Psychotraumatologie 2002; 3(4): 48
DOI: 10.1055/s-2002-35084
Bericht aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Retraumatisierungen der Eltern und Kindergeneration des 2. Weltkrieges

Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten
Vortrag vom 36. Kongress der ÄK Nordwürttemberg in Stuttgart zum Thema „Kriegsbedingte posttraumatische Belastungsstörungen”, 2. 2. 2001
Helga Spranger1
  • 1FÄ f. Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie, FÄ f. Psychotherapeutische Medizin
Further Information
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Autorin:

Dr. Helga Spranger

FÄ f. Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie, FÄ f. Psychotherapeutische Medizin

Fritz Reuterweg 17

24229 Strande

Phone: Tel.: 04349-919457

Email: hspra@t-online.de

Publication History

Publication Date:
23 November 2002 (online)

 
Table of Contents #

Einleitung

Die durch den 2. Weltkrieg kriegstraumatisierten Menschen sind in der Bundesrepublik in ihren Beschwerden lange ignoriert worden. Der Krieg im Balkan hat deutliche Impulse gesetzt, sich mit psychischen Erkrankungen der Kriegsgeneration und deren Nachkommen mehr auseinanderzusetzen.

Basale psychotraumatische Belastungssyndrome/ Posttraumatische Belastungsstörungen, wie sie im ICD 10 und DSM IV beschrieben sind, können auch nach jahrelangen freien Intervallen klinisch relevant werden. Sie können darüber hinaus in die folgende Generation transponiert werden.

Die Diagnose muss den prozessualen Verlauf beinhalten, danach kann eine ursachengerechte und altersentsprechende Therapie konzeptualisiert und eingeleitet werden.

„Das schlimmste ist, ich habe Angst vor mir selbst, weil ich lache, wenn ich etwas darüber im Fernsehen sehe oder mir ein anderer aus meiner Heimat davon erzählt.” (ein Student aus Ruanda, 27 Jahre)

„Ich fühle mich so einsam”. (ein Mann aus Deutschland, 72 Jahre)

Gestatten Sie mir bitte einen minimierten Exkurs in die Sphären der psychotherapeutischen Auffassung und Behandlung von „Kriegsneurotikern” und „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Volksgesundheit” sowie der „Kampfbereitschaft des Volkes” zu Zeiten des 1. u. 2. Weltkriegs.

Ohne wenigstens einen Wimpernschlag lang die politischen Hintergründe der damaligen Zeit spotlightmäßig anzustrahlen, gelingt ein Verständnis der späteren Entwicklung des therapeutischen Umgangs mit traumatisierten Menschen aus diesen Kriegen nicht.

Einige der nachfolgenden Namen werden Ihnen möglicherweise durch Ihre Ausbildung geläufig sein.

Karl Abraham hatte 1915, nach Kriegsbeginn 1914, in Allenstein /Ostpreußen eine Beobachtungsstation für „psychopathische Soldaten” eingerichtet.

Ernst Simmel, der 2 Jahre als OA und leitender Arzt in einem „Spezial - Lazarett für Kriegsneurotiker” tätig war, berichtete 1918 erstmalig über seine Erfahrungen in seinem Buch „Kriegsneurosen und psychisches Trauma”. Danach wurden die betroffenen Soldaten mit der sogenannten Kaufmann-Kur behandelt. Sie beinhaltete eine „notdürftig mit Suggestivmaßnahmen verbrämte Foltermethode mit elektrischen Schocks und der von Nonne salonfähig gemachten Kombination von Suggestion und Hypnose” [1]

Am 28. u. 29. September 1918 fand erstmals ein internationaler Kongress in Budapest „Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen” statt. Freud äußerte sich gleichzeitig zu seinen Vorstellungen der „Neurosenbehandlung bei Menschenmassen”. Schon wenige Wochen später war der 1. Weltkrieg beendet, und der Vertrag von Versailles brockte dem „Deutschen Volk” eine narzisstische Krise erheblichen Ausmaßes ein.

