psychoneuro 2004; 30(8): 444-448
DOI: 10.1055/s-2004-833664
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Dystonien

DystoniaHelge Topka1
  • 1Abt. für Neurologie und Klinische Neurophysiologie Krankenhaus München Bogenhausen
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Helge Topka

Abt. für Neurologie und Klinische Neurophysiologie, Krankenhaus München Bogenhausen

Englschalkinger Str. 77

81925 München

Email: topka@extern.lrz-muenchen.de

Publication History

Publication Date:
17 September 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Als Dystonien werden eine Gruppe von hyperkinetischen Bewegungsstörungen bezeichnet, die durch die repetitive, unwillkürliche Aktivierung von Muskeln entstehen und meist zu drehenden Bewegungen oder der Einnahme unnatürlicher Haltungen führen. Ätiologisch werden primäre Dystonien von sekundären Dystonien unterschieden. Bei primären Dystonien stellt die Dystonie neben einem möglichen Tremor das einzige Symptom dar, bei sekundären Dystonien finden sich meist anderweitige neurologische Zeichen und es liegt in der Regel eine metabolische oder strukturelle Störung zu Grunde. Bei Dystonien des Erwachsenenalters lassen sich laborchemisch, bildgebend oder molekulargenetisch nur selten eindeutige und behandelbare Ursachen identifizieren. In den meisten Fällen ist die Therapie daher symptomatisch. Bei generalisierten Formen kommt meist eine medikamentöse, in ausgewählten Fällen auch eine operative Therapie in Betracht. Fokale Dystonien werden in der Regel am erfolgreichsten mit der lokalen Infiltration mit Botulinumtoxin A oder B behandelt. Wichtig ist, einzelne Sonderformen wie die Dopa-responsive Dystonie oder paroxysmale Dystonien, zu erkennen, da hier die Möglichkeit einer sehr erfolgreichen medikamentösen Behandlung besteht.

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Summary

The term dystonia refers to a group of hyperkinetic movement disorders that are characterized by repetitive, involuntary movements of specific muscle groups. Frequently dystonia is associated with twisting movements of the trunk and abnormal postures. The etiology of dystonias is extremely heterogeneous. In primary dystonias, which may present either as sproradic or hereditary disorders, dystonia and possibly tremor are the only clinical signs of the disorder. Most importantly, in primary dystonias, there are no signs of neurodegeneration. As opposed to primary dystonias, secondary dystonias are associated with additional clinical signs such as rigidity, myoclonia or ataxia. In secondary dystonias, imaging and laboratory studies may reveal underlying structural or metabolic deficits. Late-onset dystonia presenting in adulthood only rarely can be traced down to a treatable underlying disorder. In most cases of adult-onset dystonia treatment, therefore, is symtomatic. In generalized types of dystonia, medical treatment with L-dopa or anticholinergics is warranted. Focal dystonia in most cases is best treated by local injection of botulinum toxin A or B. Only in selected cases surgical treatment is an option. It is very important, however, to identify types of dystonia that show dramatic responses to medical treatment such as Dopa-responsive dystonia or paroxysmal dystonia.

Der Begriff Dystonie wurde von Oppenheim im Jahr 1911 [7] eingeführt (dystonia musculorum deformans). Definiert wird die Dystonie mittlerweile als ein Syndrom anhaltender, repetitiver, unwillkürlicher Bewegungen, die häufig drehenden Charakter haben oder zur Einnahme unnatürlicher Haltungen führen. Zusätzlich können kurze Muskelzuckungen im Sinne myokloniformer Bewegungen auftreten (myoklonische Dystonie). Damit unterscheiden sich Dystonien von anderen Bewegungsstörungen wie Tremor, Chorea und Ballismus, Myoklonien oder Tics. Im Gegensatz zu diesen Erkrankungen betreffen Dystonien immer eine individuell nur wenig variable Gruppe meist synergistischer Muskeln und deren Antagonisten. Die betroffenen Muskeln hypertrophieren häufig. Typischerweise sind dystone Bewegungen vom (sensorischen) Kontext abhängig und treten zumindest anfangs nur bei Ausführung bestimmter willkürlicher Bewegungen auf. Beim Schreibkrampf, einer fokalen Dystonie des Erwachsenenalters kann das Schreiben aufgrund der unwillkürlichen Aktivität unmöglich sein, während andere Willkürbewegungen derselben Muskeln völlig unbeeinträchtigt sind. Die genaue Dokumentation der klinischen Charakteristika hilft, Dystonien von anderen hyperkinetischen Bewegungsstörungen abzugrenzen [Tab. 1]

