psychoneuro 2004; 30(5): 263-269
DOI: 10.1055/s-2004-828644
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Pharmakotherapie komorbider Störungen: Tics, Zwänge, ADHS, affektive Störungen

Frank Beer1 , Dieter Schlamp1 , Franz Joseph Freisleder1
  • 1Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, München
Further Information
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Korrespondenzadresse:

Dr. med. Frank Beer

Oberarzt der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Deisenhofener Str. 28

81539 München

Email: dieter.schlamp@heckscher-klinik.de

Publication History

Publication Date:
09 June 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Bei der Pharmakotherapie komorbider Störungen wird i.d.R. die im Vordergrund stehende Störung zunächst isoliert behandelt. Eine Monotherapie ist zu bevorzugen, bei Kombinationsbehandlungen sind mögliche Interaktionen zu berücksichtigen. Unter Ausnutzung zugrundeliegender neurobiologischer Mechanismen kann z.T. die Symptomatik beider Störungen durch die Gabe einer Substanz gebessert werden. Dies gilt z.B. für Antidepressiva mit noradrenerger Wirkkomponente (Moclobemid, Atomoxetin, Reboxetin) bei ADHS und depressiven Störungen. Bei Ticstörungen und komorbider hyperkinetischer Störung können durch Neuroleptika (z.B. Risperidon) günstige Effekte auf die Ticsymptomatik, Impulsivität und Hyperaktivität erwartet werden, während sich Aufmerksamkeitsdefizite unter Umständen verschlechtern. Stimulanzien können zu einer Exazerbation einer Ticsymptomatik führen, weshalb bei hyperkinetischen Störungen und komorbider Ticstörung Zurückhaltung bei der Gabe von Stimulanzien geboten ist, jedoch keine Kontraindikation besteht.

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Summary

The clinical predominant disorder in comorbidity is usually treated first. If possible, therapy with a single substance is preferred. In combination drug therapy interactions should be regarded. Considering neurobiological principles both disorders might be alleviated by a single substance, e.g. ADHD and depression by noradrenergic antidepressants (moclobemide, atomoxetine, reboxetine). In comorbid Tic-disorder and ADHD antipsychotics (e.g. risperidone) usually have positive effects on tic-symptoms, disruptive behavior and hyperactivity, while attention deficits might deteriorate. Stimulants might cause an exacerbation of tic symptoms. Therefore precaution is necessary, however there is no contraindication.

Während hinsichtlich neurobiologischer Grundlagen und der medikamentösen Behandlung isolierter psychiatrischer Störungsbilder auf relativ breites Wissen zurückgegriffen werden kann, findet der Aspekt des gemeinsamen Auftretens verschiedener psychiatrischer Erkrankungen (Komorbidität) erst in den letzten Jahren zunehmende Beachtung. Im klinischen Alltag stellt die Pharmakotherapie komorbider Störungen ein häufiges praktisches Problem dar. Im Folgenden soll eine praxisbezogene Übersicht zur medikamentösen Behandlung relevanter komorbider Störungsbilder aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, vor dem Hintergrund neurobiologischer Grundlagen, verfügbarer Literatur und eigener klinischer Erfahrung gegeben werden.

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Epidemiologie

Erste systematische quantitative Erhebungen zur Komorbidität im Fachbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie stammen aus der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, seither steigt die Zahl der Publikationen sprunghaft an [1]. Die Betonung des Komorbiditätsprinzip mit Einführung der ICD-10 bzw. DSM-IV spielt möglicherweise eine Rolle. Zu beachten ist der zeitliche Verlauf des Auftretens (simultan vs. sukzessiv), der oft nicht ausreichend differenziert wird.

Die Angaben zur Prävalenz komorbider Störungen unterliegen einer hohen Streubreite. Für das gemeinsame Auftreten von ADHS mit affektiven Störungen wird eine Häufigkeit von 15-75 % angegeben [18], eines Tourette-Syndroms mit ADHS 25-85 % [6], von Zwangsstörungen mit ADHS 6-33 % [5], von Zwangsstörungen und Tourette-Syndrom/ Ticstörungen 13-26 % [9]. Zumeist sind psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen in ihrer Ätiologie und Klinik heterogen. Aus diesem Grund werden höhere Komorbiditätsraten als im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie gefunden [1] [17]. Multimodale Behandlungskonzepte werden daher bei fast allen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters empfohlen.

