Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2003; 35(3): 112-122
DOI: 10.1055/s-2003-43177
Wissenschaft & Forschung

Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Selen in der Onkologie

Renate Sill-Steffens
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Publication Date:
31 October 2003 (online)

Bedeutung von Selen für den Menschen

Selen wurde 1817 von dem schwedischen Chemiker Jöns Jacob Berzelius entdeckt. Lange Zeit galt es als giftig. Erst 1957 entdeckten die Forscher Schwarz und Foltz, dass eine Selenmangelernährung bei Tieren zu Krankheiten führt und die Zufuhr von Selen lebensnotwendig ist. Schließlich erkannte man, dass Selen auch für den Menschen essenziell ist.

Seitdem liefert die Forschung regelmäßig neue Erkenntnisse, die Selen zu einem immer bedeutenderen Spurenelement für die Gesundheit des Menschen machen. Mittlerweile spielt Selen nicht nur eine Rolle, um der Entstehung bestimmter Krankheitszustände entgegenzuwirken, es wird auch zunehmend in der Behandlung eingesetzt, wie zum Beispiel bei Krebs, Rheuma, chronischen Entzündungen, Schwermetallbelastungen, intensivmedizinischen Indikationen u.a.m).

Selen ist ein essenzielles Spurenelement

Selen ist funktioneller Bestandteil einer ganzen Reihe von Proteinen bzw. Enzymen, deren Anzahl beim Menschen auf über 30 geschätzt wird1. Die bis heute bekannten sind in [Tabelle 1] aufgeführt.

Tabelle 1: Selenoproteine (Köhrle 2002) Enzym/Protein Abkürzung Katalysierte Reaktion Gewebe, zelluläre Verteilung Glutathion-Peroxidasen GPx Zytosolisch cGPx H2O2 + 2 GSH → 2 H2O + GSSG Viele Gewebe und Zellen, zytosolisch Plasma oder extrazellulär pGPx H2O2 + 2 GSH → 2 H2O + GSSG Plasma, Niere, GI-Trakt, Schilddrüse; sezerniert Gastrointestinal GI-GPx H2O2 + 2 GSH → 2 H2O + GSSG GI-Trakt; zytosolisch Phospholipid-Hydroperoxid GPx PH-GPx ROOH + 2 GSH → ROH + 2 GSSG + H2O Viele Gewebe und Zellen, Testes; zytosolisch und Membranen Deiodasen Typ I 5'DI T4 → T3, rT3 → 3,3'-T2 Leber, Niere, Schilddrüse, viele Gewebe Typ II 5'DII T4 → T3 Gehirn, hypothyreote Hypophyse, Plazenta, braunes Fettgewebe Typ III 5 DIII T4 → rT3 Gehirn, nicht in Leber Erwachsener, nicht in Hypophyse und Schilddrüse Thioredoxin-Reduktasen TrxR Trx-S2 + NADPH + H+ → Trx-(SH)2 + NADP+ α/1 TrxR1 Niere, Herz β/2 TGR Thioredoxin-und Glutathionreduktase Testes; mitochondrial 3 TrxR3 Leber, Niere, Herz; mitochondrial Selenophosphat-Synthetase selD2 Testes unbekannte Funktion Selenoprotein P SeP Inaktivierung von Peroxinitrit? Antioxidative Defense? Leber, viele Gewebe; sezerniert Selenoprotein W SeW Viele Gewebe, geschlechtsspezifische Expression Prostataepithel-spezifisches Selenoprotein PES 300 kDa Holoenzyme, 32 und 15 kDa Untereinheiten, pl 4,5 Prostataepithel; Zellkern p15 H2O2-Abbau, 32 kDa Holoenzyme, pl 7,9 Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Prostata, Granulozyten, T-Zellen

