Balint Journal 2002; 3(3): 84-85
DOI: 10.1055/s-2002-33784
Original
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der besondere Fall

H. Otten1
  • 1Wienhausen
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Publication Date:
03 September 2002 (online)

Eine Kollegin berichtet über eine Arzt-Patienten-Beziehung in einer Balint-Gruppe, die sich 4-mal im Jahr an einem Wochenende trifft. Die Teilnehmer der Gruppe kennen sich schon lange und arbeiten in dieser Konstellation schon viele Jahre zusammen. Das Alter der Gruppenmitglieder liegt jetzt um 55 Jahre herum mit nur geringen Abweichungen - die 68er Generation.

Nach den vorhergegangenen Sitzungen an diesem Wochenende ist der Kollegin spontan ein Ehepaar eingefallen, er 91, sie etwa 10 Jahre jünger. Sie leben in einem kleinen Ort in den neuen Bundesländern, haben dort immer gelebt. Er ist vor 30 Jahren dort als Schulrat pensioniert worden, sie war nicht berufstätig, hat eine Tochter großgezogen, die heute als Professorin an einer westlichen Universität arbeitet. Die Tochter ist Ende 40 und alleinstehend.

Die Kollegin hat sich vor einiger Zeit entschlossen, den alten Herrn in ihre Hausbesuchsrunde mit aufzunehmen, ihn also in regelmäßigen Abständen zu Hause zu besuchen, da er zunehmend schlecht laufen kann.

Die alten Leute wohnen in einem Haus, an dem seit „der Hochzeit der beiden nichts verändert wurde” - so der Eindruck der Kollegin. Ebenso wirkt die Wohnung. Die Tapeten sind nie erneuert worden, aber gut erhalten, es liegen Spitzendeckchen auf den Sesseln, die ebenso gut erhalten sind, die Deckchen regelmäßig frisch gewaschen, gestärkt, gebügelt, seit etwa 50 Jahren ohne Veränderung. Es wirkt „modrig”, obwohl sauber und ordentlich.

Bei einem Hausbesuch fällt der Ärztin auf, dass die Frau Unterschenkelödeme hat. Sie ist ansonsten schlank, außerdem selten in Behandlung, wirkte bisher gesund. Darauf angesprochen, sagt die Patientin, sie habe öfter „dicke Beine”, das gehe auch wieder weg, sie mache sich darum keine Sorgen. Die Kollegin möchte den Puls fühlen, was die alte Dame nur widerwillig gestattet. Es ist eine Arrhythmie zu tasten. Abhorchen lässt sie sich nicht. Nach langwierigen Überredungskünsten kommt sie Wochen später in die Praxis und lässt sich untersuchen. Die Kollegin stellt eine absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern fest bei dekompensierter Herzinsuffizienz. Das Langzeit-EKG zeigt Frequenzen bis unter 40/min. Eine Schrittmacherimplantation wird erwogen. Die Pat. weist darauf hin, dass sie symptomfrei sei und es ihr gut gehe. Die verschriebenen Medikament wolle sie wohl nehmen, mehr aber auch nicht. Und sie bittet die Ärztin, nicht mit der Tochter darüber zu sprechen, sie wolle sie nicht beunruhigen. Dies beunruhigt die Kollegin. Nicht daran rühren, keine weiteren Schritte unternehmen? Stimmt das mit ihrer Verantwortung überein? Sie mag die Patientin, möchte mehr für sie tun, spürt aber deutlich ein Unbehagen. Sie möchte mit Hilfe der Gruppe herausfinden, was diesem Unbehagen zugrunde liegt.

In der Gruppendiskussion wird zunächst das „schöne Bild” des alten Ehepaares aufgenommen - Philemon und Baucis. Er sitzt im weißen gestärkten Hemd mit Schlips und sauberer Strickweste, ein wenig vornübergebeugt durch seinen Bechterew, immer auf dem gleichen Platz, wenn die Ärztin kommt, die Beine hoch gelegt auf einen Hocker, freundlich zugewandt, nicht klagend, nichts fordernd, zufrieden. Die Ehefrau scheint ihn liebevoll zu umsorgen, sich selbst zurückzustellen, ebenso freundlich zugewandt. Eine geschilderte Szene passt in dieses „schöne Bild”: die alte Dame holt ihre Tochter vom Bahnhof ab mit einem alten Handwagen, auf den das Gepäck geladen wird. Beide ziehen lachend mit dem Wagen vom Bahnhof durch die Stadt nach Hause. Auch hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Sehnsucht nach der „heilen Welt” wird angesprochen.

