psychoneuro 2004; 30(6): 317-321
DOI: 10.1055/s-2004-829993
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verhaltensmedizinische Aspekte des Schwindels

Gernot Langs1
  • 1Medizisch-Psychosomatische Klinik, Bad Bramstedt
Further Information
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Korrespondenzadresse:

Univ.-Doz. Dr. G. Langs

Medizinisch-Psychosomatische, Klinik Bad Bramstedt

Birkenweg 10

24576 Bad Bramstedt

Publication History

Publication Date:
16 July 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Schwindel ist ein unspezifisches Symptom, das häufig nicht ausreichend durch ein organisches Korrelat erklärbar ist. In diesem Artikel werden diese Störungen aus psychiatrischer Sicht diskutiert, in erster Linie sind dies Angsterkrankungen und Somatoforme Störungen. Weiterhin wird der verhaltensmedizinische Ansatz, der organische und psychologische Faktoren im individuellen Erklärungsmodell integriert, vorgestellt. Abschließend werden mögliche Kommunikationsprobleme, die im Rahmen der Diagnosestellung und dem daraus abzuleitenden therapeutischen Procedere zwischen Arzt und Patient auftreten können, sowie deren Lösungsmöglichkeiten beschrieben.

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Abstract

Vertigo is an unspecific symptom, which often cannot be fully accounted for by a diagnosible medical condition. This article focusses on these disorders from a psychiatric point of view, especially on anxiety and somatoform disorders. Furthermore a behavioral oriented psychosomatic model, which integrates psychologic and medical factors for explanation and development of a therapeutic rationale, will be presented. Finally reasons for problems in communication between patients and doctors, which may occur in the course of diagnostic and therapeutic procedures, and possible alternatives are discussed.

Schwindel ist ein vielgestaltiges, nosologisch unspezifisches Symptom. Seine Definition umfasst sowohl die objektivierbare Störung des Gleichgewichts als auch die subjektive Sinnestäuschung. Thömke spricht von einer „als unangenehm empfundenen scheinbaren Bewegung des Betroffenen und/oder seiner Umgebung” [13]. Schwindel ist ein Phänomen, das jeder Mensch kennt. Pathologisch wird Schwindel dann, wenn er zu einer Einschränkung des Bewegungsradius und einer Verminderung der Lebensqualität führt. In Anbetracht dieses subjektiven Aspektes muss also ein organisches Korrelat für die Symptomatik nicht unbedingt nachweisbar sein, ebenso erklärt eine objektivierbare Störung des Gleichgewichtssystems nicht immer das Ausmaß der geschilderten Beschwerden. Gerade diese Verquickung von „subjektiver” und „objektiver” Ebene kann zu Kommunikationsproblemen zwischen Arzt und Patient führen, worauf später in diesem Artikel eingegangen wird.

Aus physiologischer Sicht ist die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes an die Integration und Abstimmung von Reizen aus dem vestibulären, dem visuellen und dem propriozeptiven System im Zentralnervensystem (zerebrale und zerebelläre Zentren) gebunden ([Abb. 1] und [Abb. 2]). Werden aus diesen Systemen sich widersprechende Informationen an die Zentren im ZNS weitergeleitet, dann entsteht ein sogenanntes „Mismatch”, welches subjektiv als Schwindel wahrgenommen wird. Die Art des Schwindelerlebens kann einerseits durch die Lokalisation der Erkrankung, andererseits durch Ätiologie und Pathogenese erklärbar sein. Die Klassifikation des Schwindels kann daher nach unterschiedlichen, sich zum Teil ergänzenden, Gesichtspunkten erfolgen [Tab. 1].