1939, 21 Jahre später:

H. Linden (Suizid 1945) wurde 1939 zum Leiter des „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden” und 1941 zum „Reichsbeauftragten für Heil - und Pflegeanstalten” ernannt, - beides „Tarnorganisationen”, um die Euthanasie durchführen zu können. Er wollte die psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtungen von „nicht behandelbaren” Patienten entlasten und die Grundlagen für eine „aktive Therapie” organisieren.

M. H. Göring /Jurist und Nervenarzt (1897-1945), führte als Leiter das „Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie”, gegründet 1936, das mit der Dringlichkeitsstufe „S”, der zweiten Dringlichkeitsstufe im „3. Reich” versehen war. Er lies im Auftrag des Kriegsministeriums „Völker - und massenpsychologische Untersuchungen” durchführen. Noch 1944 (!) hielt er einen Vortrag zum Thema: „Der Beitrag der Psychotherapie zur totalen Kriegführung”.

H. Schultz - Henke (1892-1953), im gleichen Institut tätig, berichtete u. a. 1940 über „Die seelische Reaktion auf die Verdunklung” und erforschte gemeinsam mit Göring die Auswirkungen von Luftangriffen auf die Bevölkerung. Er äußerte: „ Auch von ihrer Seite (gemeint: Deutsche Arbeitsfront ) wurde die Forderung erhoben, die Tiefenpsychologie solle ihren Beitrag zur Betriebspsychologie, zur Frage der Einsatzbereitschaft und der Führung liefern.”

Am 19. Mai 1942 schließlich wurden unter der Ägide von Werner Kemper (1899-1976), Stellvertreter von Göring im „Deutschen Institut”, Richtlinien für den Umgang mit den sog. Kriegsneurotikeren herausgegeben, - unterschrieben von den Ärzten Wuth, Kolle, Schneider, Stockert, Christukat, Schneider, Schneider, Kemper.

Darin heißt es u.a.:

„Unter den Persönlichkeiten mit gleichzeitiger abnormer seelischer und körperlicher Veranlagung ist die für den Heeresdienst praktisch wichtigste Gruppe die der Hypochondrischen, der Erwartungsängstlichen und der leicht beschränkten Willensschwachen. Sie neigt zu zweckbestimmten Konfliktreaktionen, d. h. zur sogenannten Flucht in die Krankheit, um sich dadurch einer als unerträglich empfundenen Belastungsreaktion mehr oder minder bewusst zu entziehen und zu gleicher Zeit das Mitleid der Umgebung zu erregen und auszunutzen. Dies ist die Gruppe der im Weltkrieg in Sonderheit mit dem Namen „Kriegsneurose”(der Begriff geht zurück auf Bonnhöfer, 1926, d. Verf.) belegten Zustände. Hierher gehören die Hauptmasse der Kriegszitterer (Schütteler) andauernd fixierten Lähmungen, hysterischen Sprachstörungen, Stummheit, Taubheit, Blindheit ... hysterische Pseudodemenz u. ä.”

„Dauernde Rückfälligkeit oder schwere Abartung werden aber in einem Teil der Fälle besondere Maßnahmen notwendig machen, es wird vorgeschlagen, an geeigneten Orten Abteilungen zu schaffen, damit sowohl die Truppe wie die Heimat von der zersetzenden Wirkung dieser besonderen Menschen bewahrt bleiben.”

Abartige Charaktere („Psychopathen und Charakteropathen”) wurden nicht behandelt, sondern einer Strafkompanie oder dem KZ zugeführt - nachzulesen u.a. in Berichten über die „Moorsoldaten” oder Vorort im KZ Auschwitz.

Zitat eines damaligen Kindes

„Und dann hab` ich ihm einen Brief geschrieben, direkt am nächsten Tag, als er weggefahren ist. Und dann haben wir nichts gehört, nichts gehört. Nur der Brief kam wieder zurück. Dieser Feldpostbrief. Ich weiß noch jetzt: 17 5 81. Das ist die Feldpostnummer! Können Sie sich das vorstellen, wie mich das geprägt hat, dass ich das nach 50 Jahren noch weiß: 17 5 81 [2].

