Balint Journal 2002; 3(1): 17-20
DOI: 10.1055/s-2002-23107
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Internationaler Balint-Preis 2001

Herr T. - oder Erfahrungen auf einer Palliativstation[1] Jan Schildmann1
  • 1Student im Praktischen Jahr, Berlin
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Publication Date:
25 March 2002 (online)

Es ist einige Wochen her, seit ich Freitag Nachmittag die Station das letzte Mal verließ. Auf dem Weg zum Ausgang zögerte ich kurz - ich entschied mich dagegen, bei Herrn T. noch einmal hinein zu schauen, seine Familie war jetzt bei ihm.

Vier Monate zuvor hatte ich die Station mit gemischten Gefühlen betreten. Es war meine Wahl gewesen, das erste Tertial des Praktischen Jahres auf der Palliativstation zu verbringen, einer Einrichtung für schwer kranke und sterbende Patienten, von der ich vor einigen Monaten erstmalig gehört hatte. Ich stellte mir vor, dass diese Station eine am Patienten orientierte Medizin praktiziert, die neben somatischen auch den psychischen und sozialen Bedürfnissen der Patienten Rechnung trägt. Nach Jahren eines überwiegend naturwissenschaftlich - theoretisch geprägten Studiums suchte ich nach einem solchen Ort, um die ersten Schritte im klinischen Denken und Handeln zu tun. Die beiden Stationsärzte hatte ich in kurzen Gesprächen als engagierte Menschen kennen gelernt und freute mich darauf, einiges von ihnen zu lernen. Ich wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bevor mir die praktischen Tätigkeiten wie eine Braunüle zu legen oder Transfusionen anzuhängen routiniert von der Hand gehen würden, und war unsicher, ob die Begegnung mit Patienten auf dieser Station mich neben all diesem Neuen nicht überfordern würden. Außerdem schienen mir meine Erwartungen und Hoffnungen, die mit dem Start in die klinische Tätigkeit verbunden waren in einem krassen Gegensatz zu dem zu stehen, was Menschen im letzten Abschnitt ihres Lebens möglicherweise beschäftigte. Und etwas verborgener unter diesen Bedenken steckten Gefühle, die ich als Angehöriger vor einigen Jahren durchlebte und von denen ich hoffte, dass sie sich durch die anstehende Arbeit nicht wieder ganz in den Vordergrund schieben würden.

Es waren wenige Patienten auf der Station. Die leitende Ärztin bat mich, bei einem von ihnen kurz vor der Entlassung noch den Status zu erheben. Der Patient, so erzählte sie mir, hatte sich kurz zuvor in einem Gespräch mit den Ärzten entschieden, die Chemotherapie nicht mehr fortzusetzen und stattdessen noch eine Reise zu machen. Im Stillen bewunderte ich diese klare Entscheidung in einer solch schwierigen Situation. Äußerlich nicht erkennbar hatte dieser junge Mann in den letzten Monaten sämtliche Chemotherapie-Schemata gegen den Hodentumor über sich ergehen lassen und schließlich doch erfahren müssen, dass der Krebs sich immer weiter in seinem Körper ausbreitete. Ich stellte mich vor und begann mit der Anamnese. Nach Sensibilitätsstörungen und verminderter Kraft in den Extremitäten als Folge der Chemotherapie befragt, meinte er unvermittelt, dass dies doch ohnehin keine Bedeutung mehr habe, es gäbe ja keine Therapie mehr. Wir kamen auf die nächste (die letzte ihm verbleibende) Zeit zu sprechen. Herr F. wollte, nachdem er die Schule und Ausbildung in Deutschland absolviert hatte, wieder zurück in die Türkei zur Familie seines Onkels und von dort aus reisen. Er fragte mich nach meinen Plänen und wir sprachen über die verschiedenen Reiseziele und Erlebnisse. Äußerlich unterhielten wir uns scheinbar flüssig und leicht, doch obgleich im Moment nicht wirklich fassbar, spürte ich sehr deutlich die Angst und Unsicherheit in unserem Gespräch mitschwingen. Angespannt verabschiedete ich mich und fühlte mich erleichtert, als ich das Zimmer verließ. Später, kurz bevor er die Station verließ, erzählte mir Herr F. auf dem Gang, er habe im Internet eine mögliche therapeutische Alternative für seine Krankheit gefunden und werde sich darum bemühen. Seine Sehnsucht, die zunächst hinter der ruhigen und abgeklärten Art verborgen war, war nun sehr stark zu spüren. Wir verabschiedeten uns, und ich wusste nicht mehr, als ihm viel Kraft für die kommende Zeit zu wünschen.