Das Enzym Glutathionperoxidase (GSHPx) wurde bereits in den 70er Jahren als Selenoprotein identifiziert. Mittlerweile sind vier verschiedene Typen bekannt, die ubiquitär im Körper vorkommen. Glutathionperoxidasen bauen Peroxide ab, bevor sie in zelltoxische Hydroxylradikale zerfallen. Eine weitere essenzielle Enzymfamilie sind die Deiodasen Sie wandeln das von der Schilddrüse sezernierte Prohormon L-Thyroxin (T4) durch Abspaltung von Iod in das aktive Schilddrüsenhormon 3,3',5-Triiod-L-Thyronin (T3) um. Außerdem sind die Deiodasen an der Inaktivierung der Schilddrüsenhormone von T4 zu reverse-T3 (3,3',5'-T3, rT3) und von T3 zu 3,3'-T2 beteiligt. Die Thioredoxinreduktasen spielen eine essenzielle Rolle bei der Regulation des zellulären Redoxstatus über das Thioredoxinsystem, das auch an den Glutathionstatus gekoppelt ist. Die Erhaltung eines intrazellulären Redoxgleichgewichts dient unter anderem dem Schutz vor der Toxizität endogener und exogener oxidierender Substanzen. Das Thioredoxin-Thioredoxinreduktase-System reguliert redoxsensitive Transkriptionsfaktoren und nukleäre Rezeptoren sowie über eine Reduktion von Disulfidbrücken die Proteinfaltung. Außerdem ist es an der DNA-Biosynthese beteiligt. Ein nicht funktionierendes Thioredoxin-Thioredoxinreduktase-System bedeutet den Tod für die Zelle. Selenoprotein P wird hauptsächlich von der Leber sezerniert und enthält bis zu 70 Prozent des Plasmaselens. Es wird angenommen, dass Selenoprotein P eine Speicher- und Transportfunktion besitzt. Wahrscheinlich wirkt es aber auch antioxidativ, wozu es aufgrund des hohen Selenocystein- und Cysteingehaltes prädestiniert ist. Es gibt Hinweise darauf, dass Selenoprotein P das Endothel auskleidet und in der Lage ist, Peroxinitrit abzubauen. Darüber hinaus kann Selenoprotein P Schwermetallkomplexe wie zum Beispiel Quecksilberselenid binden. Weitere Selenoproteine finden sich im Hoden bzw. in den Spermien sowie im Prostataepithel, was auf die essenzielle Funktion von Selen in der Spermatogenese und Reproduktion hinweist. Bei männlichen Säugetieren konnte bereits nachgewiesen werden, dass ein Selenmangel zu Infertilität führt. Selenoproteine finden sich auch im Ovar, in den Nebennieren und im Pankreas2,3.

Selenbedarf in Deutschland nicht gedeckt

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt die tägliche Zufuhr von 30 bis 70 Mikrogramm Selen pro Tag. Die momentan gültige Empfehlung der amerikanischen Ernährungsorganisation lautet 55 Mikrogramm täglich. Dabei handelt es sich aber um grobe Zufuhrempfehlungen, die zum Teil aus den tatsächlichen Aufnahmemengen der Bevölkerung resultieren und die angeben, wie viel Selen notwendig ist, um keine Mangelsymptome zu bekommen. Sie berücksichtigen dabei aber keine präventiven Aspekte wie etwa die Vorbeugung von Krebs. Vor diesem Hintergrund halten viele Wissenschaftler die genannten Dosierungsempfehlungen für zu niedrig. Die tatsächliche Selenaufnahme in Deutschland liegt heute um 30 μg Selen/Tag bei der Frau und um 42 μg Selen/Tag beim Mann. Etwa 20 % der Frauen und Männer verzehren aber weniger als 20 μg Selen/Tag bzw. weniger als 25 μg Selen/Tag. Hier lässt sich der Selenmangel durch eine negative Selenbilanz eindeutig nachweisen4.

Selen-Blutspiegel nicht optimal

Oft lässt sich ein adäquater Selenspiegel durch die normale Ernährung - ohne Supplementierung - nicht mehr erreichen, da unsere Lebensmittel zu geringe Selengehalte aufweisen. Ein Vergleich der Selenwerte der „Gesunden” verschiedener Länder, macht dies deutlich ([Abbildung 1]).

