Psychiatr Prax 2001; 28(8): 407
DOI: 10.1055/s-2001-18620
LAUDATIO
Laudatio
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„Irrfahrten”: Zum 75. Geburtstag von Erich Wulff

Travel Through Life: Erich Wulff on his 75th Birthday
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Publication Date:
26 November 2001 (online)

Erich Wulff, langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychiatrie in Hannover und Mitdirektor der psychiatrischen Klinik an der Medizinischen Hochschule Hannover, ist am 6. November 75 Jahre alt geworden. Redaktion und Herausgeber der Psychiatrischen Praxis gratulieren ihm herzlich und wünschen ihm vor allem Gesundheit, aber auch, dass seine Produktivität anhalten möge. Gerade rechtzeitig zu seinem Geburtstag erschien sein Lebensbericht: Irrfahrten, Autobiografie eines Psychiaters (Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag, 630 Seiten, DM 58,-). Wir werden das Buch bei späterer Gelegenheit in unserer Zeitschrift würdigen. Heute erteilen wir seinen langzeitigsten Weggefährten Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug das Wort zu einem Glückwunschtext:

Erich Wulff praktiziert eine in Deutschland seltene Verbindung von Wissenschaft und Literatur, von Politik und Urbanität, von sozialem Engagement und intellektueller Distanz, von ethnologischem Blick und Fähigkeit zur Freundschaft. Wo er in seinen Büchern bewundernswert knapp und einprägsam die Menschen schildert, denen er begegnet ist, spürt man den Arzt, der Fallberichte schreibt, den Phänomenologen, der Dinge und Menschen zum Sprechen bringt und ihnen zuzuhören vermag, ein Gramscianer, noch bevor er Gramsci kannte. Für das Politische im Privaten interessiert er sich nicht weniger als für das Private in der Politik. Seine Kunst des analytischen Erzählers verrät den Psychiater, der Gerichtsgutachten anfertigt, dem nichts Menschliches fremd ist, der mit der immoralischen Neugier eines staunenden Kindes gleichermaßen in die Taten und Seelen der Mörder und in die der Mönche blickt, an deren Gesichtszügen er die Schrift ihrer inneren Kämpfe abliest. Seine Reiseberichte sind die eines Grenzgängers und Experimentators, der dennoch nie den Boden unter den Füßen verliert. Sein erster Bericht über die Amerikaner in Vietnam, eine politisch-psychologische Studie, wurde von Sartre in Frankreich, von Marcuse in den USA übersetzt. Seine Vietnamesischen Lehrjahre, die die wache Intelligenz Deutschlands in eine prägende éducation sentimentale et politique einbezogen, machten es den Denkenden im Lande unmöglich, die amerikanische Kriegsführung in Vietnam nicht abzulehnen. Seine Anstöße zur transkulturellen Psychiatrie strahlten weit über die Fachgrenzen in die Humanwissenschaften aus. Später schilderte sein Bericht von einer erneuten Reise nach Vietnam - nach dem fluchtartigen Abzug der Amerikaner und dem Zusammenbruch des von ihnen gestützten Regimes -, schonungslos die Repression, die das „befreite” Land lähmte. Als Vorsitzender der Deutsch-Vietnamesischen Freundschaftsgesellschaft scheute er nicht den Bannfluch, von dem er wusste, dass er ihn treffen würde, wenn er die staatssozialistische Misere ungeschminkt aussprach. Zum Glück durfte er auch noch erleben, dass man ihm nachträglich Recht gab.

Wolfgang Fritz Haug

Erich Wulff lernte ich im Februar 1964 auf einer Faschingspartie bei Dorothee Soelle in Köln kennen. Ich hatte mich damals gerade mitten aus einem politischen Leben in diese Stadt verirrt, Erich Wulff war gewissermaßen auf der Durchreise, aus Vietnam kommend und dahin zurückgehend. Die beidseitige Fremdheit in Köln machte wohl, dass wir schnell ins Gespräch kamen. Ich hörte äußerst gespannt seinen Berichten aus eben jenem Vietnam zu, dessen Besetzung durch imperialistische Mächte mich zum protestierenden Eintritt in den sozialistischen Deutschen Studentenbund bewogen hatten. So vernahm ich in seinen Worten eine Stimme der Befreiungsbewegungen in der Welt, und warb ihn sogleich für die Zeitschrift Das Argument an. - Auf der Tagung zu meinem Abschied von der Universität in Hamburg in diesem Jahr, berichtete Erich Wulff, dass nicht zuletzt diese Projektion und die nachfolgende Mitarbeit beim Argument ihn zu diesem Menschen gemacht hätten, der seine Lebensarbeit ganz in den Dienst von Befreiung stellte. - Ich erinnere umgekehrt einen Anstoß durch ihn, der einen großen Teil meiner Lebensarbeit bestimmt hat. Nur zwei Jahre nach dieser ersten Begegnung schrieb er einen Text für Das Argument, den er Transkulturelle Psychiatrie nannte. Hier lernte ich zum ersten Mal, dass die Individuen in ihren soziokulturellen Zusammenhängen in einer Weise verschieden sind, dass unsere ganzen Vorstellungen über das Verhältnis von Individuum und Welt je konkret neu durchdacht werden muss. Im ethnologischen Vergleich ließ sich herausarbeiten, wie konstruiert die einzelnen Persönlichkeiten sind, ja, dass ihre Konstruktion selbst noch je Kultur so verschieden ist, dass auch der individuumzentrierte Gedanke westlicher Sozialtheorie als historisch besonderer andere Aufgaben stellt. Dieser Befund ermutigte mich, das Projekt Erinnerungsarbeit, das den Prozess der Individualisierung voraussetzt, zu beginnen, einfach weil es auf diese Weise von dem Anspruch gesamtmenschheitlich zu denken, ermäßigt war.

Frigga Haug

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