psychoneuro 2005; 31(2): 81-83
DOI: 10.1055/s-2005-865114
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schmerzgedächtnis und kortikale Plastizität

Pain memory and cortical reorganizationCaroline Köppe1 , Herta Flor1
  • 1Lehrstuhl für Neuropsychologie an der Universität Heidelberg, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim
Further Information
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Korrespondenzadresse:

Dr. Dipl.-Psych. Caroline Köppe

Lehrstuhl Neuropsychologie

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5

68159 Mannheim

Publication History

Publication Date:
04 March 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Chronische Schmerzen können zu funktionellen Veränderungen in den schmerzverarbeitenden Strukturen des zerebralen Kortex führen. Dies kann die Wahrnehmung und Bewertung von Schmerzen verändern. Solche plastischen Veränderungen zeigen sich zum Beispiel in der Ausweitung oder Verschiebung des Repräsentationsareals des schmerzenden Körperteils oder der somatotop benachbarten Areale im primären somatosensorischen Kortex. Es können auch veränderte Reaktionen auf schmerzhafte Reize in Arealen, die mit Aufmerksamkeitsprozessen in Zusammenhang gebracht werden, auftreten.

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Summary

Chronic pain can result in functional changes within the pain processing structures of the cerebral cortex. This may lead to an altered perception und evaluation of pain. On example of such plastic changes is the enlargement or spatial shift of the representation area of the arching body part or the somatotopically adjacent area in primary somatosensory cortex. Another example is a changed reaction to painful stimuli in areas which are thought to carry out attentional processing.

In den letzten Jahren hat die neurowissenschaftliche Forschung immer mehr Hinweise auf die Plastizität des menschlichen Gehirns erbracht. Diese funktionelle Plastizität kann zum Beispiel trainingsinduziert sein. So findet man bei professionellen Geigenspielern, dass die Anzahl der im primären somatosensorischen Kortex synchron aktivierten Neuronen, die die rechte Hand repräsentieren, die den Bogen führt, kleiner ist als die Repräsentation der linken Hand, die die Saiten greift [3]. Daneben konnte läsionsinduzierte Plastizität nachgewiesen werden. So fand sich bei von Geburt an blinden Personen, dass neben dem primären somatosensorischen Kortex auch der primäre visuelle Kortex auf das Ertasten von Braille-Schrift reagierte [2]. Neben solchen adaptiven Reorganisationsprozessen nach veränderten Umweltbedingungen gibt es auch Zustände, in denen sich die Plastizität des Gehirns als maladaptiv erweist. Durch das Erleben von Schmerzen können zentralnervöse Veränderungen entstehen, die den Schmerz mit aufrecht erhalten können. Das neuronale Korrelat eines solchen somatosensorischen Schmerzgedächtnisses sind Umor-ganisationsprozesse in den schmerzverarbeitenden Arealen des Gehirns. Derartige Prozesse scheinen mit der Chronizität von Schmerz assoziiert zu sein. Im Folgenden soll der Zusammenhang von Schmerzgedächtnis und kortikaler Plastizität genauer beleuchtet werden.

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Plastizität im primären somatosensorischen Kortex