Abbildung 1: Mittlere Serum- oder Plasma-Konzentrationen in Europa verglichen mit den Selenspiegeln aus der NPC-Studie (Clark et al. 1996) bzw. dem Level für eine optimale Aktivität der Plasma-Glutathionperoxidase. Quelle: Rayman 2000

Demzufolge wird in jedem Land ein anderer Blutspiegel als „normal” angesehen. Der ideale Blutspiegel, der für alle Menschen und Länder Gültigkeit hat, steht noch nicht fest. Zahlreiche Studien weisen jedoch darauf hin, dass er sich im Vollblut bei etwa 160 Mikrogramm Selen pro Liter (μg/l) bzw. im Serum bei etwa 135 Mikrogramm Selen pro Liter (μg/l) bewegen muss ([Tabelle 2]).

Tabelle 2: Referenz- und Einstufungsbereiche Selen erniedrigt optimal erhöht aber klinisch unbedenklich Kontrolle erforderlich Vollblut μg/l < 89 893)-1683) 169-230 > 230 μmol/l < 1,1 1,13)-2,13) 2,2-2,91 > 2,91 Serum μg/l < 74 741)-1391) 140-1902) > 190 μmol/l < 0,94 0,941)-1,771) 1,78-2,41 > 2,41 1) Referenzwerte aus Thomas 2000, 2) aus Clark et al. 1996, 3) nach Winnefeld et al. 1995 Wie viel Selen der Mensch braucht, hängt also davon ab, wie viel er braucht, um den optimalen Blutspiegel zu erreichen.

Da verschiedene Belastungssituationen, aber auch verschiedene Erkrankungszustände mit erhöhtem Selenverbrauch einhergehen, kann eine pauschale landesweite Empfehlung immer nur einen Kompromiss darstellen, niemals aber dem tatsächlichen Bedarf eines Einzelnen entsprechen.

Selen ist nicht gleich Selen

In den Präparaten, in denen Selen organisch gebunden ist, liegt es meist als Selenomethionin vor. Diese als Nahrungsergänzungsmittel auf dem deutschen Markt befindlichen organischen Präparate dienen der Verbesserung der marginalen Selenversorgung. Sie enthalten die für den zusätzlichen täglichen Bedarf eines Gesunden ermittelte Menge an Selen von 50-100 μg pro Einheit und sind frei verkäuflich (meist Selen-Hefe-Tabletten). Eine höhere Dosierung ist hier auf Dauer nicht zu empfehlen.

Die Präparate, die Selen in Form einer anorganischen Verbindung - meist Natriumselenit - enthalten, werden als Arzneimittel eingestuft und sind ab einem Selengehalt von mehr als 50 μg pro Einheit verschreibungspflichtig. Anorganisch gebundenes Selen kann sowohl zur Ergänzung der Nahrung (aber getrennt von einer Mahlzeit) als auch in der Therapie zahlreicher Erkrankungen eingesetzt werden, wie z.B. bei Krebserkrankungen, chronisch entzündlichen Erkrankungen, intensivmedizinischen Indikationen, u.a.m., wo regelmäßig ein Selenmangel gefunden wird. Hier sind je nach Indikation Dosierungen von 50 μg bis 2000 μg täglich sinnvoll.

Organisch und anorganisch gebundenes Selen unterscheiden sich auch im Stoffwechselweg. Während Selenomethionin als Aminosäure aktiv über die Darmschleimhaut resorbiert wird, diffundiert das anorganische Natriumselenit passiv hindurch. Nach neuesten Daten liegen die wahren Absorptionsraten von Selen aus Natriumselenit bei 92 %, jene von Selenocystein und Methionin bei 98 %. Im Gegensatz zu dem aus Natriumselenit resorbierten, steht das aus den organischen Selenverbindungen aufgenommene Selen dem Stoffwechsel jedoch nicht sofort zur Verfügung. Die Selenoaminosäuren werden von ihren Schwefel-Analoga nicht unterschieden, deshalb in die „normale” Proteinsynthese eingeschleust und unspezifisch ins Gewebeeiweiß eingelagert. Das als Selenocystein und Selenomethionin gebundene Selen bleibt dem spezifischen Selenstoffwechsel entzogen, bis es im Zuge des Proteinturnovers und der Katabolisierung der Aminosäuren freigesetzt wird und in Form von Selenwasserstoff für die Selenoproteinsynthese zur Verfügung steht. Diese Freisetzung erfolgt bei Selenomethionin besonders langsam.

