psychoneuro 2005; 31(2): 103-105
DOI: 10.1055/s-2005-865118
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Mixed Pain” als neue Rationale: Pie in the Sky or Pie on the Plate?

„Mixed pain” as new rationale: Pie in the sky or Pie on the plate?Rainer Freynhagen1
  • 1Klinik für Anaesthesiologie, Ambulanz für Schmerztherapie, Universitätsklinikum Düsseldorf (Direktor: Prof. Dr. J. Tarnow)
Weitere Informationen
#

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Rainer FreynhagenDEAA

Klinik für Anaesthesiologie

Universitätsklinikum Düsseldorf

Moorenstr. 5

40225 Düsseldorf

eMail: Freynhagen@med.uni-duesseldorf.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. März 2005 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Der Differenzierung zwischen neuropathischen und nozizeptiven Schmerzen liegt auch heute noch ein weitgehend mechanistisches Verständnis der Schmerzentstehung zu Grunde. Nozizeptorschmerzen entstehen nach Schädigung von Knochen und Bindegeweben, muskuloskelettalen oder viszeralen Strukturen und führen zur „physiologischen” Aktivierung des schmerzleitenden Systems. Hierbei sind die peripheren und zentralen neuronalen Strukturen von Nozizeption und Schmerz intakt. Entstehen Schmerzen als direkte Konsequenz von Erkrankungen oder Schädigungen des somatosensorischen Systems, spricht man von neuropathischen Schmerzen. Neue Forschungsergebnisse geben Anlass, diese strenge Trennung in Frage zu stellen. Zur Beschreibung einer Mischung aus nozizeptiven und neuropathischen Schmerzkomponenten rückt zunehmend das sogenannte „Mixed-Pain-Konzept” in den Fokus des klinischen Interesses.

#

Summary

To date the differentiation between nociceptive and neuropathic pain still relys on a mechanistic approach of pain origin. Nociceptive pain appears after impairment of bones, connective tissue, musculoskeletal or visceral structures and leads to an appropriate physiologic response of the nociceptive system. Here the peripheral and central structures of nociception and pain are intact. In contrast, neuropathic pain is initiated by a primary lesion or dysfunction in the peripheral or central nervous system. Latest research results give reason to challenge this strict separation. To characterise a mixture of nociceptive and neuropathic pain-generating mechanisms the term „mixed-pain” was established.

Bei Nozizeptor-vermittelten Schmerzen sind peripheres und zentrales nozizeptives Neuron intakt. Die Schmerzwahrnehmung, in der Regel von dumpfem oder stechendem Charakter, nimmt ihren Ausgang von Schmerzrezeptoren in Haut, Muskulatur, Sehnen, Gelenken oder viszeralen Organen. Bei chronischer Reizung der nozizeptiven Strukturen kommt es zu funktionell-plastischen Veränderungen der Nerven, die zunächst reversibel sind. Bei Schädigung peripherer und/oder zentraler Strukturen des nozizeptiven Systems kommt es dagegen zu neuropathischen Schmerzen mit weitreichenden strukturellen und anatomischen Veränderungen, die z.T. irreversibel sind und langfristig persistieren können [4] [6]. Brennende Dauerschmerzen, einschießende Schmerzattacken oder evozierte Schmerzen, wie Hyperalgesie oder Allodynie, als Einzelphänomene oder vielfach in Kombination, sind charakteristische Befunde. Prinzipiell können alle beschriebenen Symptome bei allen neuropathischen Schmerzsyndromen vorkommen, allerdings zeigen nozizeptive und neuropathische Schmerzen häufige Überschneidungen. So finden sich nach einer chemischen Aktivierung intakter Nozizeptoren, ähnlich wie auch bei Entzündungsvorgängen (die ja eine wichtige Rolle bei Nozizeptorschmerzen spielen), typische Symptome neuropathischer Schmerzen. Umgekehrt ist bekannt, dass sich auch nach Nervenläsionen Entzündungsvorgänge abspielen, die wesentlich an der Entstehung und Aufrechterhaltung neuropathischer Schmerzen beteiligt sind. Solche Überschneidungen legen nahe, dass die Unterscheidung zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen zwar didaktisch sinnvoll erscheint, aber zahlreichen Schmerzkrankheitsbildern, bei denen bereits häufig schon in der Frühphase gemischte Schmerzphänomene auftreten, nicht gerecht wird.