Ein Kind berichtet dem Vater an der Front von einem Flugzeugabsturz:

„Am nächsten Tag sind wir zu dem Flugzeug hingegangen ... Das Flugzeug war auf dem ganzen Feld verstreut. Das hat sicher noch Bomben bei sich gehabt. Eine Niere lag da und Stücke vom Engländer...” [2]

Ich möchte Ihnen zur Verdeutlichung der Nachkiegsbilanz - hinsichtlich unserer heutigen Fragestellung - einige Zahlen nennen:

Ausgehend von Angaben aus dem Jahr 1939, betrug die damalige Gesamtbevölkerungszahl ca. 68 Mill. Der 2. Weltkrieg brachte (von insgesamt 50 Mill. Toten) allein in Deutschland 4 Mill. Soldaten und 500 Tsd. Zivilisten den Tod. 250 Tsd. Soldaten kämpften in Stalingrad, davon sind 5000 zurückgekehrt. 12,5 Mill. Flüchtlinge kamen aus dem Osten lebend nach Deutschland, 2 Mill. gingen auf der Flucht zugrunde.

Wir wissen, dass das politische Herrschaftssystem des „3. Reiches” schon während des Krieges gedanklich offensichtlich keinen ethisch-kritischen Zugang zur Frage der Traumatisierung der „Feinde”, geschweige denn der eigenen Bevölkerung zuließ. Um so weniger konnte sich nach dem verlorenen Krieg und HOLOCAUST eine Anteil nehmende therapeutische Auseinandersetzung ereignen, weil ein großer Teil der Bevölkerung unter der Schuld litt, die in ihrem Namen: „Im Namen des deutschen Volkes” entstanden war.

Viele der damals im deutschen NS-Staat aktiven Psychologen, Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten waren nach dem Krieg zudem noch jahrelang als Gutachter und Ausbilder tätig. Sie haben durch ihre tradierten politisch-ideologisch geprägten Auffassungen von der Behandlung psychisch Kranker über Jahrzehnte hinweg wesentlich dazu beigetragen, die Leiden der durch den Krieg traumatisierten Kinder, Frauen und Männer zu ignorieren.

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Die transgenerationale Weitergabe von Traumafolgen

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Kollektive Traumatisierung

„Die Kinder müssen auf die Straße, sie müssen sich jetzt gegen die Besatzung wehren”

Wir müssen mit Hilflosigkeit die Tatsache der Steine werfenden palästinensischen Kinder hinnehmen und uns fragen, warum denn die Elterngeneration dies zulassen muss?

Auch auf der israelischen Seite müssen wir einen ähnlich vehementen Protest - wenn auch in anderer Form- der 2. und 3. Generation nach HOLOCAUST registrieren.

Den Menschen auf beiden Seiten ist eines gemeinsam: Beide Völker fühlen sich schuldlos im Recht, sie tragen an einer erlebten, nicht bewältigten, kollektiven Traumatisierung und deren posttraumatischen Belastungsstörungen. Im Gegenteil, je näher sich eine Möglichkeit der Mediation, der Konversion, des Umlenkens in ein friedliches Miteinander eröffnet, brechen aktualisierte Vorstellungen vom Leiden und vom Wieder-gut-machen, dem Wieder-heil-machen alter Verwundungen auf, die ständigen Retraumatisierungen auf allen Seiten fordern ihren Tribut, die Spirale der Gewalt dreht weiter nach oben, ein Einmünden in die Phase der Beruhigung und Neuorientierung kann sich so nicht ereignen.

Im Gegensatz dazu konnten die Deutschen am Ende des 2. Weltkriegs ihre kollektive Traumatisierung nicht schuldfrei betrauern. Davor stand der HOLOCAUST, die menschenverachtenden Tötungen beim Feind und eigenem Volk, und das mehr oder weniger offene Eingeständnis der eigenen Bevölkerung, einem teuflischen Verführer erlegen zu sein.

Ein ganzes Volk schien in ein basales psychotraumatisches Belastungssyndrom (bPTBS[1] nach Fischer u. Riedesser) [3] gefallen zu sein.