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Klinik

Zur Klinik der Zwangs- und Ticstörungen dürfen wir auf die Beiträge von Mehler-Wex und Kratz in diesem Heft verweisen. Hyperkinetische Störungen (ADHS) sind durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet. Die Symptomatik muss situationsübergreifend auftreten und im Vorschulalter beginnen. Eine Persistenz der Störung im Erwachsenenalter wird heute in einem bis zwei Drittel der Fälle angenommen [12].

Affektive bzw. emotionale Störungen bei Kindern und Jugendlichen umfassen i.W. depressive Störungen, Angststörungen, Phobien und im weiteren Sinne auch Zwangsstörungen. Depressionen werden in ihrer Häufigkeit oft unterschätzt. Nach einer neueren Metaanalyse der Literatur werden Prävalenzraten bei Kindern zwischen 0,4 % und 2,5 %, für Jugendliche zwischen 0,4 % und 8,3 % angegeben. Für die Dysthymie liegen die entsprechenden Zahlen bei 0,6 % bis 1,7 % für Kinder und 1,5 % bis 8 % für Jugendliche [3] [4]. Vor der Pubertät erkranken Jungen häufiger, nach der Pubertät überwiegt das weibliche Geschlecht [11]. Zu unterscheiden ist eine primäre affektive Störung von sekundären Belastungs- und Anpassungsstörungen. Komorbidität, insbesondere mit Angststörungen, ist häufig. Typische Merkmale emotionaler Störungen sind Ängstlichkeit, Verstimmtheit, sozialer Rückzug, Empfindsamkeit oder Beziehungsstörungen. Im Gegensatz zum Jugendalter, in dem sich die Symptomatik der des Erwachsenenalters angleicht, sind die klinischen Erscheinungsmuster bei Kindern oft weniger spezifisch. Eine genaue fachärztliche Diagnostik ist daher wesentlich.

Im Unterschied zu Europa werden im US-amerikanischen Raum häufiger manische und bipolare affektive Störungen im Kindesalter diagnostiziert und spezifisch pharmakologisch behandelt. Möglicherweise findet das Krankheitsbild bipolarer affektiver Störungen im Kindesalter im europäischen Raum noch zu wenig Beachtung.

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Neurobiologie einiger dopaminerger bzw. serotonerger Störungen

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Zwänge/Tics

Eine genetische Vulnerabilität wird bei beiden Störungen angenommen. Bei der Zwangserkrankung umfassen die neurobiologischen Störungen, im Unterschied zur Ticstörung, auch Frontalhirn-sensitve exekutive Funktionen. Im Wesentlichen wird eine Dysfunktion des orbitofrontal-subkortikalen Schaltkreises i.S. einer neuronalen Überaktivität im kognitiv-emotionalen Regulationssystem angenommen. Resultierend aus einer verringerten Hemmung des Thalamus durch den Globus pallidus wird eine verstärkte thalamokortikale Erregung postuliert. Neben weiteren Neurotransmittern wird einem serotonergen/dopaminergen Ungleichgewicht mit verminderter Serotoninaktivität eine besondere Rolle zugeschrieben, wofür insbesondere die Symptomsuppression durch serotonerg wirksame Antidepressiva spricht [13]. Eine besondere Rolle des Dopamins bei einer Subgruppe mit Tics oder schizotypischen Persönlichkeitsmerkmalen wird diskutiert.

Bei den Ticstörungen wird eine Dysfunktion im sensomotorischen System i.S. einer mangelhaften motorischen Hemmung in den Basalganglien vermutet. Möglicherweise liegt dabei eine Überempfindlichkeit von Dopaminrezeptoren oder ein Überschuss Dopamin vor, wofür auch das Ansprechen der Symptomatik auf Neuroleptika spricht [13].