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Epidemiologie

Prävalenzdaten zum „Leitsymptom Schwindel” liegen in erster Linie aus klinischen Studien vor. Yardley erhob in einer postalischen Befragung unter 2064 Patienten von Allgemeinpraxen in London eine 1-Monatsprävalenzrate von knapp über 20 %, die Hälfte davon berichtete auch über eine gleichzeitig bestehende Angstsymptomatik oder Vermeidungsverhalten [15]. Sloane fand, dass 2 % der Arztbesuche in Allgemeinpraxen aufgrund von Schwindelsymptomen erfolgen (zit. nach 4). Strupp und Jahn berichten, dass 20 % aller neurologischen Patienten sich mit einer Schwindelsymptomatik vorstellen, womit Schwindel nach Kopfschmerz das zweithäufigste Leitsymptom in diesem Rahmen darstellt [12]. In einer Spezialambulanz für Schwindel konnte unter 768 Patienten bei 20,6 % ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel diagnostiziert werden, bei 12,8 % ein zentral-vestibulärer Schwindel, ein Morbus Menière bei 5,9 %. Auffällig ist der hohe Prozentsatz an Patienten mit einem Phobischen Schwankschwindel (16,8 %), der damit die zweithäufigste Schwindelform in diesem Setting ist [6].

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Primär organisch bedingter Schwindel

Bei Vorliegen eines pathologischen Organbefundes, der Art und Ausmaß der Symptomatik erklärt, ist von einem primär organisch bedingten Schwindel auszugehen. Als Beispiele seien Tumore, entzündliche Prozesse, der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, der Morbus Menière und die vestibuläre Migraine genannt. Im Rahmen der Behandlung des organischen Korrelates und einer objektivierbaren Befundbesserung kommt es auch zu einem Sistieren des Schwindels.

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Psychogener Schwindel

Die Terminologie für primär nicht-organisch verursachten Schwindel umfasst Begriffe wie Psychogener Schwindel, Psychosomatischer Schwindel und Psychiatrischer Schwindel. Weitere Termini sind „space and motion discomfort”, Phobischer Attackenschwankschwindel und „space and motion phobia” [4] [11]. Letztgenannte Begriffe beschreiben Phänomene, die dadurch charakterisiert sind, dass als Folge der Schwindelsymptome bestimmte Situationen und Orte vermieden werden, an denen die Beschwerden und Ängste auftreten könnten. Aus psychiatrischer Sicht entsprechen diese Beschreibungen daher am ehesten Angsterkrankungen. Der psychogene oder psychosomatische Schwindel, der nicht an Angstsymptome gekoppelt ist, ist den Somatoformen Störungen zuzuordnen. Einen kursorischen Überblick und Anhaltspunkte zur groben Unterscheidung zwischen vestibulärem und psychogenem Schwindel gibt [Tabelle 2] [9].

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Organisch versus psychisch?

Gerade beim Phänomen Schwindel zeigt sich, dass das dualistische Descart`sche Denken „Körper oder Seele” nicht immer zum gewünschten Behandlungserfolg führt. Subjektive Angaben der Patienten korrelieren häufig nicht mit dem erhobenen Organbefund, sodass Behandlungsmaßnahmen, die lediglich auf den organischen Hintergrund abzielen, nicht zum gewünschten Erfolg führen können. Patienten sprechen über ihre Symptome, Ärzte über Diagnosen, damit sind Missverständnissen Tür und Tor geöffnet. Untersuchungen belegen, dass bei 20-50 % aller Schwindelerkrankungen psychische Störungen einen Einfluss auf den Verlauf haben [2]. In einer Studie von Yardley und Mitarbeitern konnte gezeigt werden, dass dysfunktionale Kognitionen über die Konsequenzen des Schwindels einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben. Mediiert wird dies durch körperliches Schonverhalten, wodurch zentrale Adaptationsmechanismen, die durch entsprechendes Training in Gang gesetzt werden, nicht ermöglicht werden [15]. Es entsteht ein Circulus vitiosus aus Symptomen - dysfunktionalen Kognitionen - Ängsten - Schonverhalten und damit Konservierung der Symptomatik. Derartige Teufelskreise sind auch an der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angsterkrankungen wie Panikstörung oder Acrophobie bekannt, eine Durchbrechung dieser Zirkel führt zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik. Verhaltensmedizinische Ansätze, die medizinische und psychologische Faktoren als prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren berücksichtigen, können die Brückenfunktion zwischen „Organ” und „Psyche” bilden. Sie führen zu einem besseren Verständnis der Patienten und ihres subjektiven Leidens und bieten integrative Ansätze in Diagnostik und Therapie. Auch die Belastung der Gesundheitsbudgets soll in diesem Kontext erwähnt werden: in den USA bedingen Schwindelzustände jährlich acht Millionen Arztbesuche und in einer Untersuchung von Kroenke und Mitarbeitern wird festgestellt, dass eine organische Durchuntersuchung beim Leitsymptom Schwindel durchschnittlich 2532 $ kostet, wobei in dieser Studie nur 10 % der Patienten eine definitive organische Diagnose erhielten. Es ist daher auch unter diesem Blickwinkel sinnvoll, „psychogene” Aspekte nicht nur als Ausschlussdiagnose zu sehen, sondern von Anfang an mitzuberücksichtigen, um unnötige und redundante Untersuchungen einzusparen (zit. nach [10]).