Selen aus Natriumselenit hingegen wird durch Reduktion dem Selenwasserstoff-Pool sofort zugeführt und steht hier für die spezifische Selenoproteinsynthese bereit. Die Reihenfolge der tatsächlichen Bioverfügbarkeit lässt sich deshalb in der Reihenfolge Selenit > Selenocystein > Selenomethionin anordnen. Anorganisch gebundenes Selen ist nach der Resorption also sofort und vollständig bioverfügbar und kann umgehend zur Selenoproteinsynthese (z.B. der GSHPx) eingesetzt werden. Auch wird es im Gegensatz zu organisch gebundenem Selen sehr viel schneller wieder ausgeschieden.

Bei der Einnahme von anorganisch gebundenem Selen ist darauf zu achten, dass es nicht gleichzeitig mit Vitamin C aufgenommen wird. Das in Natriumselenit (Na2SeO3) enthaltene Selen (Se4+) wird durch (das Reduktionsmittel) Vitamin C zum elementaren Selen (Se0) reduziert (rote Ausfällung). Vitamin C selbst wird dabei oxidiert. Die Folge ist, dass beide Substanzen in eine Form überführt werden, in der sie zwar nicht schädlich sind, ihre Funktionen jedoch nicht mehr erfüllen können. Wenn beide Substanzen eingenommen werden sollen, wird empfohlen, Natriumselenit morgens nüchtern einzunehmen und mit der Aufnahme von Vitamin C bzw. Vitamin C-haltigen Speisen und Getränken mindestens eine Stunde zu warten. Das gilt auch für eine intravenöse Applikation.

Dosierung von Natriumselenit Die momentan gültige Empfehlung der WHO (1996) für die sichere maximale Aufnahme über einen längeren Zeitraum (länger als drei Monate) gilt für den gesunden Menschen ohne Selenmangelsymptome und ohne größere Belastungssituationen. Sie liegt bei 400 Mikrogramm Selen täglich. Menschen mit sehr niedrigen Selenspiegeln, konsumierenden Erkrankungen, chronischen Entzündungen oder Infektionen bzw. Erkrankungen, die mit einer überschießenden Radikalproduktion einhergehen, sind hier nicht berücksichtigt und müssen gesondert betrachtet werden. Die notwendigen - und deshalb auch verträglichen - Dosierungen, die als Natriumselenit verabreicht werden sollten, liegen hier sehr viel höher (s. vorne). Toxizität? Selenvergiftungen gehen einher mit erhöhten Selenkonzentrationen in Blut und Urin. Beim Menschen können Symptome ab circa 1000 Mikrogramm Selen pro Liter Vollblut (1000 μg/l) auftreten. Erste Anzeichen sind knoblauchartiger Atemgeruch, Müdigkeit, Übelkeit, Durchfall und Bauchschmerzen. Akute Toxizität (verschiedene Versuchstiere):1-5 mg (1.000-5.000 μg) Selen pro Kilogramm Körpergewicht (bei 70 kg = 70.000-350.000 μg) Symptome akut: vermehrtes Schwitzen, Erbrechen, Muskelspasmen, Herzrhythmusstörungen Maximale Einmaldosis: 50 μg Selen pro Kilogramm Körpergewicht (bei 70 kg = 3.500 μg) Chronische Vergiftungen: 3-7 mg (3.000-7.000 μg) Selen pro Tag Symptome chronisch: Haarausfall, brüchige Fingernägel, Hautveränderungen, Störungen des Nervensystems Maximale Langzeitdosis: 400-550 μg pro Tag Wie kann man Selen im Körper bestimmen? Für die Beurteilung des Selenstatus ist es wichtig, wie viel Selen sich innerhalb der Zellen befindet. Deshalb sollte die Selenbestimmung aus dem Vollblut erfolgen. Über den Gehalt der Blutzellen kann hier stellvertretend für alle Zellen des Körpers auf die Selenversorgung geschlossen werden. Zur Abnahme von Vollblut muss ein EDTA-beschichtetes Röhrchen verwendet werden.

