few weeks later one of the women found herself at the centre of a criminal investigation for infanticide after anonymous letters were sent to family members insinuating she had done away with the child. Police stopped that investigation when hospital staff confirmed that the woman had had an „anonymous” delivery. Results: Despite the option of legal „anonymous” birth free of charge in modern hospitals there are still cases of infant abandonment and neonaticide in Austria. It is proposed that the women who opt for anonymous birth may not be the women who would otherwise kill their babies. Instead, it appears that the women opted for anonymity to escape the probably well-intentioned but overbearing attention of their families and of social services. It is doubtful that the option of anonymous birth will lead to a complete disappearance of infanticide and infant abandonment in Austria.

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Christoph Brezinka, MD PhD

Dpt Obstetrics and Prenatal Medicine

Erasmus Medical Center

PO Box 2040

NL 3000 CA Rotterdam

The Netherlands

Email: c.brezinka@erasmusmc.nl

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