Bei Phantomschmerzen handelt es sich um Schmerzen in einem amputationsbedingt nicht mehr vorhandenen Körperteil. Die aufrechterhaltenden Faktoren von Phantomschmerzen sind bis heute noch nicht vollständig geklärt. Langandauernder oder intensiver akuter Schmerz in dem Körperteil vor der Amputation könnte zu der Etablierung eines somatosensorischen Schmerzgedächtnisses führen. Die ursprüngliche Annahme eines somatosensorischen Schmerzgedächtnisses [8] basierte auf der Beobachtung, dass viele Amputierte berichten, dass die Phantomschmerzen von ähnlicher Qualität und Position sind wie die Schmerzen, die vor der Amputation in dem Körperteil empfunden wurden. Allerdings fanden andere Arbeitsgruppen, dass solche expliziten Erinnerungen an den präamputativen Schmerz selten sind und bei chronischen Phantomschmerzen weniger eine Rolle spielen [7]. Das somatosensorische Schmerzgedächtnis dagegen ist wahrscheinlich eher implizit und nicht ohne weiteres zugänglich für einen bewussten Abruf. Erste Daten zu funktionellen Reorganisationsprozessen wurden im Tierversuch gewonnen. Dabei zeigte sich, dass Reorganisationsprozesse in den somatosensorischen und motorischen Arealen des Kortex nicht nur in begrenzten Zeitfenster während der Entwicklungsphase stattfinden können, sondern auch im erwachsenen Organismus. Neue Techniken in den Neurowissenschaften ermöglichen es inzwischen, nicht-invasiv funktionelle Veränderungen in der Verarbeitung von somatosensorischen Information zu messen. Mittels neuromagnetischer Quellelokalisation wurde die Position der dem amputierten Areal somatotop benachbarten Areale im primären somatosensorischen Kortex bestimmt [6]. Im Falle einer Armamputation handelt es sich dabei um die beiden Mundwinkel, die lateral zu den Händen repräsentiert sind. Zusätzlich wurde die Position der Repräsentation der intakten Hand bestimmt. Durch Spiegelung am Interhemisphärenspalt konnte man so die ursprüngliche Position der nun amputierten Hand bestimmen (nach dem Prinzip der Hemisphärensymmetrie). Es zeigte sich, dass die kortikale Repräsentation des Mundwinkels der Amputationsseite - d.h. in der Hemisphäre kontralateral zur Amputation - im designierten Handareal lokalisiert war. Die Repräsentation des Mundwinkels der intakten Körperseite war dagegen weiter lateral und inferior lokalisiert, in Übereinstimmung mit der bekannten Somatotopie des primären somatosensorischen Kortex. Um die funktionelle Signifikanz dieser kortikalen Reorganisation genauer zu untersuchen, wurde das Ausmaß dieser kortikalen Reorganisation mit der Intensität der Phantomschmerzen in Beziehung gesetzt. Es fand sich eine signifikante positive Korrelation zwischen den beiden Maßen - je stärker der Phantomschmerz, desto größer das Ausmaß der Umorganisation im primären somatosensorischen Kortex. Dieses Ergebnis konnte später in mehreren Studien repliziert werden, wobei unterschiedliche bildgebende Verfahren eingesetzt wurden. Die kortikale Reorganisation steht dagegen in keinem kausalen Zusammenhang zu nicht-schmerzhaften Phantomphänomenen oder Stumpfschmerzen. Sie scheint ein neuronales Korrelat für ein Schmerzgedächtnis zu sein, das für das Auftreten von Phantomschmerzen mitverantwortlich sein könnte.

Die funktionelle Signifikanz der beobachteten kortikalen Veränderungen konnte nachgewiesen werden, indem gezeigt wurde, dass das Unterbinden von peripherem Einstrom aus amputationsnahen Gebiet durch eine Plexusanästhesie nur bei 50 % der untersuchen Patienten zum Verschwinden der kortikalen Umorganisation und der Phantomschmerzen führte. In den anderen 50 % blieben beide Maße unverändert [1]. Diese Daten legen nahe, dass bei manchen Amputierten Phantomschmerz und kortikale Reorganisation durch peripheren Einstrom aufrechterhalten werden, während bei anderen kortikale Änderungen wichtig zu sein scheinen.

Auch bei Patienten, die an chronischen Rückenschmerzen leiden, konnten zentrale Veränderungen im Sinne eines Schmerzgedächtnisses nachgewiesen werden. Zunehmende Chronizität war hier mit der Ausweitung des Repräsentationsareals des Rückens im primären somatosensorischen Kortex positiv korreliert [5].