Selen und Redoxstatus

Selen ist Bestandteil einer Reihe von antioxidativ wirkenden bzw. den Redoxstatus regulierenden Enzymen und Proteinen (siehe [Tabelle 1]), die ihre Aufgaben ubiquitär im Körper erfüllen. Ein Mangel an Selen wirkt sich deshalb auf alle Stoffwechselprozesse im Körper aus, die oxidativ beeinflusst werden können. Auch das Immunsystem arbeitet unter zu niedrigen Selenspiegeln nicht mehr optimal. Untersuchungen zur Genexpression zeigen, dass bei Selenmangel 44 Gene aktiviert werden, um Aufgaben wie DNA-Reparatur und Schutz vor oxidativem Stress sowie Zellzykluskontrolle weiterhin zu gewährleisten. Inaktiviert werden dagegen 26 Gene, die für Selenoproteine, entgiftende Enzyme wie: Cytochrom P 450, GSH-S-Transferase und Epoxid-Hydrolase kodieren sowie für Enzyme, die für Lipidtransport, Angiogenese, Zelladhäsion, Zellzyklus- und Wachstumskontrolle notwendig sind. Das Expressionsprofil legt nahe, dass sich auch die krebspräventiven Eigenschaften von Selen ebenfalls über die Induktion von Genen, die an Zellzyklusregulation und Onkogenese beteiligt sind, erklären lassen.

Freie Radikale und reaktive Sauerstoffspezies

Freie Radikale sind Atome oder Moleküle mit einem oder mehreren ungepaarten Elektronen auf der äußeren Elektronenhülle. Sie sind daher sehr reaktiv und greifen andere Moleküle an. Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) sind Moleküle, die Sauerstoff in einer instabilen Verbindung enthalten, so dass sie andere Moleküle ebenfalls angreifen und dabei meist freie Radikale erzeugen.

Freie Radikale und ROS entstehen durch physiologische Vorgänge permanent in unserem Körper. Um sich nicht selbst zu schädigen, sind die Zellen mit einem antioxidativen Schutzsystem ausgestattet, das diese reaktiven Moleküle permanent wieder abbaut ([Abbildung 2]). Freie Radikale und ROS entstehen aber auch durch exogene Faktoren. Je nach Art und Ausmaß der oxidativen Belastung und je nach antioxidativer Kapazität des Organismus, sind die körpereigenen Schutzsysteme früher oder später überlastet ([Tabelle 3]).

Abbildung 2: Antioxidative Schutzsysteme der Zelle Tabelle 3: Ursachen für freie Radikale endogene Faktoren: Stoffwechselprozesse (z.B. Fettsäureabbau, Entzündungen, Nekrosen)Abwehr von Bakterien und Viren (respiratory burst der Makrophagen)Zerstörung von körperfremdem Material (z.B. entartete Zellen, Apoptose) exogene Faktoren: Bakterien, Viren (z.B. auch nach Antibiotikatherapie)Medikamente, z.B. ZytostatikaMykotoxine, z.B. AflatoxinPestizide, z.B. DDTAlkoholDioxine, FuraneLösungsmittel, z.B. BenzolHalogeneSchwermetalle, z.B. Hg, Cd, PbZigarettenrauchStickoxideSchwefeloxideultraviolette, Röntgen- oder Gamma-Strahlung

Die Gefährlichkeit einer reaktiven Verbindung drückt sich in der Zeitspanne aus, während derer sie an ein anderes Molekül bindet. Die gefährlichste Verbindung stellt deshalb das Hydroxylradikal (· OH) dar. Bereits innerhalb von 10-9 Sekunden schädigt es ein anderes Molekül. · OH entsteht z.B. bei der Phagozytose oder durch exogene Radikalquellen wie Chemo- und Strahlentherapie oder aus Wasserstoffperoxid (H2O2) durch die Fenton-Reaktion (Fe2+).