„. .unser guter Freund Ulling verteilte uns Blausäureampullen, die er im Laboratorium seiner veterinär - pharmazeutischen Fabrik präpariert hatte; sie sollten uns einen gnädigen schmerzlosen Tod bereiten... [4]

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Individuelle Traumatisierung

Neurobiologische und neuropsychologische Forschungen haben neue Erkenntnisse über die individuelle Einwirkung und Verarbeitung traumatischer Ereignisse und sich daraus ergebender Prozesse erbracht [5] [6]. 2 Modelle können diese Richtungen verdeutlichen:

  1. als Zeichen der Veränderung in den Strukturen des Gehirns „sinnlich - anschauliche Erinnerungsbilder” und „Funktionsmuster” im Zusammenhang mit stoffwechselaktiven Prozessen [7]

  2. Informationsverarbeitung nach Gedächtnismodellen

In Ergänzung dazu möchte ich Fischer/Riedesser zitieren:

„Ausgehend von einem situationistischen Verständnis des Traumas, können wir dieses definieren als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.” [8]

„Du warst im Krieg, Vater. Was hast Du dort gemacht? Fürs Vaterland gekämpft? Was ist Vaterland? Was heißt kämpfen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Du jemand getötet hast; Du, den ich bewundere und liebe. Kann ich vielleicht auch töten? Fließt in meinen Adern Mörderblut? Sprich doch mit mir, was ist passiert? Sonst werde ich die Schuld begraben.” (eine Tochter, 50 J, an ihren Vater)

Jedes Individuum verarbeitet demnach das Trauma so, wie es ihm sein eigener körperlicher, entwicklungspsychologischer und geistiger Zustand erlaubt. Die Entscheidung darüber, ob sich Krankheit oder Gesundheit entwickelt, unterliegt einer intrapsychisch - prozesshaften Entwicklung, die abhängig ist von einem umfassenden, dynamischen Bedingungsgefüge, das sich im Verlauf des Lebens umstrukturieren kann, also einem Prozess unterliegt:

Wie hoch ist das Reife-Alter des traumatisierten Menschen, und über welche Ressourcen verfügt er? (Persönlichkeitsstruktur, positive Lebenserfahrung, konstruktive Fähigkeiten und Fertigkeiten, ideelle Werte)

So klingt es, wenn die Coping -Strategien nicht gereicht haben:

„Bei mir ist es die Angst, ich kann das nicht mehr hören” (eine Frau, ca. 55 Jahre)

„Immer die Sirenen!” (eine Frau, 57 Jahre)

„Zu Silvester kann ich nicht hinhören” (eine Frau, 57 Jahre)

„Ich schalte ab, damit ich es nicht sehe” (eine Frau, 75 Jahre)

In dem noch unreifen kindlichen Gehirn -im Bereich Zwischenhirn und Mandelkern - können seelische Eindrücke früheste Spuren hinterlassen.

Ich bin mir ganz sicher, dass sogar ungeborene Kinder durch Geschützdonner, Sirenen, Bombeneinschläge, Schreien von Mensch und Tier, Unterernährung der Mutter und Ausschüttung von mütterlichen Stresshormonen traumatisch belastet werden [5].

Wir müssen sogar diskutieren, ob es nicht zu pränatalen Psychotraumatisierungen kommen kann. Da basale Psychotraumatisierungen ohnehin häufig nicht leicht in eine Begrifflichkeit übergeführt werden können, hätten es diese Menschen später besonders schwer, ihre Leiden in Worte zu fassen.

Akut kriegstraumatisierte Mütter oder Väter begegnen ihren Kindern sofort mit einer qualitativen Veränderung ihres Beziehungsangebotes, ohne dies den Kindern kausal erklären zu können. Wenn sich ein basales psychotraumatisches Belastungssyndrom entwickelt hat und prozesshaft in eine Störung zwischen „Innen” und „Außen” gemündet ist, können die Betroffenen unter mehr oder weniger schweren neurotischen oder gar psychotischen Artefakten mit Veränderungen aller sozialer Kompetenzen leiden.

