Viszeralchirurgie 2002; 37(1): 81-87
DOI: 10.1055/s-2002-20322
Der akademische Vortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Molekularbiologie und Chirurgie -
Zeitgeist oder Synergie?

Molekular Biology and Surgery - is there already Synergism?B.  Mann
  • 1Chirurgische Klinik I, Universitätsklinikum Benjamin Franklin, Fachbereich Humanmedizin,
    Freie Universität Berlin
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Publication Date:
26 February 2002 (online)

Antrittsvorlesung von Privatdozent Dr. med. Benno Mann aus der Chirurgischen Klinik I, Universitätsklinikum Benjamin Franklin, gehalten am 1. 12. 2000 im Fachbereich Humanmedizin der Freien Universität Berlin

Spektabilität, meine Damen und Herren,

das menschliche Genom ist seit einigen Monaten zumindest in seiner Basensequenz vollständig entschlüsselt. Dieses Wissen birgt noch nicht absehbare Möglichkeiten in der Diagnostik und der Therapie fast aller menschlicher Krankheiten. Ähnlich schwer zu überschauen sind allerdings auch die Gefahren, die die unkritische Anwendung dieser vorläufigen Erkenntnisse in vielerlei Hinsicht mit sich bringen kann. Exemplarisch seien hier nur die Prä-Implantationsdiagnostik oder versicherungstechnische Überlegungen erwähnt. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat seit 1997 eine Arbeitsgemeinschaft „Molekulare Diagnostik und Therapie in der Chirurgie”, CAMO. Ihr Emblem (Abb. [1]) suggeriert entweder, dass die molekulare Diagnostik die wichtigste chirurgische Tätigkeit - das Operieren - beeinflussen wird, oder, dass Chirurgen nicht mehr nur noch im Situs, sondern in Zukunft auch im Genom ihrer Patienten schneiden werden. Ich spreche heute zum einen über bestehende oder potenzielle Synergie zwischen molekularer Diagnostik und chirurgischem Handeln. Zum anderen möchte ich Gefahren aufzeigen, die entstehen, wenn neue, nicht validierte molekulare Befunde in die Klinik umgesetzt werden. Ich beginne mit zwei Beispielen von Patienten mit hereditären Tumorerkrankungen, die diese beiden Punkte deutlich machen.

Im ersten Beispiel handelt es sich um einen 8-jährigen Jungen aus einer Familie mit hereditärem medullären Schilddrüsenkarzinom (Abb. [2]), der sich 1991 in der Chirurgie vorstellte. Sein Großvater war in diesem Jahr an der Krankheit verstorben; die Mutter und die Schwester waren im Alter von 25 und 15 Jahren operiert worden. Beide waren durch die Operation bei fortgeschrittenem Tumorstadium nicht mehr zu heilen gewesen. In großer Sorge waren bei dem Jungen jährlich der spezifische Tumormarker, das basale und stimulierte Calcitonin bestimmt worden, und es fanden sich mehrfach grenzwertig erhöhte Werte. 1991 wurde schließlich die Indikation zur Thyreoidektomie gestellt, in der Hoffnung, wenigstens bei diesem jüngsten Mitglied der Familie durch eine rechtzeitige Operation die Krankheit dauerhaft heilen zu können. Mit großer Spannung wurde die histologische Aufarbeitung des Resektates erwartet: Sie zeigte keinen pathologischen Befund an der Schilddrüse und den Lymphknoten des zentralen zervikalen Kompartments. Offensichtlich war die komplikationslose Operation rechtzeitig erfolgt. 1993 konnten zwei unabhängige Forschergruppen Mutationen im Ret-Protoonkogen als Ursache für hereditäre medulläre Schilddrüsenkarzinome identifizieren [1]. Die nachträgliche Analyse unseres Patienten zeigte, dass er die Mutation von seiner Mutter nicht geerbt hat. Heute hätte der Junge durch die genetische Analyse sicher als Nicht-Mutationsträger identifiziert werden können, und die unnötige Operation wäre ihm erspart geblieben. Andererseits konnten wir in den letzten fünf Jahren 20 Kinder, bei denen die Mutation sicher nachgewiesen werden konnte, erfolgreich prophylaktisch operieren. Keines der Kinder hat eine bleibende Komplikation der Operation erlebt und alle sind bis heute dauerhaft geheilt. Das hereditäre medulläre Schilddrüsenkarzinom ist somit sicherlich ein gutes Beispiel für eine heute etablierte Synergie zwischen Molekularbiologie und Chirurgie.