Aber allmählich kommen auch Zweifel auf: „Irgendwo ist da der Wurm drin”, sagt ein Kollege. Wollen wir an dieser schönen Fassade wirklich kratzen? Sollen wir nicht alles so lassen, uns keine weiteren Gedanken machen, der Kollegin zureden, dass sie die Pat. nur so weit versorgt, wie diese es möchte?

Es geht nicht. Etwas „wurmt”, lässt weitere Gedanken, Fantasien, Gefühle aufkommen. „Diese beiden haben in wirren Zeiten und verschiedenen politischen Systemen gelebt, wie mögen sie das durchgestanden haben?” Der Mann hat es bis zum Schulrat gebracht in der DDR, also muss er Parteimitglied gewesen sein, politisch aktiv, systemtreu. Wie hat er sich im Dritten Reich verhalten? War er da auch aktiv? Übernimmt er Verantwortung für sein Handeln? Oder ist er einer, der sagt „KZ’s hat es nie gegeben”? Und wie hat sie sich verhalten? Ist sie mitgelaufen? Hat sie Gewissensbisse gehabt? Wie denkt sie heute darüber - nach der Wende, wieder in einem neuen politischen System? Kann sie wirklich so problemlos mit diesen Veränderungen leben? Wie viele Leichen haben die beiden im Keller? Wer von dieser Generation hat schon keine Leichen im Keller? Und dann auch noch jemand, der am politischen Leben, an der Ausbildung von Kindern mitgewirkt hat an wichtiger Stelle. Und jetzt wirkt er wie ein liebenswerter älterer Herr ohne Fehl und ohne Tadel, ohne Forderungen, bescheiden, zurückhaltend.

Und sie wehrt die angebotene Hilfe ab, will nicht „in sich hineinhorchen” lassen, „Unregelmäßigkeiten” nicht aufdecken lassen. Da nimmt sie lieber Risiken in Kauf. Und vor allem: die Tochter soll nichts wissen. Kennt sie die Wahrheit, hat sie sich Gedanken gemacht, hinter die Fassade gesehen? Hat sie die Eltern je gefragt nach ihrem Leben, nach ihrem Leiden, nach ihrem Handeln?

Um 1910 geboren der Vater, kurz vor dem 1. Weltkrieg. Was mag er als 4 - 8-Jähriger davon mitbekommen haben? Dann die 20er Jahre mit ihrer Oberfächlichkeit als manische Abwehr der Kränkung und Depression nach dem Ende und den Folgen des 1. Weltkriegs. Dann 1933. Der Pat. mag im Studium gewesen sein. Hat er Hitler zugejubelt? Ist er in die Partei eingetreten? 1939 - Kriegsausbruch - war er aktiv dabei? Hat er „Ja” geschrien auf die Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?” Wie hat er den Krieg überstanden? Kam er als gebrochener Mann aus dem Geschehen? War er an der Front? Nach dem Krieg gründete er eine Familie. Er heiratet eine 10 Jahre jüngere Frau, bekommt eine Tochter Anfang der 50er Jahre; er ist eben über 40. Er hat sich eingerichtet in seinem Heimatort in der „Sowjetisch besetzten Zone”, erlebt die Gründung der DDR. Er wird Schulrat. Als solcher wird er Anfang der 70er Jahre pensioniert. Was hat er seiner Tochter davon erzählt? Hat sie gefragt? Hat er ihre Fragen beantwortet? War er ehrlich?

Und seine Frau - in den 20ern geboren, vielleicht 19 bei Ausbruch des Krieges. Was hat sie erlebt? Wie traumatisiert ist sie? Hat sie darüber sprechen können, die traumatischen Erlebnisse verarbeitet? Hat sie ihr „Haus bestellt”?

Was geht uns das alles an, was hat die Hausärztin damit zu tun? Muss sie die Anamnese so gründlich erheben? Die Kollegin betreut das Ehepaar bereits seit 20 Jahren und weiß doch nicht viel aus ihrer Geschichte.