In den kommenden Wochen lernte ich die häufigen Beschwerdebilder der Patienten auf der Palliativstation und die verschiedenen Therapieformen kennen. Motiviert durch die beiden Stationsärzte las ich einiges über die Behandlung von Schmerzen, Übelkeit und anderen Symptomen. Es war mir wichtig, in die Lage zu kommen, alles medizinisch Mögliche für die Patienten zu tun. Freunden erzählte ich begeistert von meiner Arbeit auf Station. Ich war angetan von der Möglichkeit, die Schwierigkeiten, die das Sterben mit sich brachte, offen zu besprechen und wo möglich zu lindern. Auf die Nachfrage, ob das Ganze denn nicht sehr belastend für mich sei, entgegnete ich, dass man ja Grenzen setzen könne, um nicht zu nahe am Schicksal der Patienten zu sein.

Nach etwa einem Monat im PJ nahm ich an einem Tutorentraining zum Thema „Wahrheit am Krankenbett - schlechte Nachrichten überbringen” teil. Wir hatten in der Vergangenheit bereits einige Seminare dazu veranstaltet und wollten nun neue Tutoren für diese Arbeit gewinnen. In einem Rollenspiel als Arzt sollte ich eine Frau mit einem fortgeschrittenen kleinzelligen Bronchialkarzinom über ihre Diagnose aufklären. Ich war aufgeregt, doch das Gespräch verlief recht sachlich und ruhig, was im Nachgespräch zunächst positiv aufgenommen wurde. Eine Kommilitonin bemerkte schließlich, dass Gefühle, wie man sie in einer solchen Situation erwarten würde gar nicht spürbar gewesen wären. Das stimmte auch aus meiner Sicht und ich begann zu überlegen, warum das Gespräch so nüchtern abgelaufen war. Auf dem Nachhauseweg fiel mir ein, dass ich, abgesehen von der Begegnung am ersten Tag im Praktischen Jahr, bis dahin nur wenige Situationen erlebt hatte, die mich besonders beschäftigt hatten. Meine Ängste vor Beginn des Praktikums, durch belastende Gespräche zu sehr aufgewühlt zu werden, hatten sich, wie es mir jetzt schien, nicht bewahrheitet. Der Stationsalltag war klar strukturiert. In den Aufnahmegesprächen und den Visiten ging es darum, für die Probleme soweit möglich Lösungen zu finden und auf die Grenzen, die unserem Handeln gesetzt waren, hinzuweisen.

Das größte Abenteuer in diesem geregelten Ablauf waren die morgendlichen Blutentnahmen. Ein bisschen musste ich mich dazu zwingen, die Patienten morgens mit einem offenen „Wie geht es Ihnen?” zu begrüßen. Stets war ich froh, wenn es um Symptome ging. Dann konnte ich auf die anschließende Visite verweisen. Aber die Nächte waren für viele Patienten aus anderen Gründen die schlimmste Zeit. Viele konnten schlecht schlafen, einige spürten große Angst und ich hatte in diesen Momenten das Gefühl, wenig helfen zu können. (Ganz abgesehen davon wartete meist der Bote bereits auf die Blutröhrchen für das Labor, so dass ich den Druck spürte, rechtzeitig fertig zu werden.) Häufig konnte ich Gesprächen über die Ängste aber auch ausweichen, obwohl ich wusste, dass etwas in der Luft lag. Auf welche Art es mir gelang war mir nicht ganz klar, aber ich spürte, dass hier meine Grenzen waren. Offensichtlich kam es nicht nur auf die Begegnung mit den Menschen an sich an, sondern auch auf meine Offenheit, die ich den Patienten signalisierte oder eben nicht.

