Erfahrungsheilkunde 2003; 52(10): 676-685
DOI: 10.1055/s-2003-43095
100 Jahre

Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Das „Gute” und das „Wahre”: „Wissenschaft” und „Moral” in der Heilkunst

Arno Thaller
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Publication Date:
23 October 2003 (online)

Medizin als Erfahrungswissenschaft

„Die Medizin ist die Empirischste aller Wissenschaften” (Leibniz). Dieser Satz des Mediziners, Mathematikers und Philosophen hat auch heute volle Gültigkeit. Es liegt offenbar im Wesen dieser Wissenschaft und nicht etwa am vergleichsweise geringen Wissensstand der Medizin im Zeitalter der Aufklärung.

Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft. Das bedeutet, dass die Erfahrung immer Vorrang hat und dass medizinisches Wissen grundsätzlich nicht geeignet ist, einen Einzelfall zu widerlegen, sondern umgekehrt immer in der Gefahr ist, von ihm widerlegt oder zumindest eingeschränkt zu werden.

01 Benson K, Hartz A: A Comparison of Observational Studies and Randomized, Controlled Trials. New Engl. J. Med. 2000; 342: 1878-1886. Concato J et al: Randomized, Controlled Trials, Observational Studies and the Hierarchy of Research Designs. New Engl. J. Med. 2000; 342: 1887-1892.

02 Christian Morgenstern: Die unmögliche Tatsache.

03 Beuth J: Editorial. Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2001; 3, im gleichen Tenor auch 2001.

04 Hirshberg C, Barasch MI: Gesund werden aus eigener Kraft. Spontanheilungen bei Krebs. München: Knaur; 1997.

04 Nicht nur, dass die Mehrzahl der Ärzte den Todkranken keine Hilfe bei der Bewältigung ihrer Not waren: Die niederschmetternden Prognosen mussten erst überwunden werden, damit sich ein ungebändigter Lebenswille entfalten konnte: „Herr Doktor, ich pisse auf Ihr Grab!”

04 Die wenigen für die Wunderheilungen hilfreichen Ärzte müssten mit dem moralischem Maßstab des Autors allesamt verurteilt werden. Sie bedienten sich durchweg nicht evaluierter Methoden und verbreiteten einen grenzenlosen, ganz unkritischen Optimismus. Einige haben glatt gelogen mit der Folge einer kompletten Remission. Die Gesetze der Heilung sind seltsam!

04 Völlig verfehlt wäre es natürlich, aus diesen Fakten irgendeine Art „Lügenmoral” zu begründen. Ich will damit nur sagen: Das Leben ist eine Kunst, die unter einem höheren Anspruch steht als jede Wissenschaft und jede Moral.

04 Es ist der Anspruch der Freiheit.

05 Dank an Kollegen Reuther für den Hinweis.

06 Bei diesem Welt-Entwurf gibt es also ein aller Erkenntnis zugrunde liegendes „Subjekt” und die Welt als „Objekt”, das sich dem weltlosen Subjekt gegenüberstellt. Beide stehen nur in Beziehung über einen umstrittenen Erkenntnisverkehr.

06 Kant hat diesen Erkenntnisverkehr begrifflich geregelt. Er hat erkannt, dass sich der Wissenschaftler keinesfalls von der Natur belehren lässt wie ein Schüler von seinem Lehrer, sondern dass er sie, wie ein Richter den Zeugen, nötigt, auf seine Fragen zu antworten: Wissenschaftliche Wahrheiten sind demnach erpresste Geständnisse und nicht etwa Geheimnisse, die die Natur von sich aus offenbart. (Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Riga 1787)

06 Schon dieser gnadenlose Charakter wissenschaftlicher Fragen sollte uns sehr wachsam machen, ob eine solche Erkenntnis der Sache der „Heilung”, die doch eher dem „Mitgefühl”, der „Liebe” und der „Barmherzigkeit” entspringt, dient. Nur wenn sie diesem Ziel tatsächlich dient, wollen wir ihr überhaupt Beachtung schenken. Keineswegs werden wir uns ihrem Diktat unterwerfen und dabei Verrat an unserem ureigenen Auftrag üben!

06 Aber auch in der Geschichte des Denkens ist der Grundentwurf eines Abgrunds zwischen „Subjekt” und „Objekt”, zwischen „Ich” und „Welt”, ein europäischer Irrweg, dem jeder Realitätssinn fehlt. Der Mensch, das „Ich”, ist doch aus der „Welt” hervorgegangen. Der Grundentwurf einer abgründigen Getrenntheit von „Ich” und „Welt” ist an sich abartig. Realistischer ist die Identität oder zumindest die Ursprungsverwandtschaft. Wir Ärzte wissen, wie armselig wir ohne Intuition sind, d.h. ohne jenes unerklärliche „Gespür” für die Realität, und wie wir den Weg zu unseren katastrophalsten Irrtümern mit „guten Gründen”, d.h. mit rationalen Erklärungen, gepflastert haben!