Der zweite Kasus ist ein 22-jähriger Mann aus einer Familie (Abb. [3]) mit familiärer Adenomatosis polyposis coli (FAP). Die Großmutter war mit 59 Jahren an Dickdarmkrebs gestorben; die Mutter und ein Onkel waren in Zeiten vor der molekularen Diagnostik mit 39 bzw. 43 Jahren wegen eines Kolonkarzinoms operiert worden und seitdem tumorfrei. Die seit 1991 verfügbare [2] molekulare Diagnostik hatte bei dem Patienten die zugrunde liegende Mutation auf dem Codon 1465 im großen APC-Gen detektiert. Der Patient entschloss sich 1994 im Alter von 22 Jahren zur prophylaktischen restaurativen Koloproktomukosektomie. Die Histologie zeigte etwa 150 polypöse Adenome im gesamten Kolon; erfreulicherweise fand sich noch kein invasives Karzinom. Bereits ein Jahr nach der unkomplizierten Erstoperation musste der Patient wegen eines Ileus auf dem Boden eines Desmoidtumors in der Mesenterialwurzel, einer der typischen extrakolonischen Manifestationen der FAP, reoperiert werden. Weder eine externe Radiatio noch eine weitere Operation im folgenden Jahr konnten das Wachstum dieses histologisch gutartigen aber vom Verlauf fatalen Tumor beherrschen. Zwei Jahre nach der prophylaktischen Operation verstarb der Mann im Alter von 24 Jahren an den Folgen des Desmoidtumors. Diese Tumoren treten im Kontext einer FAP häufig erst nach abdominellen Voroperationen auf und unser Patient wäre ohne die prophylaktische Operation heute mit hoher Wahrscheinlichkeit noch am Leben. Auf dem APC-Gen sind mittlerweile fast 50 verschiedene Mutationen beschrieben, die zu sehr unterschiedlichen phänotypischen Erscheinungsbildern der Erkrankung führen. Heute - 6 Jahre nachdem wir den Patienten aufgrund des molekularen Befundes operiert haben - wissen wir, dass Mutationen jenseits des Codon 1395, wie in seinem Fall, einerseits zu einer attenuierten Form der Polyposis im Darm mit spätem Manifestationsalter führen. Andererseits entwickeln Patienten mit Mutationen in diesem Genabschnitt in bis zu 80 % Desmoidtumoren [3]. Diese Gruppe von FAP-Patienten sollte solange wie möglich endoskopisch überwacht und erst bei manifestem Karzinom koloproktektomiert werden. Frühzeitige prophylaktische Operationen können bei diesen Patienten durch die Induktion von nicht beherrschbaren Desmoidtumoren fatal enden. Der geschilderte Verlauf verdeutlicht, welche Folgen eine Operation auf dem Boden einer molekularen Analyse haben kann und wie kurzlebig genetische Erkenntnisse in der heutigen Zeit sind.