Als ich am Montag nach dem Trainingswochenende wieder die Station betrat, spürte ich eine innere Bereitschaft, etwas mehr zu wagen. Zunächst fiel mir auf, dass die beiden Ärzte auf der Station sehr unterschiedlich in den Begegnungen mit Menschen reagierten. Die leitende Ärztin hatte die Station vor einigen Jahren aufgebaut. Ein Uniklinikum war nicht eben ein leichter Standort für eine solche Einrichtung, und so manchen Strauß hatte sie schon ausfechten müssen, um vernünftige Arbeitsbedingungen zu erreichen. Ihr klinisches Wissen war umfangreich, und viele der Patienten verdankten ihrem Können gepaart mit kreativen Ideen Linderung ihrer Leiden. Im Gespräch mit den Patienten hörte sie sich die Sorgen an und erklärte, was getan werden konnte. Sie war klar und sprach es sehr direkt an, wenn Einschränkungen von Dauer waren und eine Besserung nicht mehr zu erwarten war.

Ihr jüngerer Kollege hatte vorher viele Patienten mit Krebserkrankungen ambulant betreut, die meisten hatte er bis zu ihrem Tod begleitet. Nicht selten setzte er sich nahe zu den Patienten und berührte sie, während er mit ihnen sprach. Ich erlebte es einmal, wie er die Frau eines Patienten, dessen Gesundheitszustand sich aufgrund eines Leberversagens dramatisch verschlechterte, einfühlsam darüber aufklärte, dass nun nicht mehr viel Zeit blieb.

Offensichtlich war dies zum Zeitpunkt der Diagnose nicht ausführlich geschehen, oder aber die Familie hatte es nicht wahrhaben wollen. Schließlich ermöglichte dieses Gespräch aber, dass sich die Mutter, Ehefrau und Kinder in den folgenden Tagen noch verabschieden konnten.

So verschieden mein Eindruck von diesen beiden Ärzten war, so sehr wurde mir deutlich, dass ich meinen eigenen Weg finden musste, in solchen Situationen klarzukommen. Wissen und gewisse Fertigkeiten im Gespräch erschienen mir für diese Aufgaben unerlässlich. Allerdings verbanden sich in derartigen Momenten diese objektiven Voraussetzungen deutlich mit dem eigenen menschlichen Sein. In Gesprächen über existenzielle Dinge, wie sie oft auf der Palliativstation geführt werden, wurde mir deutlich, wie sehr die persönliche Entwicklung, Haltung und die eigenen Werte die Beziehung zu den Patienten prägte.

Es war in dieser Zeit, als Herr T. auf unsere Station überwiesen wurde. Eigentlich unter der Obhut einer anderen Station der Abteilung, sollte er aufgrund der Bettenknappheit bei uns unterkommen, bis sein Fieber bei bestehender Leukopenie nach Chemotherapie abgeklungen war. Herr T. war knapp 30, doch sein Äußeres und auch sein Verhalten ließen ihn mindestens 10 Jahre jünger erscheinen. Er war stark untersetzt und hatte ein kindlich rundes Gesicht. Er wollte nur eins: so schnell wie möglich runter mit dem Fieber, raus aus dem Krankenhaus und weiter mit der ambulanten Chemotherapie.

Die Tage verbrachte er damit, ein Buch über seinen Lieblingsfußballverein zu lesen. Auf das Stationsteam wirkte er eher verschlossen und abweisend.