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Einteilungen der Dystonien

Dystonien können nach phänomenologischen (Erkrankungsalter, Verteilungsmuster der beteiligten Körperpartien), nach ätiologischen oder nach genetischen Gesichtspunkten eingeteilt werden [3] [4] [6] ([Tab. 2] und [3]). Das Erkrankungsalter hat große prognostische Bedeutung. Erkrankungsbeginn in der Kindheit weist in der Regel auf eine hereditäre Erkrankung, die innerhalb einiger Jahre generalisieren kann und häufig zu schweren Behinderungen führt. Beginnt die Erkrankung in der Adoleszenz oder insbesondere im Erwachsenenalter sind meist nur umschriebene Muskelgruppen betroffen (fokale oder segmentale Formen) und der Verlauf ist eher benigne. Hemidystonien sind nahezu immer mit einer fokalen zerebralen Läsion im Bereich des kontralateralen Thalamus oder des Putamens vergesellschaftet, während konventionelle bildgebende Untersuchungen bei allen anderen Dystonieformen unauffällig sind.

Nachdem mittlerweile für eine Reihe von Dystonien genetische Ursachen identifiziert worden sind, wird gegenwärtig eine Einteilung in primäre (idiopathische, familiäre und sporadische) und sekundäre (anstatt symptomatischer) Dystonien favorisiert [Tab. 3]. Bei primären Dystonien stellt die Dystonie außer einem Tremor das einzige klinische Zeichen der Erkrankungen dar. Primäre Dystonien gehen nicht mit neuronaler Degeneration einher. Die häufigste Form einer im Kindesalter beginnenden Dystonie ist die DYT1, eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung (Chromosom 9q34.1). Sekundäre Dystonien und Dystonie-Plus-Syndrome umfassen Erkrankungen, bei denen die Dystonie von anderen neurologischen Symptomen oder von strukturellen Veränderungen in den Basalganglien, einer Intoxikation, von metabolischen Störungen oder von einer erblichen degenerativen Erkrankung begleitet wird. Meist bestehen neben den typischen Symptomen der Dystonie Symptome eines Parkinsonsyndroms, Myoklonien, Ataxie oder andere neurologische Zeichen.

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Pathophysiologie

Die Pathophysiologie dystoner Erkrankungen ist bislang nicht gut geklärt [1]. Eine Störung der Funktion der Basalganglien wird angenommen. Dafür spricht, dass medikamentös-induzierte Dystonien häufig bei der L-Dopa-Therapie des Parkinsonsyndroms oder bei der Neuroleptikatherapie anzutreffen sind, dass symptomatische Formen von Dystonien nahezu ausschließlich bei Läsionen im Bereich des Putamens und dass der neurometabolische Defekt der Dopa-responsiven Dystonie (DYT5) in einer Reduktion der Dopaminsynthese in den Neuronen der Substantia nigra und dem Striatum liegt. Funktionell bildgebende und elektrophysiologische Untersuchungen haben eine Reihe auffälliger Befunde aufgezeigt, eine einheitliche Theorie zur Entstehung von Dystonien konnte aber daraus nicht abgeleitet werden. Aufgrund von Beobachtungen aus tierexperimentellen und humanen Studien wird gegenwärtig diskutiert, ob Dystonien die Folge einer pathologischen Reorganisation somatosensorischer und motorischer Kortexareale darstellen. Inwieweit eine pathologische kortikale Reorganisation Ursache einer Dystonie oder ihrerseits eher durch Umorganisation, z.B. des Thalamus bedingt ist, ist unklar.