Die Vorstellung, dass Molekularbiologie nur in der verschwindend kleinen Gruppe von Patienten mit hereditären Erkrankungen Konsequenzen haben kann, ist bis heute weit verbreitet aber sicherlich falsch. Ich werde dies im Weiteren am Beispiel des sporadischen kolorektalen Karzinoms aufzeigen. Dieser Tumor ist mit einer Inzidenz von über 50 000 Fällen/Jahr mittlerweile das häufigste solide Karzinom in Deutschland. Die tumorbedingte Letalität ist in den letzten 30 Jahren nahezu konstant geblieben - etwa 30 000 Menschen/Jahr sterben an ihrem Karzinom. Bis heute gibt es zwei wichtige, verlässliche Prognosefaktoren. An erster Stelle ist das UICC-Stadium zum Zeitpunkt der Erstoperation zu nennen. Das individuelle Tumorstadium ist eine zufällige Momentaufnahme, die nur bedingt durch die Aufmerksamkeit des Patienten im Hinblick auf Frühsymptome und die Konsequenz in der Diagnostik der behandelnden Ärzte zu beeinflussen ist. Der zweite gewichtige Prognosefaktor ist der operierende Chirurg. Die Studiengruppe Kolorektales Karzinom (SGKRK) hat dies an einem Kollektiv von über 2000 Patienten Anfang der 90er Jahre eindrucksvoll belegt. Die Qualität der onkologisch radikalen Operation macht sich besonders bei lokal fortgeschrittenen Karzinomen bemerkbar, bei denen noch keine Metastasen nachweisbar sind. Sowohl beim Kolon- als auch beim Rektumkarzinom schwankten die Lokalrezidivraten, die bei beiden Erkrankungen als Maß für die chirurgische Qualität gelten dürfen, zwischen den beteiligten sieben Zentren der SGKRK bzw. zwischen individuellen beteiligten Chirurgen um den Faktor 10 (Abb. [4]). Entsprechend konnten die versiertesten Chirurgen etwa 80 % ihrer Patienten nach radikaler R0-Resektion dauerhaft heilen, während es anderen in nur etwa der Hälfte gelang.

Diese Ergebnisse zeigen, dass alle Chirurgen, die kolorektale Karzinomchirurgie betreiben, sich in erster Linie um ihre chirurgische Expertise bemühen müssen. Wenn auf diese Weise alle Probleme in der Therapie dieser Tumoren zu beseitigen wären, sollten Chirurgen tatsächlich keine Zeit mit molekularbiologischer Forschung im Labor verschwenden. Allerdings verliert auch der beste Chirurg einen nicht unerheblichen Teil seiner vermeintlich kurativ operierten Patienten mit kolorektalem Karzinom im weiteren Verlauf - hauptsächlich durch die Entstehung metachroner Fernmetastasen. R. J. Heald, der englische Chirurg, der sich seit über 20 Jahren der Perfektion der Rektumkarzinomchirurgie verschrieben hat, kann diese Tumoren lokal beherrschen. Die Lokalrezidivrate nach 10 Jahren liegt in seiner Hand unter 5 %. Trotzdem entwickeln fast 30 % dieser optimal operierten Patienten im selben Zeitraum Fernmetastasen und versterben schließlich an ihrer Tumorerkrankung [4]. Für diese Patienten, deren Karzinome ein hohes Metastasierungspotenzial besitzen, brauchen wir multimodale Therapiekonzepte. Eine Vielzahl prospektiver Studien weltweit hat diesbezüglich zu den heutigen Standards geführt, die zuletzt 1999 auf Konsensuskonferenzen in Deutschland und Amerika verbindlich aktualisiert wurden. Für Patienten mit Kolonkarzinomen kann im Stadium I und II keine über die Chirurgie hinausgehende Therapie empfohlen werden; Patienten im Stadium III erhalten eine adjuvante Chemotherapie mit 5-Fluorouracil und Folinsäure. Die Grundlage zur adjuvanten Therapie ist folgerichtig der am besten validierte Prognosefaktor, das UICC-Stadium zum Zeitpunkt der Operation. Der zweite bekannte relevante Parameter, der Chirurg, beeinflusst diese Entscheidung (noch) nicht. Dieses Raster ist grob - das zeigt sich am deutlichsten im UICC-Stadium II. Die Gesamtheit der Patienten in diesem Tumorstadium profitiert nicht von einer adjuvanten Chemotherapie. Wir wissen dies aus vielen Studien mit hoher wissenschaftlicher Evidenz. Trotzdem verstirbt nach den Ergebnissen der SGKRK fast ein Drittel dieser Patienten innerhalb von fünf Jahren an ihrem Tumor. Hier liegt eine große Chance für Synergie zwischen molekularer Diagnostik und der Therapie des häufigsten soliden Karzinoms in Deutschland. Wir brauchen molekulare Parameter, die uns ein feineres Raster für die Entscheidung zu einer adjuvanten oder neoadjuvanten Therapie liefern. Wir suchen also Parameter, die uns über das UICC-Stadium hinausgehende Auskunft über das individuelle Risiko für metachrone Fernmetastasen und das individuelle Ansprechen auf eine bestimmte Form der Chemotherapie geben.