Eines Nachmittags durchblätterte ich die Akte mit seiner Krankengeschichte. Im Rahmen einer Routineuntersuchung nach einem Fahrradsturz wurde ein großer und bereits metastasierter Hodentumor entdeckt. Im vergangenen Jahr hatte man vieles probiert, aber es schien keine Therapie zu geben, die ein Fortschreiten verhinderte. Die jetzige Gabe war in der Akte als palliative Chemotherapie beschrieben worden. Die Arztbriefe zusammen mit dem Eindruck, den ich von ihm hatte, ließen in meiner Vorstellung einen einsamen jungen Menschen entstehen, der es aus Scham oder welchen Gründen auch immer nicht geschafft hatte, die deutlichen Veränderungen seines Körpers zum Anlass zu nehmen, früher zum Arzt zu gehen. Abgesehen von seinen Kumpels, den Fußballfans, gab es wohl auch keine nahestehenden Menschen geschweige denn eine Freundin, die ihn in dieser Hinsicht unterstützen hätte können. An diesem Nachmittag war ich so traurig, wie ich es vorher nur erlebt hatte, wenn es um Menschen aus meinem näheren Umfeld ging. Es fiel mir schwer, Herrn T. jeden Morgen Blut abzunehmen. Er sprach nur von den Blutwerten und der Wiederaufnahme der Therapie. An seinem Tonus und dem Zittern seiner Hände und der Unterarme fühlte ich die Anspannung des Patienten, der wohl irgendwo ahnte, dass es keine Heilung mehr für ihn gab. Allein er schien über keine Mittel zu verfügen anders mit dieser Situation umzugehen. Während seines etwa einwöchigen Aufenthaltes fand wohl keiner aus unserem Team einen engeren Kontakt zu ihm. Als wir ihm mitteilen konnten, dass die Werte sich besserten, hellte sich seine Miene auf und er ging sichtlich erleichtert von Station.

Weihnachten stand vor der Tür, und die Situation für die Patienten und das Personal spitzte sich zu. Die einen wollten unbedingt raus und konnten nur teilweise, andere blieben, weil ein Weihnachten außerhalb des geschützten Rahmens schrecklicher schien als alles andere.

Um Herrn M. hatte ich mich in dieser Zeit verstärkt gekümmert. Er hatte sich mit HIV infiziert und war nun im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit und eines Tumorleidens. Ursprünglich vom Lande kommend, konnten oder wollten ihn die Brüder zu Weihnachten nicht versorgen, und so wurde mit dem Patienten entschieden, dass er auf unserer Station seine letzte Zeit verbringen sollte. Bevor ich die Station verließ, ging ich noch einmal zu ihm und wünschte ihm für die anstehende Zeit alles Gute. Wir verabschiedeten uns herzlich und in der Trauer über den Abschied für immer lag auch unsere Dankbarkeit für die kurzen Begegnungen, die wir im Rahmen des Aufenthaltes hatten.

Es folgte ein Intermezzo auf der Notaufnahme. Dies veranschaulichte mir den Gegensatz zwischen einer eher begleitenden Heilkunde, deren Ziel es war, gemeinsam mit dem Patienten die anstehenden diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen zu treffen, und einer Medizin der schnellen, nicht selten lebensrettenden Entscheidungen für einen Patienten. Hier ging es darum zu entscheiden, wer sofortige Hilfe brauchte und wen man mit Empfehlungen für das weitere Vorgehen wieder entlassen konnte. Es war ein großer Gewinn für mich, in jeder Schicht eine ganze Reihe von Patienten zu sehen und im Verlauf der nächsten Stunden einige „Fälle abzuschließen”. Schnell sah man das Ergebnis der eigenen Bemühungen, der erhöhte Adrenalinspiegel sorgte für die notwendige Dynamik, und abends konnte ich mit dem angenehmen Gefühl, einiges geschafft zu haben, nach Hause gehen.