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Diagnostik

Die Diagnose einer Dystonie beruht in den meisten Fällen auf dem typischen klinischen Bild. Bildgebende oder Laboruntersuchungen dienen lediglich dem Ausschluss anderweitiger Ursachen. Diese Zusatzdiagnostik sollte zumindest dann veranlasst werden, wenn Symptome mehr als eine Körperregion betreffen oder zusätzlich zur Dystonie anderweitige Symptome feststellbar sind. Insbesondere Hemidystonien erfordern immer bildgebende Diagnostik, vorzugsweise Kernspintomographien, da dieser Manifestationsform in der Regel eine fokale Hirnläsion zugrunde liegt. Sekundäre Dystonien haben in der Regel eine bedeutend schlechtere Prognose hinsichtlich der Progredienz, insbesondere wenn der zu Grunde liegende metabolische Defekt nicht behandelt werden kann. Vor allem bei jüngeren Patienten sollten daher behandelbare Ursachen wie ein M. Wilson ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zu den primären Dystonien weisen Patienten mit sekundären Dystonien sehr häufig anderweitige neurologische Symptome auf. Genetische Diagnostik ist bei der häufigsten Dystonieform des Erwachsenenalters, den fokalen Dystonien, meist nicht wegweisend. Untersuchungen bezüglich einer DYT-1-Mutation sind aber bei früher Generalisierung der Erkrankung, bezüglich DYT-5 bei zusätzlichem Rigor und tageszeitlichen Schwankungen sinnvoll. Anderweitige Laboruntersuchungen können im Einzelfall notwendig werden [5].

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Therapeutisches Vorgehen

Die Behandlung von Patienten mit primären oder sekundären Dystonien ist in den meisten Fällen symptomatisch, da im Erwachsenenalter nur bei einer kleinen Gruppe von Patienten zu Grunde liegende und behandelbare Ursachen identifiziert werden können. Bei generalisierten Dystonien kommt zunächst in der Regel eine medikamentöse Therapie in Betracht, während die meisten Patienten mit fokalen Dystonien unabhängig vom genetischen Hintergrund der Erkrankung am erfolgreichsten mit lokaler Injektion von Botulinumtoxin A behandelt werden [8]. Eine Übersicht zur Differenzialtherapie der Dystonien gibt [Tabelle 4].

Therapieempfehlungen für die medikamentöse Behandlung von Dystonien sind ganz überwiegend empirisch. Die Wirksamkeit einzelner Substanzen ist meist in kleineren und oft heterogenen Studien untersucht. Tiermodelle haben bislang nicht wesentlich zur Entwicklung einer rational begründeten Therapie beigetragen. Die überwiegende Mehrzahl der verwendeten Medikamente beeinflussen die dopaminerge Neurotransmission in den Basalganglien. Mit diesem therapeutischen Ansatz lassen sich vor allem bei generalisierten Dystonien Erfolge erzielen. Die subjektive und objektive Besserungsrate überschreitet aber außer bei der Dopa-responsiven Dystonie selten etwa 30-40 %. Da aber auch bei ungewöhnlichem klinischen Bild die selten vorkommende Dopa-responsive Dystonie (DYT-5) nicht ausgeschlossen werden kann und die Therapie ausgesprochen gut vertragen wird, kann bei allen Patienten, vor allem jüngeren Alters ein Therapieversuch mit L-Dopa in langsam ansteigender Dosierung durchgeführt werden. Wenn sich bei L-Dopa-Dosen zwischen den 300 und 500 mg pro Tag nach zwei Wochen aber kein offensichtlicher Therapieerfolg einstellt, ist eine Besserung kaum mehr zu erwarten. Auch Dopaminagonisten (Bromocriptin, Pergolid, Pramipexol, Ropirinol, Cabergolin) und Anticholinergika sind bei der DYT-5 wirksam, andere Dystonieformen lassen sich aber mit Dopamimetika nicht relevant beeinflussen.

Versagt die dopaminerge Therapie, kann ein Therapieversuch mit Anticholinergika (insbesondere Trihexyphenidyl 10-30 mg/die) sinnvoll sein. Nach einer Behandlungsdauer von 2,5 Jahren zeigen aber nur noch 42 % der Patienten unter Therapie mit 30 mg pro Tag eine meist geringe Besserung ohne wesentliche Nebenwirkungen. Mögliche Nebenwirkungen der anticholinergen Medikation sind Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen, Sehstörungen, Harnverhalt und selten auch psychotische Bilder. Ein langsames Einschleichen der Medikation ist zu empfehlen. Gedächtnisstörungen und eine Verlangsamung kognitiver Prozesse treten vor allem bei älteren Patienten häufiger auf. Periphere unerwünschte Wirkungen wie Mundtrockenheit oder Verschwommensehen können durch Cholinesteraseinhibitoren wie Pyridostigmin oder Pilocarpin-Augentropfen (3 %ig) behandelt werden. Ist die anticholinerge Therapie erfolglos, können eine Reihe anderer Substanzen (Baclofen, Benzodiazepine wie Diazepam oder Clonazepam, Pimozid oder Tetrabenazin) versucht werden, wobei die Wirksamkeit dieser Medikamente im Vergleich zum Trihexyphenidyl geringer ist. Bei sehr ausgeprägter Symptomatik wurde die Kombination von Anticholinergika, Tetrabenazin und Baclofen oder Pimozid vorgeschlagen. Intrathekale Baclofen-Infusionen konnten sich nicht durchsetzen.