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Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

Der ADHS liegt zumeist eine genetische Komponente zugrunde. Neben diesen vorwiegend konstitutionellen Formen gibt es eine wesentlich geringere Anzahl symptomatischer hyperkinetischer Störungen als Folge von Frontalhirnaffektionen oder anderer hirnorganischer Beeinträchtigungen. Letztere sprechen häufig schlechter auf Psychopharmaka an. Die ADHS basiert auf einer Störung sogenannter exekutiver Funktionen als Folge einer Dysfunktion neuronaler Netzwerke fronto-kortiko-striataler Regelsysteme. In neurophysiologischen Studien konnte ein zentralnervöses Underarousal und Inhibitonsdefizit v.a. im kognitiven und motorischen Regelsystem aufgezeigt werden. Neuroanatomisch finden sich umschriebene Volumenverminderungen, was für eine Abweichung in der Neurogenese spricht [14]. Auf der Neurotransmitterebene kann eine verminderte Aktivität dopaminerger und noradrenerger frontostriataler Regelkreise angenommen werden. Diskutiert werden eine Dysfunktion striataler postsynaptischer D4-Rezeptoren und präsynaptischer Dopamintransporter (DAT). SPECT-Untersuchungen konnten eine um etwa 70 % erhöhte Dichte präsynaptischer striataler DAT bei erwachsenen ADHS-Patienten nachweisen. Noradrenalin spielt eine zentrale Rolle in der Modulation visueller, auditiver, somatosensorischer und motorischer Funktionen. Kognitive noradrenerge Funktionen wie Aufmerksamkeit und Vigilanz werden wahrscheinlich über a2A-adrenerge Rezeptoren im Kortex entfaltet [2] [12] [14]. Für eine Beteiligung des noradrenergen Systems an der Pathophysiologie der ADHS sprechen die positiven Effekte noradrenerg wirksamer Antidepressiva auf die Symptomatik, wie auch die aktuelle Einführung der (in Deutschland noch nicht zugelassenen) noradrenergen Substanz Atomoxetin in die ADHS-Behandlung zeigt. Stimulanzien entfalten ihre Wirksamkeit wahrscheinlich über eine Erhöhung der Verfügbarkeit biogener Amine im synaptischen Spalt. Diskutiert wird eine DAT-Blockade für Methylphenidat. Amphetamin wirkt wahrscheinlich weniger spezifisch und entfaltet zusätzlich direkt dopaminerge und noradrenerge Effekte.

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Affektive Störungen

Trotz intensiver Forschung gibt es bislang kein überzeugendes biologisches Erklärungsmodell der Depression. Eine multifaktorielle genetisch bedingte Vulnerabilität ist gesichert. Hervorzuheben ist die pathogenetische Heterogenität. Auf Dysfunktionen des serotonergen und noradrenergen Systems i.S. einer Minderaktivität beruht die Wirksamkeit von Antidepressiva. In beiden Fällen handelt es sich um neuromodulatorische Systeme umschriebener Kerngruppen mit vergleichsweise kleiner Zahl von Neuronen, die jedoch einen hohen Verzweigungsgrad aufweisen. Demnach ist von einem eher unspezifischen Wirkmechanismus herkömmlicher Antidepressiva auszugehen. Einige Untersuchungen sprechen für eine Beteiligung des mesokortiko-limbischen dopaminergen Systems, insbesondere hinsichtlich Teilaspekten wie Anhedonie und psychomotorischer Hemmung.

Auch eine Rolle des cholinergen Systems wird diskutiert. Spezielles Interesse gilt neuroendokrinologischen Aspekten und intrazellulären Signaltransduktionskaskaden. Die antidepressive Wirksamkeit von CRH- und Substanz-P-Rezeptorantagonisten wird in klinischen Studien getestet. Inwieweit bei Kindern und Jugendlichen spezielle Pathomechanismen zugrunde liegen, ist unklar. Die bei Erwachsenen gut belegte Wirksamkeit von Antidepressiva ist in dieser Altersgruppe nur z.T. wissenschaftlich belegt [11].