Das Hydroxylradikal ist auch deshalb so gefährlich, weil es durch die relativ langsam arbeitenden antioxidativen Schutzsysteme der Zelle meist nicht direkt erfasst wird. Das heißt, es reagiert zunächst mit den nächstliegenden chemischen Strukturen wie der Zellmembran und verursacht hier v. a. Lipidperoxide, die ihrerseits wieder von körpereigenen Schutzsystemen (z.B. GSHPx) abgebaut werden müssen. Ein direkter, schneller „Fänger” des gefährlichen Hydroxylradikals ist aber Selenige Säure, die im sauren Milieu (dort, wo Radikale auftreten) aus Natriumselenit entsteht. Selenige Säure ist in der Lage, Elektronen aufzunehmen und wird dadurch zu Selenwasserstoff reduziert. Dieser steht unmittelbar für die Synthese von selenabhängigen Proteinen/Enzymen zur Verfügung.

Die meisten Erkrankungen gehen mit einer gestörten Radikalhomöostase einher ([Tabelle 4]). Das heißt, es werden pro Zeiteinheit mehr Radikale gebildet als wieder abgebaut werden können. Bei einer chronischen Erkrankung ist der Körper durch die ihm zur Verfügung stehenden Systeme und ihm zugeführten Substanzen meist nicht in der Lage, das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Tabelle 4: Erkrankungen und Zustände, die mit einer Verschiebung der Radikalhomöostase einhergehen Altern, Intoxikationen, Arteriosklerose, Karzinogenese/Krebserkrankungen, Augenerkrankungen, Lebererkrankungen, Entzündungen, Metabolismus von Xenobiotika, gastrointestinale Erkrankungen, Muskeldystrophie, Hautkrankheiten, Mutagenese, Hypertonie, neurologische Erkrankungen, immunologische Erkrankungen, pulmonale Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Sauerstoffintoxikationen, ischämische Störungen, urologische Erkrankungen

Einfluss von Selen auf das Immunsystem

Eine schlechte Selenversorgung reduziert die Fähigkeiten des Immunsystems insgesamt und führt zu zahlreichen Beeinträchtigungen, die in [Tabelle 5] aufgelistet sind. So ist im Selenmangel die Fähigkeit von Neutrophilen und Makrophagen verschiedener Spezies zur Phagozytose vermindert und kann durch Supplementierung wieder normalisiert werden. Selengaben steigern die mikrobielle Aktivität von Granulozyten, erhöhen die bakterizide und antitumorale Funktion, den chemotaktischen Index neutrophiler Leukozyten sowie die Produktion von Interferon bei humanen Lymphozyten.

Tabelle 5: Wirkung von Selen auf die Immunzellfunktion6 In vivo In vitro Selenmangel ↑ Migration und O2 2- Aktivität von Neutrophilen (Rind)↑ High-affinity-IL 2-Rezeptor (Maus)↑ T-Zellproliferation und altersbedingter Funktionseinschränkungen (Maus)↑ Natural-Killer-Zell-Aktivität (Maus, Mensch)↑ Zytotoxische T-Zell-Aktivität (Maus)↑ T-Zell-Antwort auf Kermesbeeren-Mitogen (Rind)↑ Lymphokin-aktivierte Killer-Zell-Aktivität↑ Antwort vom verzögerten Typ aufgrund verbesserter Antigenpräsentation (Maus)↑ Durch Impfung erzeugte Malaria-Immunität (Maus) ↓ Zelltod nach Paraquat-Exposition (Ratte)↓ UV-induzierter Hautkrebs und Hautkrebsmortalität (Maus)↓ Auftreten von Erythemen nach UV-Exposition (Mensch, Maus) ↓ HIV long-terminal-repeat Aktivierung und HIV-Replikation in T-Zellen (Mensch)↓ NF-KB Aktivierung (Mensch)↓ B-Zell-Lipoxygenase-Aktivität (Mensch)↓ Zelltod nach UV-Bestrahlung bei Hautzellen (Maus)↓ DNA-Zerstörung und Lipidperoxidation bei UV-exponierten Hautzellen (Maus, Mensch)↓ IL 6, IL 8 und TNF mRNA in Hautzellen nach UV-Behandlung (Mensch)↓ Zell-Tod nach Paraquat-Exposition (Mensch)↓ UV-induzierte Apoptose in normalen Hautzellen (Mensch) ↑ primäre und sekundäre Antikörper-Antwort auf Viren (Rind)↑ Apoptose in Tumoren (Mensch, Maus)↑ Phythämagglutinin-Antwort in Lymphozyten (Mensch)↑ Makrophagen-Aktivität (Fähigkeit, abzutöten) (Mensch)↑ Aktivität zytotoxischer T-Zellen (Fähigkeit, zielgerichtet abzutöten) (Mensch) ↑ Plättchenaggregation und Leukotrien-Synthese (Mensch, atopisch)↑ Virulenz des Coxsackie-Virus (Maus)↑ CD4+ T-Zellen, ↓ CD8+-T-Zellen, ↓ CD4- /CD8- Thymozyten (Maus) ↓ Chemotaxis bei Neutrophilen (Ziege)↓ Aktivität von Neutrophilen und Leukozyten (Schwein)↓ IgG- und IgM-Titer (Mensch)↓ Antikörperproduktion durch Lymphozyten (Maus)