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Plastizität im zingulären Kortex

Der somatosensorische Kortex ist eine Struktur, die in die sensorisch-diskriminativen Aspekte der Schmerzverarbeitung involviert ist. Das heißt, hier werden Informationen zu der Intensität und der Lokalisation von Schmerzen verarbeitet. Es ist wahrscheinlich, das neben dieser Struktur auch Areale, die die affektiv-motivationalen Aspekte von Schmerzen vermitteln, an der Etablierung eines Schmerzgedächtnisses beteiligt sind. Hier geht es primär um die Bewertung des Schmerzerlebens, die in dem anterioren Teil des zingulären Kortex sowie dem Inselkortex stattfindet. In der Tat konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass auch in diesen Arealen plastische Veränderungen stattfinden, die zu der Empfindung von Phantomschmerzen beitragen [11]. Zu diesem Aspekt wurden auch Daten an einer anderen Patientenpopulation gewonnen. Fibromyalgie ist ein Syndrom, das unter anderem mit über den ganzen Körper verteilten Schmerzen einhergeht. In einer Studie wurde die Verarbeitung von schmerzhaften Hitzereizen an einer solchen Stichprobe untersucht [9]. Dabei wurde die kortikale Antwort auf die Schmerzreize mittels Elektroenzephalogramm gemessen. Dabei interessierten sich die Autoren neben dem Zeitbereich, der die sensorische-diskriminative Reizverarbeitung widerspiegelt, insbesondere für den späten Zeitbereich zwischen 300 und 400 Millisekunden nach der schmerzhaften Stimulation, der mit Aufmerksamkeitsprozessen in Zusammenhang gebracht wird. Die Ergebnisse wurden mit denen von gleichaltrigen, schmerzfreien Kontrollpatienten verglichen. Die Amplituden der Komponenten mittlerer und später Latenz aus den Laser evozierten Potentialen waren bei Fibromyalgiepatienten signifikant größer als in den Kontrollen. Auch die Laser-Schmerzschwelle, nicht aber die Empfindungsschwelle waren bei den Patienten gegenüber der Kontrollgruppe erniedrigt. Im Gegensatz hierzu unterschieden sich die akustisch evozierten Potentiale zwischen den beiden Studiengruppen nicht. Die vergrößerten Amplituden der schmerzinduzierten kortikalen Potentiale deuten auf eine verstärkte sensorische und aufmerksamkeitsabhängige Verarbeitung nozizeptiver Information beim Fibromyalgiesyndrom hin. Die der beschriebenen funktionellen kortikalen Reorganisation potentiell zugrunde liegenden strukturellen Mechanismen sollen hier nicht näher besprochen werden. Diskutiert werden Prozesse wie die Aktivierung stiller Neurone, die Aussprossung neuer Axone sowie Veränderungen in der synaptischen Übertragung.

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Interventionsmöglichkeiten

Die beschriebenen Mechanismen legen nahe, dass Veränderungen der zentralnervösen Verarbeitung die Schmerzen beheben oder lindern könnten. Durch Training kann die Repräsentation der Körperoberfläche verändert werden [3]. Dieses Prinzip kann benutzt werden, um die kortikale Reorganisation im primären somatosensorischen Kortex nach Amputationen rückgängig zu machen. In einer Studie konnte zum Beispiel nachgewiesen werden, dass Amputierte, die regelmäßig eine durch die Stumpfmuskulatur angesteuerte sogenannte myoelektrische Prothese trugen, weniger unter Phantomschmerzen litten und ein geringeres Ausmaß an kortikaler Reorganisation aufwiesen als Amputierte, die nur eine Schmuckprothese oder gar keine Prothese trugen [10]. In einer anderen Studie an Armamputieren wurde gezeigt, dass durch ein sensorisches Diskriminationstraining am Amputationsstumpf ebenfalls die Intensität der Phantomschmerzen und das Ausmaß der kortikalen Reorganisation verringert werden konnten [4]. Neben dieser Verhaltensebene gibt es Ansätze, über pharmakologische Interventionen die kortikale Reorganisation zu verringern.

