Psychiatr Prax 2005; 32(6): 315-316
DOI: 10.1055/s-2005-915507
Fortbildung und Diskussion
Leserbrief
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Psychiatric Disorders in Public Opinion
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Publication Date:
23 August 2005 (online)

 

Zum Beitrag von Nicolas Rüsch, Matthias C. Angermeyer, Patrick W. Corrigan: Das Stigma psychischer Erkrankung: Konzepte, Formen und Folgen. Psychiat Prax 2005; 32: 221-232

Der Beitrag von Rüsch, Angermeyer und Corrigan wurde als Übersicht in die Psychiatrische Praxis aufgenommen. Leider erfährt die Leserin weder im Titel noch im Untertitel, dass die Autoren lediglich zwei Konzepte vorstellen, genauer gesagt die Literatur, die sich in der Konzeptualisierung der Diskriminierung und Stigmatisierung von psychisch Kranken auf Link und Corrigan bezieht. Sie schlagen damit eine Schneise in die schwer durchschaubaren Geschehnisse um den sozialen und individuellen Umgang mit psychischer Krankheit und psychisch Kranken. Dass die Gesellschaft mit ihnen anders umgeht als mit körperlichen Krankheiten ist banal. Wie aber die Gesellschaft mit ihnen umgeht, und warum, ist ein psychiatrisches Dauerthema. Wissenschaftliche Untersuchungen haben sich dem Problem mithilfe unterschiedlicher Konzepte versucht zu nähern. Letzte Klarheit gibt es nicht. Dies ist eine Situation, in der eine Übersicht zumindest Klarheit über den Stand des Wissens bringen sollte. Leider kommen Rüsch, Angermeyer und Corrigan diesem Anspruch nicht nach.

Das Konzept, das sie vorstellen, ist bestechend übersichtlich: Sie stellen die Begriffe Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung in eine aufsteigende Reihe beteiligter Kognitionen und Verhaltensweisen. Stereotype betreffen danach lediglich kognitive Konzepte. Vorurteile schließen affektive Reaktionen zusätzlich mit ein, und Diskriminierung bezeichnet überdies Verhaltensweisen, die aus den entsprechenden kognitiven Konzepten mit den affektiven Reaktionen resultieren.

Zuerst einmal heißt das, die Autoren legen sich auf eine Definition der genannten Begriffe fest, über die in der Literatur keine Einigkeit besteht. Zum zweiten denken Menschen nicht ohne irgendeine affektive Beteiligung, ihre kognitiven Konzepte sind immer in irgendeiner Form verknüpft mit ihrem Verhalten, und selbst in einem Laborexperiment dürfte es schwierig sein Denkkonzepte ohne die sie begleitende affektive Beteiligung zu untersuchen. Geht man von den Resultaten eine Studie aus und interpretiert beispielsweise das Ergebnis von Bevölkerungsbefragungen auf ihren Aussagewert, mag es sinnvoll sein, zwischen Vorstellungen und Meinungsäußerungen, persönlicher Involviertheit und Alltagshandeln zu unterscheiden. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit dem dargestellten Stigmakonzept die Prozesse abgebildet werden können, durch die psychisch Kranke in der Gesellschaft ausgegrenzt und stigmatisiert werden.

Über die Frage, ob das Wissen über psychische Krankheiten eher zugenommen hat oder unverändert geblieben ist, machen die vorliegenden Studien widersprüchliche Aussagen. Wir wissen längst, dass Informationen allein nicht ausreichen. So wünschenswert mehr Wissen über psychische Krankheit im Alltag ist, so wenig ist die Informationsübermittlung der geeignete Ansatz, Stigmatisierung zu vermindern [1]. Studien, die darauf hindeuten, dass durch persönlichen Kontakt die Stigmatisierung psychisch Kranker verringert werden kann, stehen einer Reihe von Studien gegenüber, die zeigen, dass die Stigmatisierung psychisch Kranker bei Psychiatern besonders ausgeprägt ist. Darauf verweisen die Autoren sogar selbst. Weitere Studien zeigen, dass psychisch Kranke selbst andere stigmatisieren [2] oder dass in der Familienpflege besonders ausgeprägte Formen von Stigmatisierung entwickelt wurden [3]. Schließlich wissen wir auch, dass Antistigmakampagnen nicht per se schon von Erfolg gekrönt sind. Sie können auch zu vermehrter Stigmatisierung führen [4].