Die Suche nach solchen potenziellen molekularen Prognoseparametern fokussiert sich auf Alterationen, die Voraussetzung für den metastatischen Phänotyp sind, die ein maligner Primärtumor allerdings nicht notwendigerweise braucht. Initiale Ereignisse wie Onkogen-Mutationen und die Neoangiogenese gehören nicht zu diesen Veränderungen. Alle weiteren Schritte der in Abb. [5] gezeigten Kaskade sind charakteristisch für metastasierende Tumorzellen. Diese müssen sich aus dem Primärtumorzellverband lösen und die extrazelluläre Matrix sowie die Wand benachbarter Blut- und Lymphgefäße durchbrechen können. Haben sie die Blutbahn erreicht, müssen sie der Immunantwort des Körpers entgehen, um zu überleben. Am Ort der Fernmetastasierung, beim kolorektalen Karzinom meist Leber oder Lunge, müssen sie an der Gefäßwand von Kapillaren andocken, die Strombahn verlassen und in der völlig anderen zellulären Umgebung des Wirtsorgans zu einem erneuten Tumorwachstum, der Metastase, führen können. Wir haben uns auf den Schritt der metastatischen Extravasation konzentriert.

Auf 90 % aller kolorektalen Karzinomzellen lässt sich im Gegensatz zur gesunden Mukosa das Adhäsionsmolekül Sialyl-Lex nachweisen. Dieses Karbohydrat passt wie ein Schlüssel zum Schloss auf das Molekül E-Selectin, das auf Endothelzellen von Gefäßen vorhanden ist. Tumorzellen, die viel Sialyl-Lex exprimieren, könnten diesen Mechanismus, der für die entzündliche Extravasation neutrophiler Granulozyten bewiesen ist [5], als ersten Schritt der metastastischen Extravasation nutzen. Wir haben bei Patienten aus unserer Tumornachsorge mit bekanntem Verlauf ihrer Erkrankung die Expression von Sialyl-Lex immunhistochemisch auf den Karzinomzellen untersucht. In allen Tumorstadien fanden sich Karzinome mit schwacher und mit starker Expression (Abb. [6]). Der Anteil der stark exprimierenden Tumoren war im Stadium I nur 10 % und stieg kontinuierlich mit fortschreitendem Tumorstadium auf über 70 % im Stadium IV an. Dieser Befund war eine erste Bestärkung unserer Hypothese, dass Sialyl-Lex eine Bedeutung in der Progression des kolorektalen Karzinoms haben könnte. Die multivariate Analyse aller bekannten relevanten Prognosefaktoren und von Sialyl-Lex zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit, an der Erkrankung zu versterben, für Patienten mit stark exprimierenden Karzinomen fast viermal höher war als für die mit schwach exprimierenden Tumoren (Tab. [1]). Nach dem Vorhandensein von Fernmetastasen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung war dies der gewichtigste prognostische Faktor in dem von uns untersuchten Kollektiv. Und tatsächlich scheint dieser molekulare Parameter ein feineres prognostisches Raster zumindest innerhalb der UICC-Stadien II und III zu ermöglichen - Patienten mit stark exprimierenden Karzinomen haben eine deutlich schlechtere Prognose (Abb. [7]) [6]. Wir haben anschließend an einem wesentlich größeren Kollektiv aus der Hvidovre Universität in Dänemark 182 Patienten im Stadium II in der gleichen Weise untersucht. Die Analyse zeigte, dass in diesem Tumorstadium nach radikaler Tumorresektion die Wahrscheinlichkeit als erstes tumorbezogenes Ereignis metachrone Fernmetastasen zu entwickeln für Patienten mit stark exprimierenden Karzinomen um den Faktor vier erhöht war.