„Nimm Rücksicht auf den Vater, der hat soviel durchgemacht” (eine Tochter über ihre Mutter)

„Ich konnte nie etwas verlangen; - Du kannst doch jetzt nicht daran denken, wenn dein Bruder tot ist” (eine Tochter, Ende 50, über ihre Mutter)

„Ich habe meinen Vater gehasst, er war brutal. Erst als er alt und krank wurde, fanden wir zueinander” (ein Sohn, Ende 40, über den Vater )

„Immer und immer wieder erzählt er dasselbe vom Krieg” (eine Tochter über ihren Vater)

Familien verharrten lange in Sprachlosigkeit und Geheimnissen. Kinder verinnerlichten über Jahre innere Bilder von Familienwelten, die von anhaltenden Extrembelastungen gezeichnet waren: Verwundungen, Entsetzen bei Beobachtungen von Greueltaten, Angst, Panik, Vergewaltigungen, Entführungen, Flucht, Hunger, Krankheit, Armut, Verlust von Angehörigen, Ghettoisierung, sozialer Abstieg, Unterwerfung, Entwürdigung, ausgestoßen sein, Furcht vor der Wiederkehr des Traumas, der Bedrohung, zusätzliche Schuldgefühle wegen des eigenen Überlebens und des Todes naher Familienmitglieder.

Bindungs - und Beziehungskonfusionen führten darüber hinaus zu weiterer Regression, das bedeutete - besonders bei Kindern - Rückschritt von bisher erreichten Entwicklungsschritten in frühere Verhaltensweisen.

Die so wesentliche, narzisstische, unbewusste Sicherheit der eigenen Unversehrbarkeit an Leib und Seele war zerstört.

Die Gefahr der späteren Retraumatisierungen zeigte sich besonders dann, wenn weitere persönliche Verluste (Isolation von Familien, Tod von nahen Angehörigen, Arbeitslosigkeit, Berentung, Wohnungsverlust, äußere und innere Vereinsamung) durch zunehmendes Alter zusätzlich auftraten.

Wenn die primäre Traumatisierung eines Betroffenen bereits zu einer psychischen Fragmentierung mit regressiven Verhaltensweisen führte, konnte jede einzelne Situation bei sich selbst oder einem nahen Angehörigen bei entsprechender Disposition und persönlichem Reifegrad zusätzlich zu erheblichen psychischen Einbrüchen mit späteren pathologischen Fixierungen führen.

Aufgrund der Zahlen, die ich Ihnen oben nannte, müssen wir davon ausgehen, dass posttraumatische Belastungsstörungen bzw. basale psychotraumatische Belastungssyndrome nach dem 2. Weltkrieg in epidemischer Größe vorhanden waren und zu einer gewaltigen Morbidität in der überlebenden Bevölkerung geführt hatte.

Retraumatisierungen müssen über Jahre hinweg in den Familien vorhanden gewesen sein, da zunächst kaum Bewältigungsstrategien erarbeitet werden konnten und die traumatische Einwirkungsphase in vielen Fällen über Jahre anhielt.

Trotzdem wurde die Existensicherung wohl überwiegend durch lehrbuchhafte Modi der Konfliktverarbeitung geleistet: Ungeschehenmachen, Verdrängen, Abspalten und Dissoziieren, Rationalisieren und Sublimieren.

„Das war eben so!” (eine Frau, 60 Jahre)

War es zunächst die existentielle Not, die eine äußere Strukturierung forderte, so war es später das sog. „Wirtschaftswunder”, das stärkere Handlungskompetenzen freisetzte und für materielle, narzisstische Gratifikation sorgte - auch eine Form der oberflächlichen Wiedergutmachung.

Selbstverständlich waren die intrapsychischen Konfliktfelder nicht durchgearbeitet. Die Kriegsgenerationen hatten längst ihre einst internalisierten Bilder, Bindungsmuster und (politischen?) Werte verändert und diese wiederum verändert an die aufwachsenden Kinder weitergegeben. Damals hatten kleine Kinder völlig neue Bilder, die bereits pathologische Verzerrungen enthielten, internalisieren müssen.

Es könnte theoretisch durchaus möglich sein, dass es im Rahmen von verzerrenden Transpositionen und erneuten zusätzlich

kumulativen ( inhaltlich unterschiedliche aber unterschwellige Tr.)

oder

sequentiellen ( Tr., immer ein Leitmotiv betreffend und sich wiederholend)

Traumatisierungen zur Verschiebung ethischer Normen kommt und Gewalt freisetzt, wie wir sie derzeit in der rechtsradikalen Szene erleben.