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Symptomatische Therapie mit Botulinumtoxin

Mittlerweile ist die lokale Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin (BoNTx) der Serotypen A oder B das Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung von fokalen Dystonien geworden. Der am weitesten verbreitete Serotyp ist das Botulinumtoxin A, bei kleineren Patientengruppen wurden BoNTx B und innerhalb von Studien sehr selten BoNTx F verwendet. Das therapeutische Prinzip ist die hoch selektive Induktion einer reversiblen Denervierung der beteiligten Muskulatur. Das 150000 Da schwere Molekül ist dem Tetanustoxin sehr ähnlich und besteht aus einer leichten und einer schweren Kette. Die schwere Kette ist für die zelluläre Aufnahme des Toxins im Bereich der motorischen Endplatte, die leichte Kette für die intrazelluläre Blockade der Freigabe von Azetylcholinvesikeln verantwortlich. Das Toxin bindet irreversibel. Der Wirkverlust, der meist innerhalb von zwei bis drei Monaten eintritt, beruht auf der Neuaussprossung von Terminalen. Mittlerweile liegen sehr große Erfahrungen mit dem therapeutischen Einsatz von BoNTX vor, so dass die Behandlung als sehr selektiv, sicher und sehr effektiv angesehen werden kann. Die selektive Injektion in die überaktiven Muskeln sorgt für eine graduelle, selektive chemische Denervierung und damit zu einer temporären Inaktivierung und Atrophie des behandelten Muskels. Aufgrund des hochspezifischen Wirkmechanismus sind über die lokale Denervierung des Muskels und gegebenenfalls der Schweißdrüsen hinaus keine unerwünschten Wirkungen des Toxins bekannt. Meist kurzfristige und wenig behindernde Nebenwirkungen der Botulinumtoxintherapie sind eine zu starke Parese des injizierten Muskels oder die unerwünschte lokale Ausbreitung des Toxins auf benachbarte Muskeln. Relevante Langzeitnebenwirkungen sind bislang nicht beschrieben worden. Auch nach langer Behandlungsdauer bleibt die Wirksamkeit in der Regel erhalten. Nur bei etwa 3-5 % der Patienten findet sich nach mehrfachen und meist hochdosierten Behandlungen ein sekundärer Wirkungsverlust, der auf die Bildung neutralisierender Antikörper zurückgeführt wird. In diesen Fällen hilft oft ein Wechsel von BoNTx A auf den Serotyp B, das allerdings meist eine kürzere Wirkdauer aufweist. Botulinumtoxin A wird derzeit von einem amerikanischen (Allergan, Botox®) und einem europäischen Hersteller (Ipsen, Dysport®), das BoNTx B vom amerikanischen Hersteller Elan Pharmaceuticals (Neurobloc®) angeboten. Beim Wechsel zwischen Botox® und Dysport® sollte beachtet werden, dass die mouse units nicht im Verhältnis 1:1, sondern eher mit dem Faktor 1:3 oder sogar 1:4 erfolgen sollten.

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Therapeutische Besonderheiten

Die paroxysmale kinesiogene Choreoathetosis/Dystonie (PKC) und die paroxysmale non-kinesiogene Dystonie (DYT 8) sind Erkrankungen, die durch attackenartiges kurzes Auftreten dystoner Symptome gekennzeichnet ist. Bei der PKC werden dystone Symptome vor allem durch plötzliche Bewegungen ausgelöst. Die PKC ist bei Männern häufiger als bei Frauen. Eine familiäre Häufung ist bekannt, wobei eine monogene Ursache bislang nicht bekannt ist. Eine Ionenkanalerkrankung wird vermutet. Für diese Vermutung spricht, dass sich die Symptome unter Behandlung mit antiepileptischen Medikamenten, insbesondere Carbamazepin bereits in Dosen von 100-200 mg/Tag erheblich bessern kann. Die non-kinesiogene Form DYT 8 ist eine familiäre Erkrankung, bei der die Attacken durch Stress, Alkohol oder durch Müdigkeit ausgelöst werden können. Der relevante Gendefekt wurde auf Chromosom 2q33-q25 lokalisiert. Manche Patienten sprechen auf eine Therapie mit Azetazolamid an.