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Komorbide Störungen

Als Folge der Schwindelsymptomatik kann es zum Auftreten von Ängsten vor deren Wiederauftreten kommen, sodass sich als komorbide Störung eine sekundäre Angsterkrankung oder, aufgrund der Einschränkung der Lebensqualität, eine depressive Störung entwickeln. Diese psychischen Störungen können wiederum mit einer Schwindelsymptomatik einhergehen. Nur eine genaue Differentialdiagnostik, die durch ein sorgfältig geführtes Anamnesegespräch eingeleitet werden soll, kann eine ganzheitliche Behandlung des organischen Kerns und der psychischen Erkrankung gewährleisten.

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Angststörungen und Hypochondrie

Angststörungen sind charakterisiert durch dysfunktionale Kognitionen, Angstgefühle im engeren Sinne, vegetative Symptome wie Schwitzen, Zittern und Herzklopfen sowie typische Verhaltensweisen wie Erstarren, Flucht oder Vermeidung, verbunden mit subjektivem Leidensdruck und einer Einschränkung der Lebensqualität. Werden bestimmte Orte oder Situationen vermieden, um dem gefürchteten Stimulus nicht ausgesetzt zu sein, spricht man von einer Phobie. Als typische Beispiele seien die Angst vor engen Räumen (Claustrophobie), Angst vor Höhen (Acrophobie) und die Angst vor Blut genannt (Blut-, Spritzen und Verletzungsphobie). Angstreaktionen können grundsätzlich mit Schwindel verbunden sein, in diesem Abschnitt wird insbesondere auf jene Angststörungen näher eingegangen, zu deren Aufrechterhaltung Schwindelsymptome beitragen können.

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Panikstörung ohne/mit Agoraphobie

Panikattacken sind plötzliche, aus heiterem Himmel auftretende Angstanfälle, bei denen die Betroffenen das Gefühl haben zu sterben, zu kollabieren oder verrückt zu werden bzw. die Kontrolle zu verlieren. Treten diese Attacken mehrmals innerhalb eines Monats auf oder bleibt die Angst vor einer neuerlichen Attacke bestehen, spricht man von einer Panikstörung. Entwickeln die Betroffenen zusätzlich ein Vermeidungsverhalten in Bezug auf bestimmte Orte oder Situationen, in denen eine Attacke auftreten könnte, liegt eine Panikstörung mit Agoraphobie vor. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 3,5 %, wobei die Mehrzahl der Betroffenen keine Agoraphobie entwickelt. Der Panikstörung liegt die Tendenz, Körpersymptome katastrophisierend zu interpretieren, zugrunde. So wird beispielsweise Herzklopfen nach einer Belastung nicht auf diese zurückgeführt, sondern als Zeichen eines drohenden Herzinfarktes interpretiert. Die Folge ist ein Anstieg des Erregungsniveaus, welches im Sinne eines Teufelskreises wiederum eine Steigerung der Herzfrequenz bewirken kann. Weitere Symptome wie Schwitzen, Atemnot oder Schwindel kommen hinzu, sodass plötzlich Symptome, die einem typischen Herzinfarkt ähneln können, entstehen. Die Folge sind Arztbesuche, Untersuchungen und Rückversicherungsverhalten. Panikattacken bei Panikstörungen sind häufig mit Schwindelsymptomen verbunden. So fanden Langs und Mitarbeiter bei mehr als 60 % der Patienten mit einer unkomplizierten Panikstörung Schwindel als Symptom eines Angstanfalles, bei Patienten, die zusätzlich eine Agoraphobie entwickelt hatten, bei mehr als 80 %. [8] Aufgrund dieses hohen Prozentsatzes, der auch in anderen Studien gefunden wurde, schlugen Frommberger und Mitarbeiter einen „vestibulären Subtyp” vor [3]. In einer verhaltenstherapeutisch orientierten Studie an 389 Patienten konnte die therapeutische Relevanz dieses Subtyps allerdings nicht bestätigt werden [5].