Das Anliegen, ergänzend zum Stand des Wissens ein Konzept zu beschreiben, auf dessen Grundlage weitere Etappen der Forschung aufgebaut werden könnten, teile ich mit den Autoren. Bevor ein befriedigendes Großkonzept skizziert werden kann, wie die Stigmatisierung eines ist, müssten m.E. jedoch die vielen Begriffe und Konzepte überprüft werden, aus denen die vorhandenen Stigmakonzepte zusammengesetzt werden:

Der Begriff des Laienwissens konnotiert, dass dieses Wissen falsche oder unzureichende Informationen umschreibt. Eine der vielen offenen Fragen in der Stigmadiskussion ist jedoch, ob das erfragte Laienwissen sich nicht wesentlich auf veraltete Krankheitskonzepte der Psychiatrie bezieht. Das hieße, dass Laien sich nicht einfach nicht informieren, sondern auf andere als die von psychiatrischer Seite erwünschte Weise, beispielsweise dort, wo ein Konzept sie anspricht; beispielsweise nur dann, wenn sie einen Anlass zur Informationssuche haben. Und bis sich ein von Fachleuten favorisiertes Krankheitskonzept durchsetzt, haben die Fachleute möglicherweise das ihre schon wieder revidiert. Subjektive Krankheitstheorien nehmen demgegenüber auf die Bedeutung subjektiven Erlebens und Verarbeitens Bezug. Sie werden in der Psychiatrie in den letzten Jahren häufiger erfragt, denn sie spielen für die Behandlung und die Prognose eine wichtige Rolle. Trotzdem sind sie bisher so etwas wie ein lästiges Übel geblieben. Mit der Spezialisierung und Technisierung der Medizin ist die Verständigung zwischen Ärztin und Patient nicht einfacher geworden. Gesine Grande hat für die Kardiologie gezeigt, dass Krankheit und Gesundheit in der Beurteilung von beiden weit auseinandergedriftet sind. Es kann sein, dass der Patient sich schwer krank fühlt, während die Ärztin ihn jedoch nur als besorgt, aber gesund beurteilt, während die Ärztin einen anderen Patienten, der lediglich eine Vorsorgeuntersuchung machen lassen will, als akut lebensgefährdet erachtet. Grande stellte fest, dass die Gesundheitsvorstellungen von beiden Seiten unterschiedliche "Gültigkeitsbereiche" abdecken 5. Verständigung setzte in dieser Situation voraus, sich für diese anderen Gültigkeitsbereiche zu interessieren. Die Begriffe "Laie" und "Öffentlichkeit" beziehen sich auf sehr schlichte Konzepte. Beide Begriffe sind in der Stigmadiskussion eine black-box geblieben. Jahrzehnte nach den Arbeiten von Sack u. Stumme 6 wird die Beziehung zwischen Psychiatrie und Öffentlichkeit zu schnell auf mangelndes Wissen, Ignoranz oder Irrationalität reduziert. Die Analyse Cornelia Brinks hat durchaus nicht nur historische Bedeutung 7. Ihre Habilitation wird das Verhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit zwischen 1850 und 1980 historisch aufarbeiten. Es ist an der Zeit, dass wir die Krankheitskonzepte unter die Lupe nehmen, die wir selbst haben. Sie resultieren keineswegs allein aus dem Stand der Grundlagenforschung, sondern speisen sich daneben aus psychiatrischer Tradition, aus unserer klinischen Erfahrung, aber auch unseren impliziten Alltagsvorstellungen - unseren sozialen Repräsentationen, die wir mit Angehörigen und Patienten, den so genannten Laien als Mitglieder derselben Gesellschaft teilen.