Akutdyskinesien treten innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen nach Beginn einer Therapie mit klassischen (typischen) Neuroleptika oder auch vor allem bei jungen Patienten mit Antiemetika (z.B. Metoclopramid) auf. Die Dyskinesien bestehen in intermittierenden oder anhaltenden Krämpfen der Muskulatur im Bereich der Augen, des Gesichts, des Halses, des Schlundes oder des Rumpfes. Die intravenöse oder intramuskuläre Gabe von Anticholinergika ist hochwirksam, in leichteren Fällen können orale Anticholinergika ausreichen. Diphenhydramin und Benzodiazepine sind ebenfalls wirksam. Akutdyskinesien sistieren nach dem Absetzen der verantwortlichen Medikamente, eine anticholinerge Therapie kann aber für mehrere Tage notwendig sein.

Tardive Dyskinesien bezeichnet eine Gruppe von iatrogenen Bewegungsstörungen, die nach Einnahme von Neuroleptika oder anderen Dopaminantagonisten auftreten und nach deren Absetzen persistieren. Der Begriff tardive Dyskinesien ist eigentlich inkorrekt, da eine längere vorausgehende Einnahme von Neuroleptika keineswegs erforderlich ist, sondern tardive Dyskinesien bereits nach einer Einnahmedauer von wenigen Tagen auftreten können. Zutreffender wäre also von persistierenden medikamentös-induzierten Dyskinesien zu sprechen. Typische Manifestationsformen tardiver Dyskinesien sind unwillkürliche Bewegungen im Mund- und Gesichtsbereich, stereotype linguale Bewegungen in Form repetitiver, koordinierter Mundbewegungen, die als Lippenspitzen, Kauen, oder Grimassieren imponieren. Auch unwillkürliche Bewegungen des Rumpfes und der Extremitäten kommen vor. In den meisten Fällen sind tardive Dyskinesien auf die Einnahme oft höherer Dosen klassischer Neuroleptika zurückzuführen. Clozapin und Olanzapin haben eine relativ hohe Affinität zu serotonergen, cholinergen, histaminergen, noradrenergen und Dopamin D4-Rezeptoren und induzieren kein Parkinsonoid. Sehr selten sind aber persistierende medikamentös-induzierte Dyskinesien auch nach Einnahme von Clozapin und Olanzapin beobachtet worden. auch das atypische Neuroleptikum Risperdal kann dosisabhängig verschiedene tardive Syndrome auslösen. Besonders ausgeprägt sind tardive Dyskinesien, wenn die neuroleptische Medikation rasch abgesetzt wird. Wichtigste Risikofaktoren für die Entstehung tardiver Dyskinesien ist höheres Alter bei Beginn der Neuroleptikatherapie, die Dauer der neuroleptischen Behandlung, weibliches Geschlecht, das Vorliegen einer affektiven Erkrankung, das Vorliegen einer Basalganglienerkrankung, Demenz oder eines Diabetes mellitus Typ II. Die medikamentöse Therapie tardiver Dyskinesien ist außerordentlich schwierig und wenig effektiv. Die wichtigste Maßnahme ist daher die Prävention und daher nach Möglichkeit der Verzicht auf die Gabe klassischer Neuroleptika, sofern dies die Grunderkrankung zulässt. Anticholinergika, die Akutdyskinesien sehr gut bessern, sind bei tardiven Dyskinesien unwirksam oder verschlechtern die Symptomatik sogar. Eine geringfügige Besserung wird Clozapin und dem Dopamin-Depletor Tetrabenazin zugeschrieben. Häufig bleibt die Behandlung aber unbefriedigend. Eine Besserung innerhalb von Jahren nach Absetzen der neuroleptischen Medikation ist möglich.