Die mitogen-stimulierte Lymphozytenproliferation kann durch Selengaben normalisiert werden. Selensupplementierung erhöht außerdem die antitumorale Kapazität über Induktion zytotoxischer T-Zell-Populationen sowie die Steigerung der Anzahl bzw. der zytotoxischen Aktivität von NK-Zellen. T-Suppressor-Zellen werden dagegen von Selen selektiv gehemmt. In der humoralen Immunabwehr dämpft ein Mangel an Selen verschiedene Immunglobulin-Gruppen bzw. kann die antigenspezifische Antikörperproduktion durch Substitution erhöht werden.

Die Wirkung von Selen beruht dabei zum einen auf einer Vermehrung der hoch affinen IL 2-Rezeptoren auf der Oberfläche der aktivierten Lymphozyten und bietet damit die Basis für verstärkte T-Zell-Antworten. Da die T-Zelle eine Schlüsselkomponente für die Antikörpersynthese der B-Zellen darstellt, mag dies den Stimulationseffekt von Selen auf die Antikörperproduktion erklären. Zum zweiten schützt eine ausreichende Selenversorgung vor oxidativ induzierten Schäden an Immunzellen, welche sich sowohl auf die Anzahl als auch auf die Funktion der Zellen auswirken. So wird zum Beispiel die Beeinflussung der mikrobiellen Kapazität phagozytierender Zellen über die Aktivität der GSHPx vermittelt, die eine Anhäufung freier Radikale mit nachfolgendem Zelluntergang beim „respiratory burst” der Makrophagen verhindert. Eine weitere wichtige Rolle spielen auch andere Faktoren wie das selenabhängige Enzym Thioredoxinreduktase in den T-Lymphozyten sowie weitere bislang unbekannte Selenoproteine, die in den CD4- und CD8-Genen kodiert sind. Molekularbiologische Untersuchungen deuten darüber hinaus auf eine spezifische Rolle von Selen bei der NF-κB-vermittelten Expression von Genen hin, die in immunologische Vorgänge involviert sind (Übersicht bei 5).

Neuere Untersuchungen zeigen, dass eine tägliche Supplementierung von 200 μg Selen als Natrium-Selenit über 8 Wochen bei Plattenepithel-Karzinompatienten zu einer signifikant gesteigerten zellvermittelten Immunantwort führt, während es in der Placebogruppe zu einem signifikanten Rückgang kommt7. Es steigerte sich die Mitogen-stimulierte Lymphozytenproliferation, die Anzahl zytotoxischer Lymphozyten sowie die Fähigkeit zur Zerstörung von Tumorzellen (um das Zehnfache). Patienten in den Tumorstadien I und II hatten signifikant höhere Plasma-Selenspiegel als Patienten der Stadien III und IV.

Literatur bei der Verfasserin

    Korrespondenzadresse:

    Renate Sill-Steffens

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