Medizin im Allgemeinen wie Psychiatrie im Besonderen existiert nicht losgelöst von der Kultur und der Gesellschaft, in der wir leben [8]. Auch und gerade, wenn noch immer weitere Bereiche unseres Lebens der Medikalisierung anheim fallen, müssen wir klären, welchen Gültigkeitsbereich unsere Krankheitskonzepte haben. Wie vielfältig psychiatrische Krankheitskonzepte mit unserem alltäglichen Leben, unserer Kultur und Gesellschaft verflochten sind zeigt sich an den juristischen und gesundheitspolitischen Veränderungen, die psychische Kranke in den letzten zehn Jahren unmittelbar betroffen haben, sei es die Verschärfung von Dauerunterbringungen psychisch kranker Straftäter, die wachsende Skepsis gegenüber deren Therapierbarkeit, die Zunahmen der forensischen Betten oder die vermehrten Verhaftungen psychisch Kranker.

Unser Wissensstand reicht aus, um zu sagen, dass die von den Autoren vorgeschlagene Konzeptualisierung die Prozesse nicht befriedigend abbilden kann, die zu Diskriminierung und Stigmatisierung psychischer Krankheiten und psychisch Kranker führen. Eine Übersicht zu erhalten, aus der hervorginge, was wir wissen, welche Forschungsergebnisse auf der Grundlage welcher der verfügbaren Konzepte welche Aussagen machen, und wo offene Fragen sind, die weiterer Erforschung bedürfen ist in der Tat eine schwierige Aufgabe. Ihre Bewältigung steht noch aus.

Literatur

  • 1 Hoffmann-Richter U . Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile.  Bonn: Psychiatrie Verlag. 2000; 
  • 2 Beuttenmüller U . Das Bild des Geisteskranken aus der Sicht von 150 Patienten einer psychiatrisch-neurologischen Poliklinik. Med. Diss. Tübingen 1972; Balke A, Hinz H. Urteile und Meinungen von psychisch Kranken über Psychiatrie und psychische Krankheit.   Tübingen: Werkstattschriften zur Sozialpsychiatrie. 1974;  Bd. 10
  • 3 Jodelet D . Soziale Repräsentationen psychischer Krankheit in einem ländlichen Milieu in Frankreich. Entstehung, Struktur, Funktion.  In: Angermeyer MC, Zaumseil M: Verrückte Entwürfe. Bonn: Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie Verlag. 1997;  262-298
  • 4 Cumming E . Cumming J . Closed Ranks. An Experiment in Mental Health.  Cambridge, MA: Harvard University Press. 1957; 
  • 5 Grande G . Gesundheitsmessungen. Unterschiedliche Gültigkeitsbereiche von Arzt- und Patientenangaben.  Heidelberg: Asanger. 1998; 
  • 6 Sack F . Die verhinderte Öffentlichkeit und ihre Funktion. In: Lauter H, Meyer JE: Der psychisch Kranke und die Gesellschaft. Stuttgart: 1971: 55-62; Stumme W. Psychische Erkrankungen im Urteil der Bevölkerung.   München: Urban Schwarzenberg. 1975; 
  • 7 Brink C . "Keine Angst vor Psychiatern." Psychiatrie, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland (1960-1980). In: Fangerau H, Nolte K: "Moderne" Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert - Legitimation und Kritik.  Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Sonderheft MedGG), im Druck. 2005; 
  • 8 Unschuld PU . Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst.   München: C. H. Beck . 2003; 

Dr. med. Ulrike Hoffmann-Richter

Fachärztin für Psychiatrie und

Psychotherapie

Leiterin Versicherungspsychiatrischer Dienst

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