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Zusammenhang von vestibulärer Dysfunktion und Panikstörung

Es existieren mehrere Studien zu dieser Fragestellung (10), zwei davon sollen hier vorgestellt werden, da eine Kontrollgruppe miteinbezogen wurde. Aust stellte in seiner Untersuchung 53 Schwindelpatienten ohne komorbide Angststörung einem Kollektiv von 53 Patienten mit einer Panikstörung gegenüber. Dabei fand er in seiner Schwindelgruppe häufiger pathologische Befunde im peripher- oder zentral-vestibulären Bereich [1]. Jacob und Mitarbeiter untersuchten in ihrer Studie u.a. Patienten mit einer unkomplizierten Panikstörung, einer Panikstörung mit Agoraphobie sowie gesunde Kontrollpersonen auf das Vorliegen einer kompensierten vestibulären Dysfunktion. Während sich der Prozentsatz an pathologischen Befunden bei den Panikpatienten und der gesunden Kontrollgruppe statistisch nicht signifikant unterschied, lag er bei der Gruppe der Patienten mit einer Panikstörung mit Agoraphobie statistisch signifikant höher, bei über 90 % [7]. Wie lassen sich diese Ergebnisse interpretieren? Zum einen kann festgestellt werden, dass die Entwicklung einer Panikstörung unabhängig vom Vorliegen einer vestibulären Dysfunktion erfolgt - dies zeigt sich sowohl in den Daten von Aust als auch in jenen von Jacob. Pathologische Befunde im peripher- oder zentral-vestibulären Bereich waren bei Schwindelpatienten ohne Angststörung höher als bei Panikpatienten, kein Unterschied zeigte sich zu einer gesunden Kontrollstichprobe. Dies bestätigt das Rationale der Panikstörung, dass das zentrale Element die katastrophisierende Interpretation einer subjektiven Symptomatik ist, unabhängig davon, ob ein organisches Korrelat vorliegt oder nicht. Der hohe Prozentsatz vestibulärer Auffälligkeiten in der agoraphoben Gruppe ist unter diesem Aspekt schwieriger zu erklären - zumindest in der vorliegenden Studie scheinen sie an der Entwicklung des Vermeidungsverhaltens maßgeblich beteiligt zu sein. Eine mögliche Interpretation könnte sein, dass die agoraphoben Patienten, bedingt durch die vestibulären Dysfunktionen und den daraus resultierenden Schwindel, häufiger als die unkomplizierten Panikpatienten die Kognition „ich werde verrückt, ich verliere die Kontrolle” hatten. Diese ist wiederum an eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine Agoraphobie zu entwickeln, gekoppelt (8). Die Interpretation ist allerdings rein spekulativ, da Jacob in seiner Publikation die katastrophisierenden Interpretationen der Patienten nicht explizit erwähnt.