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Operative Therapie

Bei ausgeprägter Symptomatik kann eine operative Therapie erwogen werden. Für die früher bei zervikalen Dystonien eingesetzte Durchtrennung der beteiligten zervikalen Wurzeln wird mittlerweile aufgrund der oft unbefriedigenden Ergebnisse und des destruierenden Charakters der Behandlung kaum noch eine Indikation gesehen. Die in den 50er bis 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bereits in Form einer Pallidotomie oder Thalamotomie vor allem bei Parkinsonpatienten durchgeführte stereotaktische Operation wurde mit Einführung des L-Dopa weitgehend verlassen. Durch die Entwicklung nicht-destruierender operativer Verfahren wie der Implantation tiefer Hirnstimulatoren wird aber in den letzten Jahren die operative Behandlung nicht nur von Parkinson- und Tremorpatienten, sondern auch bei Dystonien diskutiert [2]. Als Wirkmechanismus wird eine partielle oder komplette funktionelle Ausschaltung der Neuronen des internen Pallidum (GPi) durch elektrische Dauerstimulation vermutet. Im Gegensatz zur Parkinsonschen Erkrankung sind aber die Vorstellungen zur Pathophysiologie von Dystonien und der möglichen Wirkungsweise der tiefen Hirnstimulation bislang noch wenig ausgereift. Obwohl mit der tiefen Hirnstimulation auch bei Dystonien zum Teil dramatische Erfolge beobachtet worden sind, muss die Behandlung noch als experimentell angesehen werden. Es scheint so zu sein, dass generalisierte Dystonien, insbesondere hereditäre Formen wie die DYT1 am besten auf die Stimulation ansprechen. Problematisch ist weiterhin, dass keine klaren Kriterien für die Bestimmung des idealen Operationszeitpunktes und insbesondere bei fokalen Dystonien für die Auswahl geeigneter Patienten bestehen. Außerdem ist die Lebensdauer der Stimulatoren durch die im Vergleich zum M. Parkinson sehr hohe Stimulationsstärke und den damit verbundenen hohen Stromverbrauch deutlich reduziert. Nicht zuletzt ist auch die optimale Einstellung des Stimulators bei Dystonien sehr schwierig, da sich Änderungen in den Stimulationsparametern erst nach Wochen bis Monaten bemerkbar machen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss die operative Therapie von Dystonien mit tiefen Hirnstimulatoren daher noch als experimentell angesehen werden und bleibt sorgfältig ausgewählten Einzelfällen vorbehalten. Als Alternative wird gegenwärtig auch die beidseitige Pallidotomie geprüft.

Tab. 1 Phänomenologische Differentialdiagnose der Dystonien

Unterscheidung von ...

durch

Tics

Unterdrückbarkeit, „Aura”, u.U. wechselnde Lokalisation

Chorea

oft längere Dauer, nicht stereotyp, „zufällige” Verteilung der betroffenen Muskeln

Tremor

rhythmisch, meist an Extremitäten lokalisiert

Ballismus

meist akuter Beginn, Hemisymptomatik, „zufällige” Verteilung der betroffenen Muskeln

Faszikulationen

kein Bewegungseffekt am Gelenk, typischer EMG-Befund

Myokymien

Verteilung in peripherem Versorgungsgebiet, EMG

Spasmus hemifacialis

meist einseitig, oft leichte VII-Parese, Provokation durch Willkürbewegung benachbarter mimischer Muskeln, ephaptische Transmission im EMG

Tab. 2 Phänomenologische Klassifikation der Dystonien

Erkrankungsalter

Verteilungsmuster

Kindheit (1-12 Lj.)

fokal

Adoleszenz (13-20 Lj.)

segmental

Erwachsenenalter (> 20 Lj.)

multisegmenta

Hemidystonie

generalisiert

Tab. 3 Ätiologische Einteilung der Dystonien (Auswahl)

Primäre Dystonien

Sporadische Formen

Idiopathische Torsionsdystonie, Beginn in der Kindheit oder Erwachsenenalter, generalisiert, segmental oder fokal

Erbliche Formen

Hereditäre Torsionsdystonie, klassische „idiopathische” Torsionsdystonie (9q34), DRD (14q22), paroxysmale Dystonien

Sekundäre Dystonien

Dystonie-Plus-Syndrome

Sporadisch (Paroxysmale Dystonie, Myoklonische Dystonie), hereditär (Paroxysmale kinesiogene und non-kinesiogene Dystonie, Dopa-responsive Dystonie)