06 Realistischer als die Differenz zwischen „Auge” und „Welt” ist die buddhistische Einsicht: „Wenn ich den Berg sehe, bin ich der Berg”.

06 Auch auf europäischem Boden ist - zumindest im Mittelalter - eine solche Erkenntnis gereift: Cognoscens et cognitum in actu cognoscendi sunt idem, „Der Erkennende und das Erkannte sind im Vollzug der Erkenntnis eins.” (Thomas v. Aquin. Dank an Herrn Prof. Dümpelmann, München, für das Stegreifzitat.)

07 Grossarth-Maticek R, Kiene H, Baumgartner SM, Ziegler R: Use of Iscador, an Extract of European Misteltoe (Viscum Album), in Cancer Treatment: Prospektive Nonrandomizised and Randomized Matched-Pair Studies Nested Within a Cohort Study. Alternative Therapies 2001; 7 (3): 57-78.

08 Bei präaktiviertem Immunsystem führt jede weitere Stimulation eher zur Suppression. Das ist eine alte Weisheit biologischer Ärzte, die eine kleine Pilotstudie mit immunologischen Funktionstests bestätigte. (Thaller A: Eigenblut zur Immuntherapie zwischen alter Erfahrung und moderner Laboranalytik. In: Gedeon W: Eigenbluttherapien und andere autologe Verfahren. Heidelberg: Haug; 1999). Wenn also alle Patienten unabhängig von ihrer biologischen Grundaktivität ein Thymuspräparat bekommen, dann ist ein negatives Ergebnis noch kein Beweis seiner Wirkungslosigkeit, sondern allenfalls ein Grund, die Indikation zu präzisieren!

09 Kempins vergleichende Studie zur Fiebertherapie und Radio-Chemotherapie versus reine Radio-Chemotherapie wird von manchen Medizinischen Diensten von geringem methodischem Reflexionsgrad wegen der geringen Fallzahl von 30 bzw. 26 Patienten in Frage gestellt. In Wahrheit ist es gerade umgekehrt. Die Signifikanz trotz geringer Fallzahl ist ein eindruckvoller Beleg für die Wirksamkeit der Fiebertherapie. (Kempin S, Cirrincone C, Myers J, Lee III B, Straus D, Koziner B, Arlin Z, Gee T, Mertelsmann R, Pinsky C, Comacho E, Nisce L, Old L, Clarkson B, Oettgen H: Combined Modality Therapy of Advanced Nodular Lymphomas (NL): The Role of Nonspecific Immunotherapy (MBV) as an Important Determinant of Response and Survival. Memorial Sloan-Kettering Cancer Center, New York, N. Y. 10021. In: Proceedings of ASCO (American Society of Clinical Oncology) 2 = 19, 56 (1983), C218. Diese Literaturstelle zeigt den Stand nach 3 Jahren. Der Fünfjahresstand der Studie wurde an folgender Stelle gezeigt: Oettgen HF, Old LJ, Hoffmann MK und Moore MAS: Antitumor effects of endotoxin: possible mechanism of action. In: Homma Y, Kanegasaki S, Lüderitz O, Shiba T, Westphal O: Bacterial Endotoxi., Weinheim; 1984: 205-221.

10 Beispiel: Die Elektroakupunktur nach Voll lässt viele Einwände unbeantwortet: Die Manipulierbarkeit der Hautwiderstandsmessung durch verschiedenen Auflagedruck und sogar durch die Erwartung des Arztes und des Patienten! Die Ergebnisse der Testung sind nur selten reproduzierbar und vermutlich auch die therapeutischen Ergebnisse. Trotz dieser theoretischen Einwände habe ich nun einen Elekroakupunkteur getroffen, der sogar mit der vereinfachten Vega-Testung außerordentliche Therapieerfolge, z.B. bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, erzielt. Dies ist durch eine unabhängige Dissertation bestätigt worden (Schmitz O: Untersuchung zur Objektivierung der Quecksilberbelastung als Ursache bei Symptomen der Colitis ulcerosa bzw. des Morbus Crohn. Würzburg 1991). Offenbar ist für ihn die Messung des Hautwiderstandes mehr ein Vorwand, ein Ritus, in dessen Schutz seine Intuition arbeiten kann!

10 Ähnliches trifft für die Homöopathie zu: Die Intuition spielt hier eine ganz wesentliche Rolle. Eine methodisch vorbildlich durchgeführte Doppelblindstudie bei Kopfschmerzen suchte jedoch gerade dieses wesentliche Moment des ärztlichen Heilens systematisch auszuschalten: Jeder Fall wurde einem Kollegium vorgetragen. Nur was der „reinen Lehre” entsprach, wurde akzeptiert. Dabei blieb natürlich jede Intuition auf der Strecke. Da außerdem noch auf jegliche Einschränkung in der Wahl der Mittel verzichtet wurde, also der gesamte Arzneischatz der homöopathischen Repertorien zur Verfügung stand, blieb der gute alte Arztkoffer mit den „bewährten Indikationen” ungeöffnet in der Ecke liegen. Somit kam auch die „Erfahrung” zu kurz. Was soll uns wundern, wenn ohne „Erfahrung” und „Intuition” nichts mehr herauskommt? (Walach H, Haeusler W, Lowes T, Mussbach D, Schamell U, Springer W, Stritzl G, Gaus W, Haag G: Classical homeopathic treatment of chronic headaches. Cephalalgia 1997; 17: 119-126.)