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Acrophobie

Höhenangst ist den Spezifischen Phobien zuzuordnen, die mit 10 % Lebenszeitprävalenz zu den häufigsten Angststörungen in der Allgemeinbevölkerung zählen. Pathologischen Wert erlangt sie jedoch erst, wenn sie zu einer Einschränkung der Lebensqualität führt, beispielsweise berufsbedingt. Welches Erklärungsmodell bietet sich an? Beim Blick aus großen Höhen zeigen auch gesunde Personen Symptome von Schwindel und Schwankungen des Körpers, wenn keine Objekte in der Nähe sind, an denen sich das visuelle System orientieren kann, es kommt also zu einem Mismatch der Informationen in den Zentren des ZNS [4]. Üblicherweise kommt es nach einer kurzen Phase von „Schwindel” zu einer Adaptation und die Symptomatik sistiert. Bei ängstlicher Disposition kann es nun zu einer Angstreaktion mit Aufschaukelung im Sinne eines Teufelskreises kommen. Das Gefühl der Unsicherheit bleibt bestehen und die Betroffenen verlassen die Situation. Damit wird die Angst konserviert, da keine Adaptation stattfinden konnte, gleichzeitig kann aus dieser ersten angstbesetzten Situation durch klassische und operante Konditionierung (Zwei-Phasen-Modell nach Mowrer) eine Acrophobie entstehen. Beim erneuten Aufsuchen der Situation wird es bereits bei der Annäherung zu Angstgefühlen mit „Schwindel” kommen, was von den Patienten als Bestätigung für die Gefährlichkeit eingestuft wird.

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Hypochondrie

Im Zentrum dieser Störung steht die Angst vor einer schweren Erkrankung, man spricht daher auch von gesundheitsbezogenen Befürchtungen. Die Angst tritt bei der Hypochondrie nicht anfallsartig auf und bezieht sich nicht auf eine plötzlich auftretende Katastrophe wie einen Herzinfarkt, sondern auf langsames Sterben und Siechtum. Krebserkrankungen, Hirntumore und andere schleichende Erkrankungen werden von den Betroffenen meist benannt. Schwindel wird von den Patienten als Hinweis beispielsweise auf einen Hirntumor gewertet. Im Sinne der somatosensorischen Amplifikation kann es auch hier zu einem Aufschaukelungsprozess kommen, der wiederum jene Symptome induziert, die gefürchtet werden - dies wird von den Patienten als Bestätigung ihrer Befürchtungen gewertet. Um die Angst zu reduzieren, suchen sie häufig Ärzte auf („Doctor shopping”), fordern Untersuchungen ein und führen auch Selbstuntersuchungen durch („Checking-behavior”). Patienten mit Gesundheitsängsten werden ebenso wie jene mit einer Somatisierungsstörung zu den „High-Utilizers” des Gesundheitssystems gezählt.

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Somatisierungsstörung und Undifferenzierte Somatisierungsstörung

Körpersymptome und die daraus resultierende Beeinträchtigung der Lebensqualität stehen im Vordergrund der Somatisierungsstörung. Die Diagnose einer Somatisierungsstörung kann gestellt werden, wenn „das Ausmaß der Beschwerden nicht ausreichend durch ein organisches Korrelat erklärbar ist”. Nochmals soll betont werden, dass durchaus ein objektivierbarer organischer Kern für die berichteten Symptome vorhanden sein kann, die subjektiven Beschwerden aber daraus alleine nicht erklärbar sind.

Im Gegensatz zur Hypochondrie berichten diese Patienten nicht über Ängste, sondern über das aus den Symptomen resultierende subjektive Leiden. Auch sie suchen häufig Ärzte auf, da sie wissen möchten, welche Ursachen die Beschwerden haben. Als Folge der Beschwerden entwickeln sie ein ausgeprägtes Schonverhalten, welches die Symptomatik wiederum aufrechterhält. Schwindel ist ein häufig vorgetragenes Symptom, bei genauer Anamneseerhebung finden sich jedoch in der Vorgeschichte auch andere Symptome, mit welchen die Patienten in ähnlicher Weise umgegangen sind. Man kann bei der Somatisierungsstörung daher von einem auffälligen Krankheitsverhalten ausgehen. Die Behandlung soll sich auch in erster Linie daran orientieren, da ansonsten nach Abklingen der aktuellen Beschwerden die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines neuen Symptoms wahrscheinlich ist.