Natürlich gab es auch auf der Notaufnahme Patienten, die etwas anderes brauchten als sofortige Therapie oder die schnelle Einweisung auf eine spezialisierte Station. Doch hier musste es genügen, Verständnis zu zeigen und den Patienten eine ambulante Abklärung zu empfehlen, vielleicht sogar die Adresse eines bekannten Kollegen mit auf den Heimweg zu geben. Mehr konnte in diesem Setting nicht geleistet werden, der Rest lag in der Verantwortung anderer. Ich empfand es als großes Glück, in so kurzer Zeit diese beiden Seiten der Medizin kennen zu lernen und ihren Wert schätzen zu können.

Zurück auf der Palliativstation kannte ich zu meiner Überraschung zwei Patienten. Frau G. hatte in den vergangenen Wochen eine schwierige Zeit durchgemacht und war unter anderem intensivmedizinisch behandelt worden. Doch jetzt war sie wieder auf dem Weg der Besserung, und wir konnten sie schließlich wieder nach Hause entlassen. Hier hatten sich die Akutmedizin und der eher therapeutisch-versorgende Charakter unserer Station ideal ergänzt. Der andere Patient war der junge Herr T. Sein Zustand hatte sich drastisch verschlechtert. Sein Gesicht wirkte spitz, er hatte viel an Gewicht verloren. Sein Bauch war durch die große Aszitesmenge aufgebläht worden, auch seine Beine waren ödematös gespannt. Hinzu kam ein inkompletter Querschnitt, und seine Bewegungsfähigkeit nahm von Tag zu Tag ab. Im Vergleich zum vorherigen Aufenthalt schien er sich zunächst wenig verändert haben. Er bat um Therapie der Symptome und wartete auf ein Gespräch mit dem betreuenden Arzt über die weitere Chemotherapie. Das Gespräch fand statt und man kam überein, die Therapie „vorläufig abzusetzen”. Diesmal, so schien es mir, war es nicht der Bettenmangel, der Herrn T auf unsere Station gebracht hatte, sondern die Schwierigkeit, die sich für viele betreuenden Ärzte ergibt, wenn es kein Medikament mehr gibt: der Wechsel von einer kurativ orientierten Therapie hin zu einer Linderung der Leiden. Diese an sich schon schwer zu akzeptierende Änderung wird häufig zusätzlich erschwert durch ein Gefühl der Niederlage bei den beteiligten Ärzten. Schnell kommt es dann zu Aussagen wie „wir können leider nichts mehr für sie tun”. Herr T. versuchte in den kommenden Tagen alles daran zu setzen, die drohende Lähmung aufzuhalten. Seine Verzweiflung war verständlicherweise groß, und er sprach davon, durch Training auf einem Fahradergometer die Symptome aufzuhalten. Es war eine gewisse Ohnmacht, die ich angesichts solcher Entwicklungen spürte. Jedoch, ich wusste immer noch nicht wie ich mit dem Patienten offen über seine Situation hätte reden können.

Eines Morgens in der Visite fragte er: „Das mit den Beinen wird ja immer schlimmer. Geht es denn nicht, die Wirbelsäule nochmal zu bestrahlen, damit ich wieder laufen kann?”

Ärztin: „Das geht leider nicht. Sie hatten ja schon sehr viele Bestrahlungen gehabt und ab einem gewissen Punkt richtet man mehr Schaden als Nutzen an.”

T: „Aber wie soll es denn dann weitergehen?”

Ä: „Was meinen sie denn?”

T: „Naja ich weiß ja nicht so genau - Ich dachte man kann da noch was operieren oder so - denn sonst breitet sich der Tumor ja immer weiter aus und dann ist ja alles vorbei.”

Ä: „Aber Herr T. Sie haben doch selbst gemerkt dass die letzten Therapien eher belastend waren, als dass sie etwas genützt haben. Ich glaube wir müssen jetzt die Schwierigkeiten, gegen die wir etwas tun können, versuchen zu behandeln.“

T: „Das heißt also es gibt nichts mehr -
(Pause)
Wie lange werde ich denn dann noch haben?”

Ä: „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Das wissen wir wirklich nicht.”
(Pause)
Ä: „Wir können uns, wenn sie wollen, mit dem Neurologen wegen der Bestrahlung besprechen.”

