Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(23): 1337
DOI: 10.1055/s-2004-826872
Pro & Contra

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ist die Fibromyalgie eine Krankheit? - Contra

Fibromyalgia - is it a disease? - contraI. Gralow1
  • 1Schmerzambulanz und -Tagesklinik der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin des Universitätsklinikums Münster
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Publication History

eingereicht: 7.1.2004

akzeptiert: 12.2.2004

Publication Date:
21 July 2004 (online)

Es besteht für die Fibromyalgie eine zunehmende Kontroverse, ob sie eine objektivierbare somatische Krankheitsentität oder ein iatrogen-artifizielles Syndrom für einen originär psychosomatischen Symptomenkomplex darstellt [3-5]. Die in früheren Jahren diskutierten infektassoziierten, autoimmunologischen, endokrinologischen oder peripher-nozizeptiven Hypothesen zur Pathophysiologie der Fibromyalgie ließen sich sämtlich nicht aufrechterhalten. Die bisher beschriebenen muskelphysiologischen Veränderungen erwiesen sich als unspezifisch oder als Epiphänomene langfristiger Inaktivität. Auch die in zahlreichen Studien aufgefundenen Veränderungen von Neurotransmittersubstanzen wie Substanz P sowie die diskutierten Interaktionen mit serotonergen, dopaminergen, GABAergen, acetylcholinergen Systemen sind ebenfalls nicht fibromyalgietypisch. Sie finden sich auch bei anderen Erkrankungen, insbesondere bei affektiven Störungen oder Angsterkrankungen. Als unspezifische neurobiologische Stressantwort zeigt sie sich dem posttraumatischen Stresssyndrom vergleichbar [1].

Die allgemein anerkannten Klassifikationskriterien bestehen bisher „nur” aus einer Mindestanzahl chronisch druckschmerzhafter definierter polytop-symmetrischer Sehnenansatzpunkte der tonischen Muskulatur, den sog. Tender points, „…damit befinden wir uns (laut Raspe, 1996) in der unkomfortablen Situation, eine Störung zwar klassifizieren, sie nicht aber diagnostizieren und nosologisch einordnen zu können…” [9]. Die Tender points sind zudem als ein Marker für Distress und ein frühes Zeichen der Somatisierung nachgewiesen [7] [8]. Des Weiteren ist das Vorliegen begleitender psycho-vegetativer Funktionsstörungen, Schlafstörungen und Erschöpfungszustände entscheidend für die Diagnose einer primären Fibromyalgie. Diese Beschwerden zeigen einen fließenden Übergang zu der somatoformen Schmerzstörung. Ätiologisch bedeutsame biographische Belastungsfaktoren sind denen von Patienten mit somatoformen Störungen vergleichbar [6] [7]. Bei Fibromyalgiepatienten liegt zudem mit 60-70 % eine im Vergleich mit der Normalbevölkerung 3fach erhöhte psychische Morbidität vor allem für Angst- und depressive Erkrankungen vor [2] [6].

Als pathogenetischer Mechanismus der Fibromyalgie wird eine Störung der zentralen Stress- und Schmerzreizverarbeitung diskutiert [2]. Das biologische Stressverarbeitungssystem erfährt durch andauernde überfordernde Belastungsfaktoren psychologische, neuroendokrinologische bis z. T. irreversible morphologische zentrale Veränderungen [1]. Hinsichtlich der generalisierten Schmerzsymptomatik mit der erhöhten Druckschmerzhaftigkeit und einer sekundären Hyperalgesie wird ätiopathogenetisch eine zentrale Sensibilisierung bei einer Funktionsstörung des deszendierenden antinozizeptiven Systems postuliert [10]. Insbesondere frühe Schmerzerfahrungen werden über die zentrale Verschaltung des lateralen mit dem medialen Schmerzsystem, welches wesentlich für die affektive Bewertung und kognitive Reizverarbeitung zuständig ist, als „Stress” gespeichert und können bei erneuter Belastung auch ohne peripheren nozizeptiven Input aktiviert werden. Psychosoziale Belastungsfaktoren sind des Weiteren für die Verstärkung der Schmerzsymptomatik und den Chronifizierungsprozess unumstritten.

Die herkömmliche Diskussion der Fibromyalgie als sog. „psychische” versus „somatische” Störung ist neurobiologisch nicht mehr aufrechtzuerhalten. Fibromyalgie ist nach aktueller Forschungslage keine objektivierbare somatische Krankheitsentität, sondern ein psychosomatischer Symptomenkomplex. Sie ist eine ernstzunehmende und dringlich behandlungsbedürftige „illness without disease” [5]. Behandlungsmaßnahmen müssen dieser komplexen Bedingtheit gerecht werden. Subgruppen müssen je nach vorhandener Komorbidität insbesondere hinsichtlich der Behandlungskonzepte differenziert werden.

Literatur

  • 1 Charmandari E, Kino T, Souvatzoglou E, Chrousos G P. Pediatric stress: hormonal mediators and human development.  Horm Res. 2003;  59 161-179
  • 2 Ecker-Egle M -L, Egle U T. Fibromyalgie. Stuttgart New York. Schattauer In: Egle UT, Hoffmann SO, Lehmann KA, Nix WA (Hrsg) Handbuch Chronischer Schmerz 2002: 571-582
  • 3 Ehrlich G E. Fibromyalgia, a virtual disease.  Clin Rheumatol. 2003;  22 8-11
  • 4 Hazemeijer I, Rasker J J. Fibromyalgia and the therapeutic domain. A philosophical study on the origins of fibromyalgia in a specific social setting.  Rheumatol. 2003;  42 507-515
  • 5 Houdenhove B van. Fibromyalgia: a challenge for modern medicine.  Clin Rheumatol. 2003;  22 1-5
  • 6 Imbierowicz K, Egle U T. Childhood adversities in patients with fibromyalgia and somatoform disorder.  Eur J Pain. 2003;  7 113-119
  • 7 McBeth J, Macfarlane G J, Benjamin S, Morris S, Silman A J. The association between tender points, psychological distress, and adverse childhood experience.  Arthritis & Rheumatism. 1999;  42 1397-1404
  • 8 McBeth J, Macfarlane G J, Benjamin S, Silman A J. Features of somatization predict the onset of chronic widespread pain.  Arthritis & Rheumatism. 2001;  44 940-946
  • 9 Raspe H. Fibromyalgie - ein Artefakt?.  Z Rheumatol. 1996;  55 1-3
  • 10 Staud R, Smitherman M L. Peripheral and central sensitization in fibromyalgia: Pathogenetic role.  Curr Pain Headache Rep. 2002;  6 259-266

Priv.-Doz. Dr. med. Dipl.-Psych. Ingrid Gralow

Schmerzambulanz und -Tagesklinik der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin des Universitätsklinikums Münster

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