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Verhaltensmedizinischer Ansatz

Ziel des verhaltensmedizinischen Ansatzes ist es, mit den Patienten ein holistisches integratives Erklärungsmodell für die Schwindelsymptomatik zu erarbeiten. Dabei werden medizinische und psychologische Faktoren berücksichtigt. Die Therapie orientiert sich am individuellen Störungsmodell, von dem das therapeutische Rationale abgeleitet wird, in der Folge werden spezifische Interventionen wie Expositionen oder Symptomprovokation durchgeführt.

Die Schwierigkeit für den Allgemeinmediziner oder Facharzt besteht meist darin, die Betroffenen mit der Tatsache vertraut zu machen, dass die Beschwerden nicht „rein organisch” bedingt sind, die Patienten fühlen sich allzu leicht in die „Psychoecke” abgeschoben und nicht ernst genommen. Folgen sind ein Arztwechsel und „Mehr vom Selben” (Untersuchungen, Arztbesuche, Konservierung der Symptomatik). Wo kann man die Patienten aber abholen? Praktisch hat es sich bewährt, wenn alle notwendigen Untersuchungen von einem Arzt koordiniert werden und nach Abschluss derselben die Befunde und deren Zusammenfassung mit dem Patienten besprochen werden. Besonders wichtig ist nun, dass Ärzte klar bleiben und Doppelbotschaften („Sie haben nichts, aber...nehmen sie dieses Medikament”) vermeiden. Diese führen zur Verunsicherung der Patienten und zur Fortführung des Krankheitsverhaltens. Die Überweisung zum Psychiater oder ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten sollte unter der Prämisse erfolgen, dass der Patient weiterhin regelmäßig zum Organmediziner kommen kann, da er sich sonst abgeschoben fühlt. Wir empfehlen in diesem Zusammenhang zeitkontingente (im Gegensatz zu symptomkontingenten) Arztbesuchen, d.h. der Patient erhält fixe Termine. Eine Erklärung, welche von Betroffenen erfahrungsgemäss leichter akzeptiert wird als die einer „psychischen” Beteiligung, ist die einer „stressinduzierten Symptomatik”. Der Psychiater oder Psychotherapeut darf nun auch nicht den Fehler machen und die Organizität völlig ausklammern, da der Patient sich wiederum unverstanden fühlen wird. So empfehlen wir bei skeptischen Patienten, dass für einen bestimmten beim Erstkontakt vereinbarten Zeitraum (z.B. fünf Therapiestunden) die Möglichkeit einer nicht rein organischen Ursache des Schwindels erörtert wird, danach kann über eine Weiterführung der Therapie sowohl von Therapeuten - als auch von Patientenseite entschieden werden. Damit wird der Patient einerseits mitverantwortlich, neue Ansätze zu erarbeiten, gleichzeitig fühlt er sich nicht unter Druck gesetzt, unter allen Umständen eine Psychotherapie ad infinitum machen zu müssen, was lediglich Widerstand und Opposition auslöst. Empfehlenswert und von Vorteil ist selbstverständlich auch eine enge Zusammenarbeit der beiden Berufsgruppen, damit Unklarheiten möglichst schnell geklärt werden können (z.B. beim Auftreten neuer Symptome oder einer Verstärkung der Symptomatik).

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Abb. 1

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Abb. 2

Tab. 1 Klassifikation des Schwindels

Ätiologie und Pathogenese

Lokalisation

Beschreibung

Organischer Schwindel:

Zentraler Schwindel

Drehschwindel

entzündlich

Vestibulärer Schwindel

Schwankschwindel

Hydrops

Vestibulärer Schwindel

Drehschwindel

Durchblutungsstörungen

Schwindel durch Störungen im visuellen System

Liftschwindel

traumatisch bedingt

Gefühl der Unsicherheit

Tumor

Schwindel durch Erkrankungen des senso(moto)rischen Systems

Gangunsicherheit

toxisch bedingt

Psychogener Schwindel:

angstinduziert

somatoform

Tab. 2 Differentialdiagnostik vestibulärer oder psychogener Schwindel

 

Vestibulärer Schwindel

Psychogener Schwindel

Fixieren eines Gegenstandes

nicht möglich

möglich

Heftiges Auftreten

nicht möglich

möglich

Vertraute Menschen

ohne direkten Einfluss

Besserung möglich

Nystagmus

vorhanden

nicht vorhanden

Beschreibung des Schwindels

Drehschwindel

„diffuse” Beschreibung

Audiogramm

Tieftonverluste

o.p.B.