#

Typische Krankheitsbilder

Bei Tumorschmerzpatienten z.B. werden regelmäßig hohe Anteile an sich überlappenden Schmerzqualitäten beschrieben [2] [7]. Die Kompression neuronaler Strukturen oder ein infiltratives Tumorwachstum, stellen neben iatrogenen Traumatisierungen durch operative, strahlen- oder chemotherapeutische Interventionen nur einige mögliche Gründe dafür dar. Ein ebenfalls häufiges Krankheitsbild mit sich vielfach überlappender Symptomatik ist die chronische Lumboischialgie, bei der verschiedene Schmerzkomponenten mit unterschiedlichen pathophysiologischen Entstehungsmechanismen nebeneinander vorkommen [1]. So können neu in die Bandscheibe eingesprossene Nozizeptoren durch degenerative Veränderungen lokal geschädigt werden. Die Nervenwurzel selbst kann einerseits direkt durch eine mechanische Bedrängung (z.B. Bandscheibenvorfall, Osteophyten), andererseits indirekt durch entzündliche Mediatoren aus der degenerierten Bandscheibe (z.B. Phospholipasen, Prostaglandine, Zytokine) chemisch geschädigt werden. Das Ausmaß der einzelnen Komponenten ist individuell sehr verschieden und es existieren fließende Übergänge. Solche und andere Faktoren könnten unter anderem der Grund sein, warum beispielsweise Opioide bei einem Teil der Patienten nicht nur bei nozizeptiven, sondern auch bei neuropathischen Schmerzen wirksam sind.

Rückenschmerzen in Kombination mit neurologischen Symptomen führen pro Jahr in Deutschland zu ca. fünfzigtausend Bandscheibenoperationen. Im akuten und subakuten Verlauf kann eine Operation bei abgesicherter Indikation eine Abkürzung des Leidensweges bedeuten, aber trotz zunehmender Minimalinvasivität entwickeln nach einem häufig zunächst schmerzfreien Intervall von Wochen oder auch Monaten ca. 10 % der operierten Patienten ein Postnukleotomiesyndrom (Synonym: failed back surgery syndrome) [5].

Eine aktuelle Befragung von 500 Rückenschmerzpatienten in orthopädischen und schmerztherapeutischen Praxen ergab, dass 38 % der Bandscheiben-Operierten über neuropathische Schmerzanteile klagen. Sie berichten meist über eine komplexe Beschwerdesymptomatik mit dumpfen Schmerzen im Bereich des Operationsgebiets („nozizeptiv”) und zugleich brennenden oder elektrisierenden Schmerzen mit (pseudo-) radikulärer Ausstrahlung in die Extremitäten („neuropathisch”).

Die zugrunde liegende Pathophysiologie des Postnukleotomiesyndroms ist vielgestaltig. Nicht selten finden sich die Ursachen bereits präoperativ. Eine unpräzise oder falsche Op-Indikation, schlechte Korrelation von Bildgebung und klinischen Symptomen oder auch nicht beachtete psychische Komorbiditäten können wesentliche Gründe sein. Patienten, bei denen es um Berentung geht, um die Anerkennung von Unfallursachen, Berufskrankheiten oder um Haftpflichtprozesse, erschweren die Indikationsstellung zusätzlich. Postoperative epidurale Narbenbildungen (z.B. durch nervös-autonome Reaktionen, Defekte im fibrinolytischen System oder Nachblutungen) werden als hauptverantwortlich für das Postnukleotomiesyndrom angeschuldigt, wobei allerdings unterschiedliche Bewertungen eines möglichen Zusammenhangs vorliegen [Abb. 2]. Vermutlich sind in einigen Fällen auch direkte Läsionen der Nervenwurzel für die Beschwerden verantwortlich zu machen.