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Fazit

Das neurobiologische Konzept des Schmerzgedächtnisses kann eine Reihe von klinisch bedeutsamen Phänomenen erklären und bietet eine Basis für eine gezielte, kausale Behandlung von chronischen Schmerzen.

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Abb. 1

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Abb. 2

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Literatur

  • 1 Birbaumer N, Lutzenberger W. et al. . Effects of regional anesthesia on phantom limb pain are mirrored in changes in cortical reorganization.  J Neurosci. 1997;  17 5503-5508
  • 2 Cohen LG, Celnik P. et al. . Functional relevance of cross-modal plasticity in blind humans.  Nature. 1997;  389 180-183
  • 3 Elbert T, Pantev C. et al. . Increased cortical representation of the fingers of the left hand in string players.  Science. 1995;  270 305-307
  • 4 Flor H, Denke C. et al. . Effect of sensory discrimination training on cortical reorganisation and phantom limb pain.  Lancet. 2001;  357 1763-1764
  • 5 Flor H, Braun C. et al. . Extensive reorganisation of primary somatosensory cortex in chronic back pain patients.  Neurosci Lett. 1997;  224 5-8
  • 6 Flor H, Elbert T. et al. . Phantom-limb pain as a perceptual correlate of cortical reorganisation following arm amputation.  Nature. 1995;  375 482-484
  • 7 Jensen TS, Nikolajsen L. Phantom pain and other phenomena after amputation. In: Wall PD, Melzack R (Hrsg.). Textbook of pain. Edinburgh, London, Madrid, Melbourne, New York, Tokyo, Churchill Livingston 1999: 799-814
  • 8 Katz J, Melzack R. Pain „memories” in phantom limbs: review and clinical observations.  Pain. 1990;  43 319-336
  • 9 Lorenz J. Hyperalgesia or hypervigilance? An evoked potential approach to the study of fibromyalgia syndrome.  Z Rheumatol. 1998;  57 19-22
  • 10 Lotze M, Grodd W. et al. . Does use of a myoelectric prosthesis prevent cortical reorganization and phantom limb pain?.  Nat Neurosci. 1999;  2 501-502
  • 11 Willoch F, Rosen G. et al. . Phantom limb pain in the human brain: unraveling neural circuitries of phantom limb sensations using positron emission tomography.  Ann Neurol. 2000;  48 842-849
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Korrespondenzadresse:

Dr. Dipl.-Psych. Caroline Köppe

Lehrstuhl Neuropsychologie

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5

68159 Mannheim

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Literatur

  • 1 Birbaumer N, Lutzenberger W. et al. . Effects of regional anesthesia on phantom limb pain are mirrored in changes in cortical reorganization.  J Neurosci. 1997;  17 5503-5508
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  • 3 Elbert T, Pantev C. et al. . Increased cortical representation of the fingers of the left hand in string players.  Science. 1995;  270 305-307
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  • 6 Flor H, Elbert T. et al. . Phantom-limb pain as a perceptual correlate of cortical reorganisation following arm amputation.  Nature. 1995;  375 482-484
  • 7 Jensen TS, Nikolajsen L. Phantom pain and other phenomena after amputation. In: Wall PD, Melzack R (Hrsg.). Textbook of pain. Edinburgh, London, Madrid, Melbourne, New York, Tokyo, Churchill Livingston 1999: 799-814
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  • 9 Lorenz J. Hyperalgesia or hypervigilance? An evoked potential approach to the study of fibromyalgia syndrome.  Z Rheumatol. 1998;  57 19-22
  • 10 Lotze M, Grodd W. et al. . Does use of a myoelectric prosthesis prevent cortical reorganization and phantom limb pain?.  Nat Neurosci. 1999;  2 501-502
  • 11 Willoch F, Rosen G. et al. . Phantom limb pain in the human brain: unraveling neural circuitries of phantom limb sensations using positron emission tomography.  Ann Neurol. 2000;  48 842-849
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