Nach Schaaf 1998

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Literatur

  • 1 Aust G. Das Angstsyndrom beim Schwindelpatienten. Ein Vergleich neurootologischer Patienten mit und ohne Angst.  Larngo-Rhino-Otol. 1995;  74 601-605
  • 2 Eckhardt-Henn A, Breuer P, Thomalske C. et al. . Anxiety disorders and other psychiatric subgroups in patients complaining of dizziness.  J Anxiety Disord. 2003;  17 369-388
  • 3 Frommberger U, Hurth-Schmidt S, Dieringer H. et al. . Panikstörung und Schwindel.  Nervenarzt. 1993;  64 377-383
  • 4 Furman J, Jacob RG. A clinical taxonomy of dizziness and anxiety in the otoneurological setting.  J Anxiety Disord. 2001;  15 9-26
  • 5 Heinrichs N, Hahlweg K, Moschner C. et al. . Der Einfluss von psychologischer Psychotherapie auf beängstigenden Schwindel bei Panikstörung mit Agoraphobie.  Verhaltenstherapie. 2003;  13 244-252
  • 6 Huppert D, Brandt Th, Dieterich M, Strupp M. Phobischer Schwankschwindel.  Nervenarzt. 1994;  65 421-423
  • 7 Jacob R, Furman JM, Durrant JD. et al. . Panic, Agoraphobia, and Vestibular Dysfunction.  J Am Psychiatry. 1996;  153 503-512
  • 8 Langs G, Quehenberger F, Fabisch K. et al. . The development of agoraphobia in panic disorder: a predictable process?.  J Affect Disord. 2000;  58 43-50
  • 9 Schaaf H. Morbus Meniere. Ein psychosomatisch orientierter Leitfaden. Berlin, Springer 1998
  • 10 Simon NM, Pollack MH, Tuby KS. et al. . Dizziness and Panic Disorder: A Review of the Association Between Vestibular Dysfunction and Anxiety.  Ann Clin Psychiatry. 1998;  10 75-80
  • 11 Staab JP. Diagnosis and treatment of psychologic symptoms and psychiatric disorders in patients with dizziness and imbalance.  Otolaryngol Clin North Am. 1998;  33 617-635
  • 12 Strupp M, Jahn K. Schwindelsymptome in der Praxis.  DNP. 2001;  3 31-34
  • 13 Thömke F. Aktuelle Aspekte häufiger Schwindelsyndrome.  Psychoneuro. 2003;  29 567-572
  • 14 Yardley L, Beech S, Weinman J. Influence of beliefs about the consequences of dizziness on handicap in people with dizziness, and the effect of therapy on the beliefs.  J Psychosom Res. 2001;  50 1-6
  • 15 Yardley L, Owen N, Nazareth I, Luxon L. Prevalence and presentation of dizziness in a general practice community sample of working age people.  Brit J Gen Pract. 1998;  48 1131-1135
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Korrespondenzadresse:

Univ.-Doz. Dr. G. Langs

Medizinisch-Psychosomatische, Klinik Bad Bramstedt

Birkenweg 10

24576 Bad Bramstedt

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Literatur

  • 1 Aust G. Das Angstsyndrom beim Schwindelpatienten. Ein Vergleich neurootologischer Patienten mit und ohne Angst.  Larngo-Rhino-Otol. 1995;  74 601-605
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  • 15 Yardley L, Owen N, Nazareth I, Luxon L. Prevalence and presentation of dizziness in a general practice community sample of working age people.  Brit J Gen Pract. 1998;  48 1131-1135
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Korrespondenzadresse:

Univ.-Doz. Dr. G. Langs

Medizinisch-Psychosomatische, Klinik Bad Bramstedt

Birkenweg 10

24576 Bad Bramstedt

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