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Wie stellt sich die heutige medizinische -psychotherapeutische Situation dar?

Soweit mir bekannt ist, wurden in den Nachkriegsjahren keine speziellen Psychotherapien bei basal psychotraumatisierten Menschen angewandt, ganz abgesehen davon, dass die Diagnose unbekannt war. Statt dessen wurden auftretende Depressionen medikamentös und mit Elektrokrampf- und Insulinschock - Therapie behandelt.

Aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse hat sich auch langsam das Bewusstsein in der deutschen psychotherapeutischen Welt endlich dahingehend verändert, dass Zusammenhänge zwischen Kriegstraumata und nach Jahren noch auftretenden scheinbar unerklärlichen seelischen Leiden nicht mehr rundweg abgelehnt werden („Rentenneurose”), Darüber hinaus wird jetzt auch die Kenntnis über die unbewusste Weitergabe undurchgearbeiteter, fixierter Konfliktmuster an die Kindergeneration akzeptiert.

Dabei gibt es ein Problem:

Die Großelterngeneration ist verstorben, die Elterngeneration finden wir jetzt noch unter den ältesten Menschen dieses Landes, auch von diesen sind viele bereits verstorben, die Kindergeneration finden wir unter den Patienten etwa vom 54. LJ. an wieder.

Die von mir zitierten Frauen befanden sich bei Kriegsende bis auf eine Ausnahme im Kleinkindalter bzw. waren noch nicht geboren.

Bei Menschen im höheren Lebensalter mit einer vor Jahren erlittenen Kriegstraumatisierung treffen wir zunächst häufig auf unspezifische psychosomatische und psychische Symptome, die wie Relikte einer sog. frühen Störung anmuten, bevor nach ausgiebiger Exploration der ursächliche diagnostische Zusammenhang deutlich wird.

Das Dogma der geronto-psychotherapeutischen Behandlung seitens der Ärzte und Psychotherapeuten wie auch der Krankenkassen muss sich nun dahin gehend verändern, dass eine angemessene Psychotherapie auch für Patienten über 60 Jahren durchgeführt und bezahlt wird.

„Mit mir stimmt was nicht” (eine Frau, 65 Jahre)

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Diagnostik

Psychosomatische Beschwerden können bei gerontologischen ebenso ein Äquivalent für seelisches Leiden sein wie bei den jüngeren Patienten

Gerade in Altersheimen verbergen sich u.U. hinter Sucht, „Unleidlichkeit”, „Aggressivität” und „Depression”, sogar hinter vermeintlichem „Geiz” und Ablehnung körperlicher Berührung und Beharrlichkeit, bei Frauen Ablehnung pflegender oder betreuender Männer, massive dissoziierte psychotraumatische Belastungen, die nicht verbalisiert werden können. Es ist wirklich angebracht, statt einer hohen Medikation vielleicht im ärztlichen Gespräch einen Faden aufzunehmen, der ganz woanders hinführt.

„Alle fähigen Hebammen und Helferinnen spritzten den Vergewaltigten ohne Unterbrechung Antibaby - Spritzen in die Gebärmutter...”

„In der ersten Tagen hatten die jungen Frauen noch nicht die Möglichkeit, im Rathaus Schutz zu suchen, ...allen jungen Frauen und Mädchen ab 15 Jahren drohte die Registrierung. Wir wussten sehr gut, dass es heißen könnte, nach Sibirien verschleppt zu werden [4].”

Unabhängig vom Alter muss eine psychotraumatologische Diagnostik durchgeführt werden. Sie erfordert eine fachgerechte tiefenpsychologische Exploration in mehreren Sitzungen. Der prozesshafte Verlauf muss analysiert werden können. Nur dann kann eine ursachengerechte Therapie konzeptualisiert und eingeleitet werden.