T: „Ja - gut dann bis später.”

In der Mittagsbesprechung wurden das Gespräch und die Folgen noch einmal aufgegriffen. Die Schwestern berichteten, dass Herr T. sehr bedrückt aber auch offener schien. Das Gespräch und die Untersuchung des Neurologen hatten darüber hinaus ergeben, dass weitere Bestrahlungen in diesem Gebiet nicht sinnvoll erschienen. Mich hatten die Ereignisse des Vormittags sehr beschäftigt. Schon in den letzten Tagen war ich mit meinen Gedanken und Gefühlen häufiger bei Herrn T. als bei irgendeinem der anderen Patienten. Vielleicht war es das Alter, vielleicht auch seine kindliche, naive und verschlossene Art, die für mich etwas Aufforderndes besaß und mir den Impuls gab, kurz vor Feierabend noch einmal zu ihm zu gehen. Auf meine Frage, wie ihm nach den Ereignissen heute zumute sei, antwortete er gewohnt knapp: der Neurologe sei ja bei ihm gewesen und er wisse nicht genau, was rausgekommen sei. Ich wusste, dass der Arzt mit dem Patienten bereits gesprochen hatte und so antwortete ich, dass soweit ich es verstanden hätte die Bestrahlung, wie heute morgen ja schon angeklungen, keine Option sei. Durch seine für das schmale Gesicht mittlerweile zu groß geratene Brille starrte er auf die Wand, in die Leere. Er fragte noch einmal, ob man nicht wisse, wie lange es denn noch gehen würde. Wir unterhielten uns darüber, was auf Station für ihn getan werden könne und was er brauche. Er wollte in jedem Fall nach Hause und seine „paar Sachen, die man so hat” noch verteilen. Seine Worte trafen mich tief. In meinen Augen hatte er in den letzten Tagen Schritte einer Entwicklung vollzogen, von denen ich kaum geglaubt hatte, dass sie noch geschehen würden. Als ich an diesem Abend meiner Freundin von Herrn T. berichtete, weinte ich. Ich hatte während des ganzen Tertials kaum etwas über die Patienten erzählt und auch auf Nachfrage hielt ich mich sehr kurz. Es war wohl ein Teil meiner Angst, durch Reden zuviel in mir zu wecken, und ich fühlte mich stabiler, wenn ich die freie Zeit anders nutzte, als über die Patienten auf der Station nachzudenken. Jetzt war ich froh, erzählen und trauern zu können.

In den folgenden Tage verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Herrn T. weiter. In einem Gespräch mit dem Vater besprachen wir die Situation. Die Familienverhältnisse waren kompliziert und es stellte sich bald heraus, dass weder der Patient noch seine Angehörigen in der Lage waren, die Situation im häuslichen Rahmen zu tragen. Der Vater, dessen Verhältnis zum Sohn nicht ungetrübt war, gab sich alle Mühe, wann auch immer da zu sein. Er schilderte uns seinen Schmerz darüber, dass sein Junge so wenig Zeit gehabt hatte. Eine Tatsache, die besonders bitter für ihn schien, war der Umstand, dass Herr T. niemals eine Partnerin gefunden hatte. Ich dachte bei mir wie sehr diese Schilderungen zu meinen Fantasien über ihn passten. Die Geschwister, denen es sichtlich schwer fiel, überwanden sich und besuchten Herrn T. auf der Station. Am Freitag, meinem letzten Tag auf der Palliativstation, reiste die Mutter aus Westdeutschland nach Berlin, um ihren Sohn noch einmal zu sehen.

Herr T. starb, wie ich später vom Stationsarzt erfuhr, wenige Tage darauf. Die Begegnungen mit ihm, im Leben, und jetzt in meinen Gedanken sind Momente von einem tiefen Gefühl. Beschreiben kann ich es nicht - dankbar bin ich.

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh Dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke

1 Den Patienten auf der Palliativstation

1 Den Patienten auf der Palliativstation

Jan Schildmann

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