Weitere Krankheitsbilder, die typischerweise bereits früh gemischte Schmerzphänomene aufweisen, sind z.B. das komplexe regionale Schmerzsyndrom (heute CRPS, früher Morbus Sudeck oder sympathische Reflexdystrophie), entzündliche Rückenerkrankungen, Spinalkanalstenosen oder Metastasen der Wirbelsäule.

#

Mixed Pain goes mixed therapy

Obwohl Schmerzen als Sinneserleben unabhängig vom zugrundeliegenden Mechanismus erst durch zentrale neuronale Aktivität entstehen und als solche auch erst im Gehirn affektiv bewertet werden, scheinen aus klinischer Sicht differenzierte therapeutische Strategien auf unterschiedlichen Ebenen notwendig, um „Mixed-Pain-Syndrome” erfolgreich zu therapieren.

Eine differenzierte Pharmakotherapie (3) gehört heute unbestritten eingebettet in ein multimodales Therapiekonzept mit schmerzadaptierter Physio- und Psychotherapie. Bereits initial sollten gleichberechtigt alle Schmerzkomponenten berücksichtigt werden, um frühzeitig Chronifizierungsprozesse zu minimieren.

Die gegenwärtige Versorgungspraxis vieler Patienten besteht jedoch vorwiegend aus einer Monotherapie mit nichtsteroidalen Antiphlogistika, welche hauptsächlich nozizeptive Schmerzen positiv beeinflussen. Im günstigsten Fall finden sich diese kombiniert mit langwirksamen Opioiden. Um „Mixed-Pain-Syndrome” effektiv zu therapieren ist es aber unverzichtbar, über eine frühzeitige Kombinationsbehandlung mit nachweislich bei neuropathischen Schmerzen wirksamen Pharmaka nachzudenken. Als „medikamentöse Basistherapie” finden hier neben langwirksamen Opioiden vor allem Antidepressiva und Antikonvulsiva Verwendung [Abb. 1]. Diese Substanzen wirken zum Teil auf Kanalproteine und Rezeptoren, die nur nach einer Nervenverletzung exprimiert werden, was ihre spezifische Wirkung bei neuropathischen Schmerzen teilweise erklärt. Ein Therapiealgorithmus muss individuell für jeden einzelnen Patienten konzipiert werden.

So sind trizyklische Antidepressiva schlicht weniger geeignet für Patienten mit kardialen Überleitungsstörungen oder Glaukom, hier wäre beispielsweise einem modernen Antikonvulsivum wie Gabapentin oder Pregabalin der Vorzug zu geben. Eine „optimale Pharmakotherapie” sollte sich neben den zugrunde liegenden Mechanismen vor allem aber auch an den vielfach begleitenden Komorbiditäten wie Depression, Schlaf- und Angststörungen, orientieren. Hier gilt es unter Berücksichtigung der Symptomatologie die richtige Auswahl der Substanzen zu treffen, wobei insbesondere moderne Pharmaka aufgrund ihres oft besseren Nebenwirkungsprofils dazu beitragen können, die Compliance der Patienten zu sichern. Dieses indessen macht Patienten mit „Mixed-Pain-Syndromen” nicht nur zu einer medizinischen, sondern regelhaft auch zu einer ökonomischen Herausforderung für den Behandler.

#

Fazit

Eine differenzierte Bezeichnung und Charakterisierung chronischer Schmerzsyndrome ist nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse von entscheidender Bedeutung, sondern hat auch direkte Therapierelevanz [4].

Das „Mixed-Pain-Konzept” bildet hypothetisch einen Teil der Schmerzpatienten ab, die ursächlich weder als rein nozizeptiv noch als rein neuropathisch klassifiziert werden können. Es ist aber kein Postulat neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder gar der Stein der Weisen. Es muss viel mehr verstanden werden als ein einfaches didaktisches Instrument, welches komplexe pathophysiologische Zusammenhänge, die bis dato durchweg getrennt betrachtet wurden, konsequent zusammen führt.