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Pharmakotherapie

Die Auswirkungen von Psychopharmaka auf Reifungsprozesse des kindlichen Gehirns sind noch unzureichend erforscht. Zudem sind pharmakokinetische Kenngrößen häufig nicht aus dem Erwachsenenalter übertragbar, so dass in dieser Altersgruppe mit unvorhergesehenen Neben- und Wechselwirkungen gerechnet werden muss. Im Vorschulalter ist daher große Zurückhaltung, generell bei Kindern und Jugendlichen eine sorgfältige Indikationsstellung geboten. Dennoch spielt die medikamentöse Behandlung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter eine wichtige Rolle. Zahlreiche Substanzen besitzen in Deutschland keine Zulassung für Minderjährige und/oder spezielle Indikationsbereiche („Off-Label-Use”). Sie können aber nach der gegenwärtigen deutschen Rechtslage im Rahmen eines sog. individuellen Heilversuchs, unter Berücksichtigung besonderer Vorgaben, mit Einverständnis der Sorgeberechtigten vom Arzt verordnet werden. In letzter Zeit gab es Warnhinweise zur möglichen Provokation suizidaler Impulse bei der Anwendung von SSRI und Venlafaxin im Kindes- und Jugendalter. Der Einsatz dieser Substanzen bedarf daher einer gründlicheren Abwägung als bisher und einer ausdrücklichen Information der Betroffenen und ihrer Eltern. Unter diesen Bedingungen ist eine Verschreibung bei entsprechender Indikation aktuell auch weiterhin gerechtfertigt [7]. Für die Behandlung komorbider Störungen gelten einige grundsätzliche Überlegungen. Sinnvollerweise sollten bekannte neurobiologische Mechanismen ausgenutzt werden um die Symptomatik, wenn möglich beider Störungen, zu verbessern. Zumindest sollte die komorbide Erkrankung aber nicht verschlechtert werden. Wichtig ist, zu entscheiden, welche Störung den Patienten wie stark beeinträchtigt und vorzugsweise zu behandeln ist. Oft genügt es, diese Störung dann isoliert zu therapieren. Falls ausreichend, ist eine Monotherapie zu bevorzugen. Zum Teil sind aber auch Kombinationsbehandlungen, unter Berücksichtigung möglicher Interaktionen, angezeigt.

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ADHS/Tic-Störung

Mittel der Wahl zur Behandlung einer isolierten ADHS sind Stimulanzien, deren Wirksamkeit und Verträglichkeit in kontrollierten Studien gut belegt sind. Bei gleichzeitigem Vorliegen beider Störungsbilder ist wegen einer möglichen Exazerbation der Ticsymptomatik Zurückhaltung bei deren Anwendung geboten. In der Literatur werden aber vereinzelt auch günstige Effekte mit Stimulanzien auf die Ticsymptomatik beschrieben [6] [8]. Prädiktive Kriterien, wann mit einer Exazerbation der Ticstörung zu rechnen ist, gibt es jedoch nicht. Aus unserer Sicht ist bei einer komorbiden, nicht zu ausgeprägten Ticstörung, nach Aufklärung der Sorgeberechtigten und soweit möglich des Kindes, ein Behandlungsversuch mit Stimulanzien gerechtfertigt. Gegebenenfalls kann eine Kombinationsbehandlung mit einem Neuroleptikum, z.B. Tiaprid, erfolgen. Alternativ zu Stimulanzien können Antidepressiva mit noradrenerger Wirkkomponente wie Atomoxetin, Reboxetin oder Moclobemid hilfreich sein. Eine Exazerbation der Ticstörung ist dabei weniger wahrscheinlich.

Steht die Ticstörung im Vordergrund, sollte deren Behandlung nach den üblichen Richtlinien erfolgen. Mittel der ersten Wahl ist Tiaprid, welches sich als wirksam und gut verträglich erwiesen hat, was jedoch nicht durch methodisch adäquate Studien belegt ist. Mittel der zweiten Wahl sind Risperidon oder eventuell Olanzapin, die wegen geringerer Nebenwirkungsraten gegenüber Pimozid und Haloperidol den Vorzug erhalten sollten. Der Effekt von Risperidon ist durch Studien, u.a. einer Doppelblindstudie gegen Pimozid, gut belegt [15]. Clonidin stellt als zentraler a2-Rezeptoragonist ein Reservemedikament dar. Bei gleichzeitig vorliegenden Störungen des Sozialverhaltens und der Impulskontrolle kann aggressives Verhalten durch Neuroleptika günstig beeinflusst werden. Dies ist am besten für Risperidon belegt. Obwohl keine evidenzbasierten Daten vorliegen, werden niederpotente Neuroleptika wie Pipamperon oder Melperon in der klinischen Praxis häufig zur Behandlung von Aggressionen, Impulskontrollstörungen und Unruhe bei hyperaktiven Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Aufmerksamkeitsdefizite können durch Neuroleptika unter Umständen verstärkt werden. In der amerikanischen Literatur werden bei Komorbidität ADHS/Tics Clonidin, Guanfacin, Imipramin und Desipramin empfohlen [6]. Zentrale a2-Agonisten spielen hierzulande in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mangels überzeugender Daten bei hoher Nebenwirkungsrate keine wesentliche Rolle [10]. Clonidin wurde von uns nur selten eingesetzt. Imipramin ist bei Kindern gut untersucht und verträglich, die Wirksamkeit bei Ticstörungen aber nicht eindeutig belegt. Die Anwendung von Desipramin erscheint uns wegen vereinzelt berichteter Todesfälle aufgrund kardialer Komplikationen im Kindes- und Jugendalter obsolet.

