PPH 2005; 11(5): 243
DOI: 10.1055/s-2005-858694
Editorial

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Prävention und Gesundheitsförderung - mehr Schein als Sein?

P. Seidenstricker
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
13. Oktober 2005 (online)

Politik, Wissenschaft und Kostenträger setzen immer mehr auf die Bereiche Prävention und Gesundheitsförderung. Zwar ist die Beratung des geplanten Präventionsgesetzes am 5.9.2005 vom Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat erneut vertagt worden, aber es besteht parteiübergreifend Einigkeit Prävention als „vierte Säule” neben Akutbehandlung, Rehabilitation und Pflege auszubauen, so dass das Gesetz nach der Bundestagswahl in leicht geänderter Fassung wieder zur Beratung anstehen wird.

Der Begriff Gesundheitsförderung bedürfte fast einer gesonderten Betrachtung. Gegenwärtig erscheinen mir fast alle Lebensbereiche vom gesundheitsfördernden Aspekt erfasst: angefangen bei den Lebensmitteln im Supermarkt, über die Produkte der Reformhäuser und Apotheken, über die Fitnesscenter und „Gesundheitsbewegten” in Wald und Flur bis hin zu Esoterik und Religion. Letztere kann sogar, wenn ihr weiterhin die Gläubigen abhanden kommen zukünftig damit werben, dass beten, insbesondere Rosenkranzbeten, gesundheitsfördernd ist (dies wird angeblich durch Studien belegt). Auch von Wellness-Diagnosen ist vermehrt die Rede, in den Angeboten der Kliniken werden sie schon entsprechend berücksichtigt.

Nun ist die Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung ganz sicher zu begrüßen und gerade im Hinblick auf psychische Erkrankungen dringend erforderlich. Es besteht ein großer Bedarf an Aufklärung, Früherkennung und präventiven Interventionsstrategien.

Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit und zunehmend verstärkt eine Entwicklung, die genau entgegengesetzt verläuft. Man spricht ja bei Prävention von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention und die beiden letzteren scheinen der Gesetzgeber bzw. die Kostenträger ausgeblendet zu haben. Wie wäre es sonst zu erklären, dass durch ständige Anfragen der Krankenkassen schon nach einigen Tagen stationäre Aufenthalte von psychisch Erkrankten in Frage gestellt werden, dass die Psychiatrie-Personalverordnung nur noch auf dem Papier Gültigkeit hat, dass mittlerweile auch ambulante psychiatrische Pflege im Rahmen der Institutsambulanzen vermehrt hinterfragt wird und ihre Leistungen rechtfertigen muss, dass sozialpsychiatrische Dienste z. B. in Bayern seit 2003 nicht mehr durch die Krankenkassen mitfinanziert werden und auch von den zuständigen Bezirken mit weniger Mitteln bedacht werden?

Gehören denn die Verhütung einer Wiedererkrankung, die Reduzierung von stationären Behandlungen, die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit, die Hilfe bei der Bewältigung der Erkrankung, das Verzögern einer Verschlechterung, die Verhinderung von Folgeschäden, das Hinauszögern von Pflegebedürftigkeit und die Erhaltung von sozialer Kompetenz und Lebensqualität nicht zur Prävention?

Frau Schädle-Deininger hat im Editorial des letzten Heftes zur Verordnungsfähigkeit ambulanter psychiatrischer Pflege Stellung genommen und dabei u. a. die Frage gestellt, ob die Verfasser der Richtlinien wohl die Wirklichkeit eines psychisch kranken Menschen, dem eben z. B. keine zeitliche Einschränkung der Beziehungsaufnahme gerecht wird, kennen? In unserer auf Darstellung und Außenwirkung ausgerichteten Gesellschaft drängt sich der Verdacht auf, dass es mit der Betonung von Prävention und Gesundheitsförderung gar nicht wirklich darum geht eine Verbesserung zu erreichen, zumindest nicht für schwer und chronisch Erkrankte. Im Gegenteil, ihre Situation verschlechtert sich.

Heißt also Prävention mehr Geld für die „noch Gesunden” und gleichzeitig weniger für die „schon Kranken”?

Die Versorgung psychisch Kranker und hier besonders die psychiatrische Pflege mit ihrer Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags, hat einen hohen Anteil an präventiven Ansätzen, Aufgaben und Interventionen. Diese sind in jeder Phase einer Erkrankung wichtig und dürfen deshalb nicht von den Kostenträgern infrage gestellt werden, um dann gleichzeitig an anderer Stelle große Präventions- und Gesundheitsförderungsprojekte zu propagieren. Darum bitte: Mehr Sein als Schein!

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