Bemerkenswerterweise unterschied sich die Lokalrezidivrate in den stark bzw. schwach exprimierenden Gruppen nicht, so dass von gleicher Qualität des chirurgischen Eingriffes in beiden Gruppen ausgegangen werden kann. Sialyl-Lex scheint somit ein sehr guter Kandidat als molekularer Prognoseparamter für Patienten mit dieser Erkrankung zu sein.

In den letzten 10 Jahren wurden weltweit mehr als 20 Moleküle identifiziert, die vermeintlich eine unabhängige prognostische Relevanz für Patienten mit kolorektalem Karzinom haben könnten. Neben Proteinasen und ihren Rezeptoren (MMP1, uPAR) sowie Tumor-Suppressor-Genen (p53) wurden auch weitere Adhäsionsmoleküle (CD44v6, CEA) in diesem Zusammenhang genannt. Bis heute ist lediglich die Bestimmung des präoperativen CEA-Wertes im Serum als molekulare Untersuchung in den Standard zur Beurteilung von Patienten mit kolorektalem Karzinom von den bereits genannten Konsensuskonferenzen aufgenommen worden [7]. Dies zeigt, dass die prognostische Bedeutung eines erhöhten CEA-Wertes als hinreichend belegt gilt. Trotzdem wird auch diesem Befund bis heute keine therapeutische Konsequenz zugeordnet. Patienten mit hohen CEA-Spiegeln werden nicht anders behandelt als solche mit normalen Werten. Somit ist die Bestimmung des CEA ebenso wie die Analyse anderer molekularer Marker bis heute lediglich von akademischem Interesse. Die Patienten mit kolorektalem Karzinom profitieren davon bislang in keiner Weise. Diese Tatsache hat ihre berechtigte Begründung, da die entscheidende Verknüpfung der molekularbiologischen Grundlagenforschung und der klinischen Wissenschaft bis heute für keinen der genannten potenziellen molekularen Prognoseparameter erfolgt ist. Die zugrundeliegenden Patientenkollektive sind meist klein und retrospektiv untersucht. Das gilt auch für unser Berliner Kollektiv und die Patienten aus der Hvidovre Universität. Bis heute sind alle Arbeitsgruppen den Beweis der wissenschaftlichen Evidenz ihrer eventuell sehr wichtigen neuen Prognoseparameter für Patienten mit kolorektalem Karzinom schuldig geblieben. Wir haben daher eine aussagekräftige klinische Prüfung aufgelegt, mit der wir die Bedeutung von Sialyl-Lex für die Prognose von Kolonkarzinomen im Stadium II und die therapeutischen Konsequenzen untersuchen werden. Patienten in diesem Tumorstadium werden nach radikaler Resektion entsprechend der Sialyl-Lex-Expression ihres Karzinoms in zwei Gruppen stratifiziert und anschließend in eine Kontroll- oder Therapiegruppe randomisiert, die entsprechend der Empfehlungen für das Tumorstadium III eine adjuvante Chemotherapie mit 5-Fluorouracil und Folinsäure erhält. Innerhalb von drei Jahren müssen 340 Patienten in dieser Multizenter-Studie rekrutiert werden. Sollte die Studie wie geplant im Herbst 2001 beginnen können, haben wir die Ergebnisse der Auswertung im Sommer 2006. Diese entscheidenden klinischen Studien sind also zeit- und geldaufwändig, verlangen eine effektive Kooperation mehrerer einschleusender Studienzentren und Geduld bei allen Beteiligten, da sie nicht jährlich zu einer vorzeigbaren Publikation führen. Sie passen somit schlecht in das aktuelle Umfeld der universitären Medizin in Deutschland. Es liegt an uns klinischen Wissenschaftlern, ob diese Untersuchungen mit Engagement und Optimismus auf den Weg und zu Ende gebracht werden, denn nur so kann echte Synergie zwischen Molekularbiologie und der Therapie unserer Patienten entstehen.