10 Die Italiener haben es etwas praktischer angestellt. 10 bewährte Kopfschmerzpräparate wurden den Therapeuten zur Verfügung gestellt und ihnen freie Wahl gelassen, auch zwei Mittel zu kombinieren, ein nicht ganz astreines, aber sehr bewährtes Verfahren. So wurde ein hochsignifikantes Ergebnis im Doppelblindversuch erzielt! (Brigo B et al: Le traitment homéopathique de la migraine: une étude de 60 cas, contrôlée en double aveugle (remède homéopathique vs. placebo). J. Liga Med. Homeop. Intern. 1987; 1: 18-25.) Es ist in der Medizin viel leichter, ein falsch negatives als ein falsch positives Ergebnis zu erzielen. Aus diesem Grunde heben sich zwei Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen keineswegs auf. Vorausgesetzt, dass sie das gleiche Niveau in der Durchführung haben, wiegt die positive Studie eo ipso höher!

11 Nur wenige Ärzte machen sich Gedanken über grundsätzliche Fragen medizinischer Erkenntnis. Zu diesen Ausnahmen gehört Gedeon W: Erfahrungsheilkunde und Naturheilverfahren. Heidelberg: Haug; 1991.

12 Field, Lohr, Institute of Medicine. Guidelines for Clinical Practice: from Developement to Use. National Academie Press, Washington d. C. 1992; 34. Zitiert aus: Gerlach FM, Bahrs O, Fischer GD und Weis-Plummeyer M: Leitlinien für die hausärztliche Praxis. Z. Allg. Med. 1995; 71: 950-956.

13 200 Mio. DM sind von einem Zytostatika-Produzenten an 200 Studienleiter bezahlt worden, in einem Stadium, wo längst klar war, dass das Mittel keine Lebensverlängerung mit sich bringt.

13 Es ist verständlich, wenn ein mit solchen Freuden überhäufter Professor nichts über die „etablierte Therapie” kommen lässt. Mit der Zulassung eines Mittels hört der Segen nicht auf. Jede Anwendung wird unter dem Namen einer „Beobachtungsstudie” reichlich entlohnt. Derlei Verlockungen machen verständlich, dass sich die endlose Zytostatika-Therapie fortgeschrittener Krebserkrankungen „bis zum bitteren Ende” mit einer solchen Zähigkeit am Leben hält! Dies bringt die internistische Onkologie in den Verruf einer „chemotherapeutischen Sterbebegleitung”.

14 Helsinki-Deklaration von 1964, Revision von 1996. Im Oktober 2000 ist sie noch etwas präzisiert worden, ohne dass der Kern der Aussage dadurch berührt worden wäre: „Bei der Behandlung einer Krankheit, für die es keine erwiesenen prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Methoden gibt oder diese keine Wirkung zeigten, muss der Arzt mit der Einwilligung des Patienten nach Aufklärung die Freiheit haben, nicht erprobte neue prohpylaktische, diagnostische und therapeutische Maßnahmen anzuwenden, wenn sie nach dem Urteil des Arztes die Hoffnung bieten, das Leben des Patienten zu retten, seine Gesundheit wiederherzustellen, oder sein Leiden zu lindern.” (Absatz C, § 32).

15 Gallmeier im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Hirshberg, Barasch: Gesund werden aus eigener Kraft. Spontanheilungen bei Krebs. München, 1997, S. I.

16 Sie kommt zu der Einsicht: Jeder Gewinn ist mit einem Verlust verbunden. Was ich dem Weiblein an Wissen voraus habe, das hat es mir an Intuition und Beobachtungsgabe voraus. Die Gaben sind viel gerechter verteilt, als wir meinen. Wir müssen sie nur zu würdigen wissen. Unsere Wertungen sind schief: Augenblicklich erfahren die Gaben der Rhetorik und des logischen Denkens eine völlig ungerechtfertigte Überbewertung. Sie überhäufen mich mit schmucken Titeln. Das Waldweib geht dabei aber leider leer aus.

16 Nicht ganz so gewaltig, aber ähnlich ist der Unterschied zwischen theoretisch überfrachtetem Universitätswissen und der Lebenserfahrung eines praktischen Arztes, der ein Gespür dafür hat, was jetzt für den Patienten wesentlich ist.

17 Bert Brecht hat das am Beispiel von „arm” und „reich” so treffend gezeigt:
Reicher Mann und armer Mann
Standen da und sah'n sich an.
Und der Arme sagte bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!”

18 Brief an den Präsidenten vom 1.11.99

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Arno Thaller

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In der Hölle 4

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