Das „Mixed-Pain-Konzept” ist ohne Zweifel nur eine von vielen möglichen Betrachtungsweisen. Würde es aber in zukünftigen Überlegungen bezüglich Diagnostik und Therapie schwieriger Schmerzpatienten einen größeren Raum einnehmen, könnte dies unter Umständen zu einem therapeutischen Fortschritt gereichen. Derzeit werden kontrollierte Studien durchgeführt, die zum einen für einzelne Substanzen die Wirksamkeit in der Behandlung von „Mixed-Pain-Syndromen” dokumentieren und zum anderen versuchen, die zugrunde liegende Hypothese sich überlappender Schmerzqualitäten bei unterschiedlichen Erkrankungen, unter anderem durch die Methode der quantitativen sensorischen Testung (QST), zu validieren.

Zoom Image

Abb. 1 Es zeigt sich kontrastmittelanreicherndes Narbengewebe L4/L5 links nach mehrfachen Bandscheiben-Operationen.

Zoom Image

Abb. 2

#

Literatur

  • 1 Baron R, Binder A. Wie neuropathisch ist die Lumboischialgie? Das mixed-pain Konzept.  Der Orthopäde. 2004;  33 568-575
  • 2 Grond S, Radbruch L, Meuser T, Sabatowski R, Loick G, Lehmann KA. Assessment and treatment of neuropathic cancer pain following WHO guidelines.  Pain. 1999;  79 15-20
  • 3 Hansson PT, Dickenson AH. Pharmacological treatment of peripheral neuropathic pain conditions based on shared commonalities despite multiple etiologies.  Pain. 2005;  113 251-254
  • 4 Jensen TS, Baron R. Translation of symptoms and signs into mechanisms in neuropathic pain.  Pain. 2003;  102 1-8
  • 5 Junker U, Baron R, Freynhagen R. Chronische Schmerzen: Das „mixed pain concept” als neue Rationale.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  20 1115-1116
  • 6 Sandkühler J. Learning and memory in pain pathways.  Pain. 2000;  88 113-118
  • 7 Wilkie DJ, Huang HY, Reilly N, Cain KC. Nociceptive and neuropathic pain in patients with lung cancer: a comparison of pain quality descriptors.  J Pain Symptom Manage. 2001;  22 899-910
#

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Rainer FreynhagenDEAA

Klinik für Anaesthesiologie

Universitätsklinikum Düsseldorf

Moorenstr. 5

40225 Düsseldorf

eMail: Freynhagen@med.uni-duesseldorf.de

#

Literatur

  • 1 Baron R, Binder A. Wie neuropathisch ist die Lumboischialgie? Das mixed-pain Konzept.  Der Orthopäde. 2004;  33 568-575
  • 2 Grond S, Radbruch L, Meuser T, Sabatowski R, Loick G, Lehmann KA. Assessment and treatment of neuropathic cancer pain following WHO guidelines.  Pain. 1999;  79 15-20
  • 3 Hansson PT, Dickenson AH. Pharmacological treatment of peripheral neuropathic pain conditions based on shared commonalities despite multiple etiologies.  Pain. 2005;  113 251-254
  • 4 Jensen TS, Baron R. Translation of symptoms and signs into mechanisms in neuropathic pain.  Pain. 2003;  102 1-8
  • 5 Junker U, Baron R, Freynhagen R. Chronische Schmerzen: Das „mixed pain concept” als neue Rationale.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  20 1115-1116
  • 6 Sandkühler J. Learning and memory in pain pathways.  Pain. 2000;  88 113-118
  • 7 Wilkie DJ, Huang HY, Reilly N, Cain KC. Nociceptive and neuropathic pain in patients with lung cancer: a comparison of pain quality descriptors.  J Pain Symptom Manage. 2001;  22 899-910
#

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Rainer FreynhagenDEAA

Klinik für Anaesthesiologie

Universitätsklinikum Düsseldorf

Moorenstr. 5

40225 Düsseldorf

eMail: Freynhagen@med.uni-duesseldorf.de

Zoom Image

Abb. 1 Es zeigt sich kontrastmittelanreicherndes Narbengewebe L4/L5 links nach mehrfachen Bandscheiben-Operationen.

Zoom Image

Abb. 2