Diagnosen aus nur einem therapeutischen Kontakt sind nicht zulässig. [6]

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Therapie

Therapeutische Interventionen wie bei kürzlich eingetretenen basalen psychotraumatischen Belastungen halte ich nicht für angebracht, weil bei den Patienten, von denen ich im Augenblick spreche, die traumatischen Ereignisse und die Reaktionsbildungen darauf u. U. nicht klar abzugrenzen aber dennoch stark fixiert sind.

Grundsätzlich sind alle anerkannten Verfahren möglich. Ich gebe allerdings der Kombination mit nonverbalen, und da besonders der bildlichen Darstellung mit Papier und Ton, den Vorzug gegenüber nur verbalen Verfahren.

Bei älteren Patienten habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass - entsprechend der entwicklungspsychologischen Entstehungstufe psychosomatischer Erkrankungen - die manuelle Zuwendung einer erfahrenen Physiotherapeutin zusätzlich hilfreicher sein kann als viele Gespräche.

Der wichtigste Schritt in die Therapie beginnt auch hier - wie überall in der Medizin, mit der Vorstellung, dass es noch etwas Anderes gibt als das, was man bisher gewusst hat.

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Literatur

  • 1 Brecht B. Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter... Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Verlag Michael Kellner 1985
  • 2 Bode S. O-Ton „Katharina” in der Sendung „Vater ist im Krieg, das Leben geht weiter... Was Kinder in Feldpostbriefen schrieben”. NDR XI/00
  • 3 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma. Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen. Vesalius - Verlag Konstanz; 2000
  • 4 Bellon E. Die Russen kommen. Erinnerung an den Mai 1945. Bad Doberaner Jahrbuch 2000
  • 5 Spranger H. Es ist nicht zu spät!. Evangelische Akademie Dokumentation der Tagung vom 17.-19. 4. 2000 Bad Boll; Kriegskinder gestern und heute 37 ff.
  • 6 Spranger H. Der Fall Hüseyin Calhan. 2000
  • 7 Deneke F W. Psychische Struktur und Gehirn, die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten. Schattauer Stuttgart, New York; 1999
  • 8 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB Stuttgart; 1999
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Weiterführende Literatur

  • 9 Bäuerle P. et al .Klinische Psychotherapie mit älteren Menschen. Verlag Hans Huber Bern; 2000
  • 10 Heuft G. et al .Lehrbuch der Geronto-Psychosomatik und Alterspsychotherapie. UTB Stuttgart; 2000
  • 11 Peres S. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. dtv premium München; 1999
  • 12 Radebold H. Psychodynamik und Psychotherapie. Springer Heidelberg; 1992
  • 13 Richter H E. Wanderer zwischen den Fronten. Kiepenheuer und Witsch Köln; 2000
  • 14 Richter H E. Umgang mit der Angst. Econ Taschenbuch-Verlag München; 2000

1 4 Kriterien des bPTBS = basales (grundlegendes) psychotraumatisches Belastungssyndrom

1 - Ein belastendes Ereignis, das in einem Zustand der objektiven oder subjektiven Hilflosigkeit erfahren wird. Das Gleiche gilt für belastende Lebensumstände, die über einen längere Zeitraum hinweg bestehen.

1 - Wiederkehrende, plötzliche Erinnerungen an das Ereignis, z. B. in Alpträumen oder in sog. „flash-backs”, in „Nachhallerinnerungen”, in denen wie in einem Horrorfilm, Szenen vom traumatischen Geschehen ständig wiederkehren. Manchmal tauchen auch nur Bruchstücke auf wie Gerüche, Geräusche oder Körperempfindungen, die mit den Vorfällen anscheinend in keinem Zusammenhang stehen.

1 - Vermeiden von allem, was an das Trauma erinnert oder erinnern könnte, so z.B. ängstliche Vermeidung von Zügen und Straßenbahnen, wenn ein Zugunglück das Trauma verursacht hat, oder auch schon das Reden über Züge, Straßenbahnen oder andere Verkehrsmittel. Die ängstliche Vermeidungshaltung kann sich mit der Zeit immer weiter ausbreiten

1 - Eine gesteigerte Erregbarkeit und Schreckhaftigkeit. Die Betroffenen können keine Ruhe finden und schrecken zusammen bei allen ungewöhnlichen Vorkommnissen, nicht nur bei solchen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Das autonome Nervensystem, das die vitalen Überlebensfunktionen beim Menschen regelt, befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft. Es ist, als wenn ein Motor auf Hochtouren läuft, ohne, dass ein Weg zurückgelegt wird.