In Assoziation mit neuro-degenerativen Erkrankungen

Sporadisch (M. Parkinson, PSP, MSA

Hereditär (M. Wilson, M. Huntington [Westphal], SCA

In Assoziation mit meta-bolischen Störungen

Störungen des Aminosäurestoffwechsel

Störungen des Lipidstoffwechsels

Andere erworbene Dystonien

Perinatale zerebrale Schädigung und Kernikterus, Medikamente (L-Dopa, Neuroleptika), fokale Läsionen des zentralen oder peripheren Nervensystems (MS, Blutungen, Tumoren, Traumata, Reflexdystrophien)

Psychogene Formen

Pseudodystonien (meist Torticollis)

z.B. Atlanto-okzipitale Subluxatio

Tumoren der hinteren Schädelgrube

Tab. 4 Differenzielle Therapie von Dystonien (in der Reihenfolge der Empfehlung)

Klinische Manifestation der Dystonie

Medikation und empfohlene maximale Tagesdosis

Generalisierte Formen

L-Dopa (+ Decarboxylase-Inhibitor) 3 x 125 m

Trihexiphenidyl 12(-25) m

Baclofen 3 x 30 m

Clonazepam 2-4 mg

Fokale Dystonien

Zervikale Dystonie

Blepharospasmus Schreibkrampf

Botulinumtoxin-Injektion

oder (bei Kontraindikationen)

L-Dopa (+ Decarboxylase-Inhibitor) 3 x 125 m

Trihexiphenidyl 12(-25) mg

Spontane orale Dyskinesien

Tetrabenazin[1] 2 x 25 mg bis 2 x 50 m

evtl. Tiaprid 3 x 100 mg bis 3 x 200 mg

Akutdyskinesien

Biperiden 5 mg i.v. einmali

Diazepam 5-10 mg

Persistierende (tardive) Dyskinesien

Austausch klassischer gegen atypische Neuroleptik

Tetrabenazin bis 2(-3) x 50 m

Vitamin

Clozapin

1 Tetrabenazin muss über die Internationale Apotheke bezogen werden

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Literatur

  • 1 Berardelli A, Rothwell JC, Hallett M, Thompson PD, Manfredi M, Marsden CD. The pathophysiology of primary dystonia.  Brain. 1998;  121 1195-212
  • 2 Bereznai B, Steude U, Seelos K, Bötzel K. Chronic high-frequency globus pallidus internus stimulation in different types of dystonia: A clinical, video and MRI report of six patients presenting with segmental, cervical and generalized dystonia.  Mov Disord. 2002;  17 138-144
  • 3 Fahn S, Bressman SB, Marsden CD. Classification of dystonia.  Adv Neurol. 1998;  78 1-10
  • 4 Klein C, Breakefield XO, Ozelius LJ. Genetics of primary dystonia.  Sem Neurol. 1999;  19 271-280
  • 5 Laubis-Herrmann U, Topka H. Labordiagnostik hyperkinetischer Bewegungsstörungen des Erwachsenenalters.  Nervenarzt. 2002;  73 133-143
  • 6 Müller U, Steinberger D, Nemeth AH. Clinical and molecular genetics of primary dystonias.  Neurogenetics. 1998;  1 165-177
  • 7 Oppenheim H. Über eine eigenartige Krampfkrankheit des kindlichen und jugendlichen Alters (Dysbasia lordotica progressiva, Dystonia musculorum deformans). Neurologisches Centralblatt 1911: 19
  • 8 Topka H, Dichgans J. Dyskinesien. In Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. Brandt Th, Dichgans J, Diener HC (Hrsg.). 3. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer 2003: 1000-1026
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Helge Topka

Abt. für Neurologie und Klinische Neurophysiologie, Krankenhaus München Bogenhausen

Englschalkinger Str. 77

81925 München

Email: topka@extern.lrz-muenchen.de

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Literatur

  • 1 Berardelli A, Rothwell JC, Hallett M, Thompson PD, Manfredi M, Marsden CD. The pathophysiology of primary dystonia.  Brain. 1998;  121 1195-212
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  • 8 Topka H, Dichgans J. Dyskinesien. In Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. Brandt Th, Dichgans J, Diener HC (Hrsg.). 3. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer 2003: 1000-1026
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