Ich hatte bereits eine zweite mögliche Synergie zwischen molekularbiologischer Grundlagenforschung und der Behandlung von Patienten mit kolorektalem Karzinom angesprochen: die Vorhersage des Ansprechens auf eine bestimmte Chemotherapie. Wiederum geht es um Verfeinerung, um eine Individualisierung unseres therapeutischen Konzeptes. Bis heute werden alle Patienten mit Dickdarmkrebs, bei denen eine adjuvante oder palliative Chemotherapie indiziert ist, mit einer 5-Fluorouracil-basierten Chemotherapie behandelt. Es sind bis heute mindestens vier Enzmye bekannt, die unmittelbar in den 5-Fluorouracil Metabolismus eingreifen und deren Anwesenheit in Tumorzellen die Wirksamkeit dieses Chemotherapeutikums in vitro sehr effektiv verhindert. Für zwei dieser Enzyme, Thymidylat Synthase [8] und dUTPase [9], konnte an kleinen Kollektiven gezeigt werden, dass eine 5-Fluorouracil-basierte palliative Chemotherapie im UICC-Stadium IV bei starker Expression dieser Proteine im Tumorgewebe sehr schlecht anspricht, während Patienten mit schwach exprimierenden Karzinomen deutlich profitieren. Die Vermutung, dass dies auch für die adjuvante Chemotherapie im UICC-Stadium III gilt, liegt nahe. Die entsprechenden klinischen Studien sind bereits auf dem Wege. Es erscheint daher medizinisch und ökonomisch sinnlos, weiterhin alle Patienten mit kolorektalem Karzinom mit einer Standardchemotherapie - 5-Fluorouracil und Folinsäure - zu behandeln. Die molekularbiologische Analyse der oben genannten Chemotherapieresistenz induzierenden Enzyme und die entsprechende Zuordnung der Patienten zu einem individuellen Chemotherapie-Regime entsprechend des Expressionsprofils ihres Tumors erscheint dringend notwendig. Solche Bemühungen sind meiner Meinung nach viel sinnvoller, als die Entwicklung neuer Standard-Schemata wie Irinotecan oder Oxaliplatin in Kombination mit 5-FU und Folinsäure, die zu einer Steigerung der Toxizität führen und mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls nur bei einem Teil der Patienten wirksam sein können.

Es gibt also offensichtlich eine ganze Fülle von molekularen Parametern im kolorektalen Karzinom, die eine prognostische Relevanz besitzen könnten. Zusätzlich kennen wir bereits jetzt eine Reihe von Proteinen in diesen Tumoren, deren Expression eine Chemotherapieresistenz verursacht. Wie können wir versuchen all diese neuen Faktoren, die tatsächlich die Therapie unserer Patienten synergistisch beeinflussen könnten, in die Klinik umzusetzen und zu validieren? Ein legitimer Weg ist sicherlich die Konzentration auf einen vermeintlich aussagekräftigen molekularen Parameter, so wie wir das in unserer prospektiv randomisierten Therapiestudie umsetzen. Erlauben Sie mir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft, indem ich Ihnen eine Methode vorstelle, mit der es möglich sein könnte, in einem Arbeitsgang umfassende Informationen über die molekularen Alterationen jedes individuellen Karzinoms zu bekommen - genetische Expressionsprofile.