Können wir - die 68er - die Nachkriegsgeneration, die mit der „Gnade der späten Geburt” - der Elterngeneration ihren Frieden nicht lassen? Haben sie nicht genug gelitten? Und dürfen sie die traumatischen Erlebnisse ihres Lebens nicht verdrängen, verleugnen, abspalten, um dann in Frieden zu sterben? Müssen wir aufdecken, die ganze Wahrheit herausfinden?

Was wurmt uns? Haben wir ein Recht, eine Pflicht nachzufragen? Müssen wir uns darum kümmern, ob die traumatischen Erlebnisse wirklich durchgearbeitet, verarbeitet, erledigt sind?

Der Begriff der „transgenerationalen Weitergabe des Traumas” taucht auf.

Sind es also eigene Interessen, die uns leiten? Plötzlich ist jeder mit ganz eigenen Gedanken, seiner eigenen Geschichte beschäftigt.

Und dann wieder taucht dieses alte, freundliche Ehepaar auf. Können wir nachfragen, in sie dringen, ihnen zu Gefühlen verhelfen, die sie nicht wollen, die sie erfolgreich verdrängt haben? Sollen Krieg und Not, Schuldgefühle, Schmerz und Trauer, ohnmächtige Wut und Verzweiflung noch einmal lebendig werden? Sie haben an Krieg und Not und an den fatalen politischen Systemen mitgewirkt und sind deren Opfer geworden. Nun sind sie alt, krank, gebrechlich, zurückgezogen, freundlich, leise, ohne Forderungen.

Muss die Tochter jetzt die verdrängten, verleugneten, abgespaltenen Gefühle der Eltern übernehmen, sie verarbeiten? Sie ist nicht verheiratet, hat keine Kinder. Wollte sie die Bürde nicht weiter geben an die nächste Generation? Ist sie das nächste Opfer? Da regt sich Empörung, Rebellion. Sie muss entsorgen, was die Elterngeneration angerichtet hat. Wie mag es ihr gehen? Scheinbar möchte die Mutter sie schonen, sie nicht mit ihrer Krankheit belasten. Ist sie ehrlich?

Gehören die geäußerten Gedanken und Gefühle noch zu dem Patientenehepaar? Oder lösen diese beiden nur aus, was in der Gruppe sichtbar wird?

Vielleicht bringt unsere jeweils eigene Geschichte mit der Elterngeneration uns in Gefahr, Hilfsangebote zu machen, die nicht in erster Linie dem Wohle dieser Patienten dienen. Wir sind mit unseren Gefühlen eher bei der Tochter, auf die wir möglicherweise eigene Erfahrungen projizieren.

Depressive und psychosomatisch erkrankte Patienten im Alter dieser Tochter aus der Nachkriegsgeneration kommen ins Gedächtnis, die ihre Eltern schildern. Eltern, die rüstig sind, überhaupt kein Verständnis für die Erkrankung von Sohn oder Tochter haben: „Du hast es so gut, dir geht es wirtschaftlich blendend, du hast nichts auszustehen, wir haben dir alles ermöglicht, eine gute Ausbildung, Zuschüsse zu deiner Existenzgründung, wir verstehen überhaupt nicht, wie du dich so hängen lassen kannst. Wir hatten es wirklich schwer: der Krieg, alles verloren, mit null von vorn angefangen. Und sieh uns an, wir haben durchgehalten und du . . .” Offenbar haben diese Eltern ihre Bürde erfolgreich weitergegeben. Und die Kinder haben sie unbemerkt angenommen, sehr oft, ohne zu verstehen, ohne die Zusammenhänge sehen zu können und mit dem Gefühl, gar kein Recht auf Trauer, Schmerz, Verzweiflung etc. zu haben. Muss die Kollegin sich um die Tochter sorgen, die sie sehr mag, mit der wir uns identifizieren können?

Kann sie die Eltern so gehen lassen?

Das Unbehagen hat jetzt ein Gesicht. Die Kollegin geht aufgewühlt aus der Gruppensitzung, die anderen Teilnehmer ebenso. Diese Gedanken werden nachwirken in uns allen.

Dr. med. Heide Otten

Appelweg 21

29342 Wienhausen

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