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DOI: 10.1055/s-2002-34641
Primärprävention des plötzlichen Herztodes - und die Angst vor der Wahrheit
Primary prevention of sudden death - afraid of the truthPublication History
Publication Date:
11 October 2002 (online)
Prof. Dr. H. Klein, Magdeburg
„Plötzlich und unerwartet” steht auf vielen Todesanzeigen. War aber jener plötzliche Todesfall wirklich so unerwartet? Die jüngsten Zahlen des „Center for Disease Control and Prevention” der USA enthüllten eine erschreckende Wahrheit. Von 730 000 kardialen Todesfällen im Jahr sterben 63 % durch plötzlichen Herztod. Eine Koronarerkrankung haben 62 %, wobei 35 % eine chronische Erkrankung der Herzkranzgefäße haben und 27 % im akuten Infarktstadium plötzlich sterben. Derartig genaue Zahlen gibt es in Deutschland nicht. So werden seit vielen Jahren Schätzwerte zwischen 70 000 und 100 000 plötzlichen Todesfällen angegeben. Warum haben wir eigentlich diese präzisen Angaben nicht? Wollen wir sie vielleicht auch gar nicht haben, weil sie gesundheitspolitischen Sprengstoff enthalten?
Seit 15 Jahren liegen uns Ergebnisse von Studien zur Primärprävention des plötzlichen Herztodes vor. Wir haben die verlässlichen und die unsicheren Risikoparameter analysiert und insbesondere für den Zustand nach Infarkt ein therapeutisches Schema entwickelt, das die Primärprävention des plötzlichen Herztodes bei Koronarkranken zu einer Hauptaufgabe machen könnte. Dies geschieht aber keineswegs, und so verwundert es auch nicht, dass im deutschen Gesundheitswesen weniger als 15 % der Gesamtkosten des Gesundheitsetats für Primärprävention ausgegeben werden.
Antiarrhythmika, sowohl der Klasse I wie auch Amiodaron und selbst die neuen Substanzen, die noch nicht auf dem Markt sind, haben sich als Versager sowohl in der Sekundär- als auch in der Primärprävention herausgestellt. Einzig gebliebenes Verfahren zur Verhinderung des plötzlichen Herztodes ist daher der im-plantierbare Kardioverter-Defibrillator (ICD). Während die MADIT- und die MUSTT-Studie neben der reduzierten linksventrikulären Funktion noch die programmierte Ventrikelstimulation bei nicht anhaltenden Kammertachykardien zur Risikostratifikation nach Infarkt verwendet haben und sich beide Studien damit auf ein Patientenkollektiv mit besonders hohem Risiko konzentriert haben, wurde in der vor wenigen Monaten publizierten MADIT-II-Studie nur die Auswurffraktion des linken Ventrikels (LV-EF ≤ 30 %) als Risikomarker für einen plötzlichen Herztod nach Myokardinfarkt verwendet. Die Gesamtletalität wurde durch die ICD-Therapie um 31 % und die Letalität durch plötzlichen Herztod um 61 % gesenkt. Dieses eindrucksvolle Ergebnis wurde bisher in keiner anderen vergleichbaren Primärpräventionsstudie erreicht. Obwohl wissenschaftlich unbestritten - und damit Evidenz basiert - stößt MADIT II auf kaum nachvollziehbare Ablehnung.
In den USA hat die FDA nur 3 Monate nach Publikation der Studie die Indikation zur ICD-Therapie für Postinfarkt Patienten mit deutlich erniedrigter Auswurffraktion (LV-EF ≤ 30 %) festgelegt und, ähnlich wie nach MADIT, ist seither die Zahl der ICD-Implantationen stark angestiegen. In Deutschland dagegen wird argumentiert: „nicht machbar”, „man kann nicht allen Leuten einen ICD implantieren”, „sprengt das Gesundheitssystem”. Es ist zu befürchten, dass, ähnlich wie nach MADIT, die ICD-Therapie für die Primärprävention des plötzlichen Herztodes in Deutschland kaum einen Aufschwung erfahren wird, obwohl die Risikostratifikation so einfach geworden ist.
Welche Logik steckt dahinter? Wir fordern allenthalben Primärprävention, wir wollen nur Evidenz-basierte Medizin - nur zu teuer darf sie nicht sein. Dabei ist jetzt schon klar, dass viele sekundärpräventive Maßnahmen und auch andere Primärpräventionen langfristig deutlich teurer sind. Unklar ist dagegen noch, für wie viele Patienten überhaupt nach Infarkt bei derzeit optimaler Therapie mit Betablockern, ACE-Hemmern und Statinen die ICD-Primärprävention als „on top” Therapie erforderlich sein wird.
Wir Ärzte entwickeln ein seltsames Verhalten. Plötzlich werden wir zu Gesundheitsökonomen und Gesundheitspolitikern und verteidigen in dem Moment ein Gesundheitssystem, wo klar wird, dass wir es ändern müssen, wenn das erreicht werden soll, was wir gefordert haben. Ärztliches individuelles Entscheiden darf natürlich nicht durch den „blinden Studiengehorsam” ausgesetzt werden. Aber wollen wir warten, bis der Patient - oder der Jurist - die ihn schützende Therapie einklagt? Wie viele Studien muss es geben, bis wir verstanden haben, dass wir das Gesundheitssystem beeinflussen müssen und nicht das Gesundheitssystem uns?
Prof. Dr. med. H. Klein
Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie, Zentrum
für Innere Medizin, Otto-von-Guericke Universität
Magdeburg
Leipziger Straße 44
39120
Magdeburg