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Tic-Störung/Zwangsstörung

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) oder Clomipramin sind Mittel der Wahl bei der Behandlung der Zwangsstörung. Diese Empfehlung gilt trotz vereinzelter Hinweise, dass Zwangsstörungen bei komorbiden Ticstörungen schlechter auf SSRI ansprechen [9] [17]. Einzelfallberichte einer Exazerbation der Ticstörung unter bestimmten SSRI (z.B. Paroxetin) ändern ebenfalls nicht die bisherige Empfehlung [9] [16]. In der amerikanischen Literatur wird dem Clomipramin wegen seiner noradrenergen Wirkkomponente zumindest ein theoretischer Vorteil i.S. modulierender Effekte auf das dopaminerge System bei Ticstörungen zugedacht [9]. Erfordert eine schwerere Ticstörung eine zusätzliche Behandlung, kann die Kombination eines SSRI oder von Clomipramin mit einem Neuroleptikum angeraten werden. Zu Risperidon gibt es kontrollierte Untersuchungen hinsichtlich der Augmentationsbehandlung der Zwangsstörung, speziell bei komorbiden Tics und schizotyper Störung [20]. Aber auch andere Neuroleptika, z.B. Tiaprid, Olanzapin oder Pimozid kommen in Frage. Wegen möglicher Interaktionen über Cytochrom-P-450-Monooxygenasen wird eine Kombination mit Citalopram oder Sertralin empfohlen, die sich diesbezüglich weitgehend neutral verhalten. In der amerikanischen Literatur werden auch Kombinationen serotonerger Antidepressiva mit Clonidin oder Guanfacin empfohlen [9].

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ADHS/Zwangsstörung

Zunächst sollte die vorrangige Störung isoliert behandelt werden. Den vorliegenden Daten und eigenen Erfahrungen nach kann jeweils auf Substanzen der ersten Wahl zurückgegriffen werden, d.h. Stimulanzien zur Behandlung einer Hyperkinetischen Störung und SSRI zur Therapie der Zwangsstörung. Beide Substanzgruppen scheinen die jeweils komorbid vorliegende Störung nicht zu verschlechtern. Allerdings sind auch keine positiven Effekte durch SSRI auf eine ADHS oder durch Stimulanzien auf eine Zwangssymptomatik zu erwarten. Ob Clomipramin durch den noradrenerg aktiven Metaboliten Desmethylclomipramin günstige Eigenschaften hinsichtlich hyperkinetischer Symptome aufweist, ist bislang nicht belegt [9]. Gleiches gilt für Venlafaxin als Antidepressivum mit dualem Wirkmechanismus (selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, SSNRI). Erfordern beide Störungsbilder eine medikamentöse Behandlung, kann eine Kombination eines SSRI mit Stimulanzien erfolgen. Bisherige Untersuchungen und eigene Erfahrungen sprechen für eine gute Verträglichkeit. Bei zusätzlich behandlungsbedürftiger Ticstörung kann ein Neuroleptikum zugegeben werden. Mögliche Interaktionen sind dann zu berücksichtigen.