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Autorin:

Dr. Helga Spranger

FÄ f. Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie, FÄ f. Psychotherapeutische Medizin

Fritz Reuterweg 17

24229 Strande

Phone: Tel.: 04349-919457

Email: hspra@t-online.de

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Literatur

  • 1 Brecht B. Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter... Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Verlag Michael Kellner 1985
  • 2 Bode S. O-Ton „Katharina” in der Sendung „Vater ist im Krieg, das Leben geht weiter... Was Kinder in Feldpostbriefen schrieben”. NDR XI/00
  • 3 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma. Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen. Vesalius - Verlag Konstanz; 2000
  • 4 Bellon E. Die Russen kommen. Erinnerung an den Mai 1945. Bad Doberaner Jahrbuch 2000
  • 5 Spranger H. Es ist nicht zu spät!. Evangelische Akademie Dokumentation der Tagung vom 17.-19. 4. 2000 Bad Boll; Kriegskinder gestern und heute 37 ff.
  • 6 Spranger H. Der Fall Hüseyin Calhan. 2000
  • 7 Deneke F W. Psychische Struktur und Gehirn, die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten. Schattauer Stuttgart, New York; 1999
  • 8 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB Stuttgart; 1999
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Weiterführende Literatur

  • 9 Bäuerle P. et al .Klinische Psychotherapie mit älteren Menschen. Verlag Hans Huber Bern; 2000
  • 10 Heuft G. et al .Lehrbuch der Geronto-Psychosomatik und Alterspsychotherapie. UTB Stuttgart; 2000
  • 11 Peres S. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. dtv premium München; 1999
  • 12 Radebold H. Psychodynamik und Psychotherapie. Springer Heidelberg; 1992
  • 13 Richter H E. Wanderer zwischen den Fronten. Kiepenheuer und Witsch Köln; 2000
  • 14 Richter H E. Umgang mit der Angst. Econ Taschenbuch-Verlag München; 2000

1 4 Kriterien des bPTBS = basales (grundlegendes) psychotraumatisches Belastungssyndrom

1 - Ein belastendes Ereignis, das in einem Zustand der objektiven oder subjektiven Hilflosigkeit erfahren wird. Das Gleiche gilt für belastende Lebensumstände, die über einen längere Zeitraum hinweg bestehen.

1 - Wiederkehrende, plötzliche Erinnerungen an das Ereignis, z. B. in Alpträumen oder in sog. „flash-backs”, in „Nachhallerinnerungen”, in denen wie in einem Horrorfilm, Szenen vom traumatischen Geschehen ständig wiederkehren. Manchmal tauchen auch nur Bruchstücke auf wie Gerüche, Geräusche oder Körperempfindungen, die mit den Vorfällen anscheinend in keinem Zusammenhang stehen.

1 - Vermeiden von allem, was an das Trauma erinnert oder erinnern könnte, so z.B. ängstliche Vermeidung von Zügen und Straßenbahnen, wenn ein Zugunglück das Trauma verursacht hat, oder auch schon das Reden über Züge, Straßenbahnen oder andere Verkehrsmittel. Die ängstliche Vermeidungshaltung kann sich mit der Zeit immer weiter ausbreiten

1 - Eine gesteigerte Erregbarkeit und Schreckhaftigkeit. Die Betroffenen können keine Ruhe finden und schrecken zusammen bei allen ungewöhnlichen Vorkommnissen, nicht nur bei solchen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Das autonome Nervensystem, das die vitalen Überlebensfunktionen beim Menschen regelt, befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft. Es ist, als wenn ein Motor auf Hochtouren läuft, ohne, dass ein Weg zurückgelegt wird.

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Autorin:

Dr. Helga Spranger

FÄ f. Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie, FÄ f. Psychotherapeutische Medizin

Fritz Reuterweg 17

24229 Strande

Phone: Tel.: 04349-919457

Email: hspra@t-online.de