In Abb. [8] ist der sehr aufwendige Arbeitsgang einer solchen Analyse dargestellt. Aus dem resezierten Gewebe werden unter dem Mikroskop lasergestützt die Zellpopulationen gezielt ausgeschnitten, die uns interessieren - meist normale Epithelzellen und Karzinomzellen. Aus den Zellen wird dann die genetische Information isoliert, meist die mRNA, die bereits von den Genen abgelesene Matrize, die zur Proteinsynthese übersetzt wird. Alle mRNA-Fragmente werden dann mit radioaktiven oder fluoreszierenden Indikatoren markiert und Mikrochips, sogenannte Arrays, auf die Tausende von Genen aufgetragen sind, werden dann mit der markierten genetischen Information aus dem zu untersuchenden Gewebe hybridisiert. Jedes mRNA-Fragment, das in dem Gewebe vorhanden ist, bindet an das entsprechende Genfragment auf dem Chip. Die Intensität des Indikators gibt Aufschluss über die Menge des entsprechenden mRNA-Fragmentes in den Gewebeproben. Rote Punkte zeigen eine vermehrte Expression der mRNA im Tumor an. Blaue Punkte bedeuten, das Gen ist im Tumor verlorengegangen und grau-grüne Punkte zeigen, dass es keinen relevanten Unterschied des entsprechenden Gentranskriptes gibt. Mit dieser Technik können wir problemlos alle oben erwähnten Gene und viele andere mehr in einem Untersuchungsgang analysieren. Wir haben bereits damit angefangen zu untersuchen, ob es mit diesem genetischen Fingerabdruck gelingt, spezifische Expressionsmuster für gesundes kolorektales Epithel, für die daraus entstandenen Karzinome und für deren Fernmetastasen zu erkennen. Der nächste Schritt ist, zu analysieren, ob es spezifische Muster für die einzelnen UICC-Stadien gibt. Diese Vorarbeiten werden etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen. Erst dann kommen wir zu den Fragen, die tatsächlich einen Gewinn, eine Synergie zwischen dieser spannenden Technik und der Behandlung unserer Patienten bedeuten könnten: Gibt es ein charakteristisches Expressionsprofil, das ein hohes individuelles Risiko für metachrone Fernmetastasen vorhersagt oder gibt es ein Profil, das die Resistenz gegen die eine oder andere Chemotherapie anzeigt? Die Antwort auf diese entscheidenden Fragen werden vier bis fünf Jahre auf sich warten lassen. Ihre Beantwortung könnte dann allerdings die Grundlage für ein individuelles, auf den Tumor jedes einzelnen Patienten abgestimmtes, onkologisches Therapiekonzept sein.

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass es auf dem Gebiet der hereditären Tumorerkrankungen bereits heute echte Synergie zwischen Molekularbiologie und Chirurgie gibt. Wir können in den Familien nicht betroffene Mitglieder sicher identifizieren, beruhigen und von aufwändigen und belastenden Screening-Untersuchungen ausschließen. Wir können andererseits, zum Beispiel beim hereditären medullären Schilddrüsenkarzinom, bei Mutationsträgern prophylaktische Operationen durchführen, bevor es zur Ausbildung eines manifesten Karzinoms kommt. Wir brauchen dafür eine möglichst genaue Korrelation des Genotyps mit dem klinischen Erscheinungsbild. Das Beispiel des FAP-Patienten zeigt, dass auch hier noch viel Erfahrung gesammelt werden muss. Auf dem viel wichtigeren weil ungleich größeren Gebiet der sporadischen Karzinome stehen wir erst am Anfang möglicher Synergien zwischen diesen beiden auf den ersten Blick so weit voneinander entfernten Wissenschaften - Molekularbiologie und Chirurgie. Ich bin allerdings fest davon überzeugt, dass es uns gelingen kann, molekulare Parameter zu identifizieren, die uns etwas über die Wahrscheinlichkeit metachroner Fernmetastasen und das Ansprechen auf Chemotherapie vorhersagen können. Der bei weitem aufwändigste und wichtigste Schritt bei der Umsetzung dieser neuen Information in die Klinik ist die Validierung in prospektiven klinischen Studien.

Die erste Verpflichtung des Chirurgen in der Behandlung von Patienten mit bösartigen Tumoren bleiben selbstverständlich die Planung und Durchführung einer optimalen radikalen Tumorresektion. In keinem Fach gilt allerdings mehr als in der Chirurgie, dass der Feind des Guten das Bessere ist. Die Molekularbiologie könnte ein hilfreiches Instrument für uns Chirurgen auf diesem wichtigen Weg vom Guten zum Besseren sein.

Literatur

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PD Dr. med. Benno Mann

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