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ADHS/affektive Störungen

Bei gleichzeitig vorliegender depressiver und hyperkinetischer Störung bietet sich an, auf Antidepressiva mit noradrenergem Wirkmechanismus zurückzugreifen, die bislang bei ADHS als Mittel der zweiten Wahl eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Stimulanzien, die unmittelbar nach Einnahme ihre Wirkung entfalten, zeigen Antidepressiva, analog zu den affektiven Störungen, auch in ihrem Effekt auf die hyperkinetischen Kernsymptome eine Wirklatenz von etwa ein bis drei Wochen. Neben Imipramin ist Moclobemid hinsichtlich seiner Verträglichkeit bei Kindern- und Jugendlichen gut bewährt. Speziell zu Moclobemid, das ohne diätetische Einschränkung anwendbar ist, gibt es vielversprechende, allerdings nicht plazebokontrollierte Untersuchungen, zu seiner Wirksamkeit bei ADHS [19]. Von uns wird es mit überwiegend gutem Erfolg bei Kindern eingesetzt. Vor allem bei jüngeren Kindern (Grundschulalter) bietet sich die Substanz wegen ihrer guten Verträglichkeit an. Neben positiven Effekten auf die Stimmung ist meist eine Besserung der ADHS-Symptomatik festzustellen. Bei Jugendlichen mit ADHS und depressiver Störung bevorzugen wir Reboxetin oder Venlafaxin. Unter Venlafaxin konnten wir nur bei etwa der Hälfte der Patienten Besserungen der hyperkinetischen Symptomatik beobachten, möglicherweise, weil der noradrenerge Effekt erst bei höheren Dosierungen zum Tragen kommt (Warnhinweise des Herstellers von Venlafaxin zur möglichen Provokation suizidaler Impulse bei Kindern und Jugendlichen sind zu beachten). Mit Reboxetin konnten wir, bei bislang begrenzter Erfahrung, bei Jugendlichen recht gute Effekte auf die hyperkinetische Symptomatik erzielen. Zu möglichen Nebenwirkungen bei Kindern gibt es wenig Daten, wobei der verwandte Wirkstoff Atomoxetin offenbar gut verträglich ist. Erste Untersuchungen zu Buspiron bei Kindern mit ADHS sprechen für günstige Eigenschaften bei hyperkinetischen Kindern mit emotionalen Störungen [10]. Erweist sich eine Monotherapie mit einer der diskutierten Substanzen als nicht ausreichend, können Stimulanzien oder andere Antidepressiva eingesetzt werden, falls notwendig auch in Kombination. Psychische Nebenwirkungen unter Stimulanzien sind möglich. Vereinzelt werden, zumeist dosisabhängig, depressive Reaktionen und/oder Apathie beobachtet. Zur Pharmakotherapie von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter gibt es wenig gesicherte Daten. Eine plazebokontrollierte Studie bei einem gemischten Kollektiv (generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Trennungsangst) fand eine signifikante Wirksamkeit von Fluvoxamin, zur generalisierten Angststörung gibt es nur eine kleine Studie, in der Sertralin signifikant gegenüber Plazebo überlegen war, zur Panikstörung gibt es in dieser Altersgruppe nur offene Studien [15]. Bipolare oder manische Syndrome werden analog zu den Richtlinien im Erwachsenenbereich behandelt. Bei emotionalen Störungen des Kindesalters stehen i.d.R. psychotherapeutische Interventionen im Vordergrund.

Tab. 1 Neurobiologische Störungsmechanismen

Störungsbild

Neurotransmitterstörung

Lokalisation

ADHS

DA ↓, NA ↓

frontostriataler Regelkreis

Ticstörung

DA ↑

Basalganglien

Zwangsstörung

5HT/DA-Ungleichgewicht

orbitofrontal-subkortikaler Regelkreis

5HT ↓, (Modulation)

Depressive Störung

5HT ↓,NA ↓

?

ADHS=Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, DA=Dopamin, NA=Noradrenalin, 5HT=Serotonin

Tab. 2 Übersicht Pharmakotherapie

Komorbide Störungsbilder

Pharmakotherapie

ADHS / Tic-Störung

ADHS: Antidepressiva mit noradrenerger Wirk-komponente Stimulanzien unter Zurückhaltung (mögliche Exazerbation der Tic-Störung), ggf. Kombination mit Neuroleptika Tic-Störung: Neuroleptika

Tic-Störung / Zwangsstörung

jeweils isoliert: Neuroleptika bzw. SSRI, Clomipramin, ggf. Kombination

ADHS / Zwangsstörung

jeweils isoliert: Stimulanzien bzw. SSRI, Clomipramin, ggf. Kombination

ADHS / Depressive Störung

Antidepressiva mit noradrenerger Wirkkomponente

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Korrespondenzadresse:

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