Viszeralchirurgie 2001; 36(5): 279-280
DOI: 10.1055/s-2001-17621
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Technologiebewertung - Handlungsbedarf für die Chirurgie
oder ökonomische Fessel?

H.  Bauer
  • Kreiskrankenhaus Alt/Neuötting, Altötting
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Publication Date:
05 October 2001 (online)

„Viel Wunderkuren gibt's jetzunder.
Bedenkliche, gesteh ich's frei!
Natur und Kunst tun große Wunder,
Und es gibt Schelme nebenbei”
J. W. von Goethe

Das Problem des medizinischen Fortschritts und von Innovationen in der Chirurgie besteht darin, dass es sich zumeist um die Entwicklung von Zusatztechnologien handelt, die bisher Unmögliches möglich machen. Beispiele sind Verbesserungen der Transplantationsmedizin oder onkologischer Therapieverfahren, die Entwicklung künstlicher Organe oder Hochtechnologien der Diagnostik mit konsekutiv möglichen bild- und robotergesteuerten Behandlungsverfahren. Dies bedeutet, dass neue Verfahren entwickelt werden, ohne dass es, zumindest zunächst, zu Substitutionsprozessen und zum Ersatz bisher angewandter Methoden kommt. Innovationsbedingte Zusatzkosten im Gesundheitswesen entstehen dabei vor allem auch dadurch, dass durch neue Techniken oder Medikamente meist eine Verlängerung der oft weiter behandlungs- und kostenintensiven Zeitspanne zwischen Erkrankung und Tod erreicht wird.

Medizinischer Fortschritt und Technologiebewertung werden heute zunehmend auch einer ökonomischen Betrachtungsweise unterzogen. Aus dieser Sicht bedeutet medizinischer Fortschritt das mit der Anwendung neuen Wissens verbesserte Verhältnis zwischen dem Einsatz von Ressourcen und dem damit erzielten gesundheitlichen Ergebnis. Der überwiegende Teil medizinisch-technischer Entwicklungen lässt eine bessere Zielerreichung bei höherem Ressourceneinsatz erwarten. Ein Beispiel wäre - heute im Zentrum öffentlicher Diskussion - eine mögliche Therapie bisher nicht behandelbarer Krankheiten z. B. als Resultat der Forschung mit embryonalen Stammzellen. Allerdings kann der Zugang zu kausalen Behandlungsprinzipien durch bio- und gentechnologische Methoden auch kostenträchtige langwierige, bisher nur symptomorientierte Therapien ablösen.

Besondere Vorsicht ist angebracht bei der Bewertung von Verfahren, die eine vermeintlich bessere Zielerreichung bei initial erhöhtem Ressourceneinsatz, dafür aber mit einem sich ergebenden volkswirtschaftlichen Nutzen versprechen. Ein Beispiel für eine solch kostensenkende innovative Technologie ist die minimal invasive Chirurgie mit ihren faszinierenden Entwicklungen in allen operativen Gebieten. Dabei zeigt sich aber auch, dass die Minimalisierung des Zugangstraumas primär lediglich eine Vermehrung möglicher Therapieverfahren mit besserem Patientenkomfort darstellt, aber auch die Gefahr einer Indikationsausweitung in sich trägt („Wenn man einen neuen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus”).

Wir müssen heute akzeptieren, dass es bei der Evaluation eines Behandlungsverfahrens und damit insbesondere auch von chirurgischen Methoden auf mehr ankommt als auf die Kriterien von Machbarkeit, Sicherheit und Wirksamkeit. Medizinische Technologiebewertung, im angelsächsischen Raum als Health Technology Assessment (HTA) seit langem etabliert und bei uns eher noch in den Anfängen, sollte die Instrumente liefern, die eine Beurteilung neuer Verfahren und Methoden erlauben, aber auch mithelfen zu definieren, was unter angemessener und bedarfsgerechter Versorgung nach aktuellem wissenschaftlichen Stand zu verstehen ist. HTA ist dabei keine eigenständige Wissenschaft. Es umfasst die Evaluation der technischen Einsatzmöglichkeit, der klinischen Wirksamkeit sowie struktureller und sozialer Einflüsse bis hin zu ethischen Auswirkungen. Damit wird neben der medizinisch-wissenschaftlichen auch die sozioökonomische Dimension beschrieben.

Am Beispiel der laparoskopischen Chirurgie lassen sich alle Aspekte der Technologiebewertung darstellen - oder besser gesagt, Konsequenzen einer Technologieentwicklung, bei der der flächendeckende Einsatz der Evaluation vorauseilte. Andererseits kann und darf HTA natürlich nicht mit dem Ziel eingesetzt werden, die Entwicklung neuer Technologien zu behindern oder die klinische Umsetzung zu verlangsamen. Im Gegenteil, es sollte dadurch sowohl die Entwicklung als auch die Diffusion benötigter neuer medizinischer Technologien befördert werden.

Zweifellos besitzt die Technologiebewertung vor allem vor dem Hintergrund des Strukturreformgesetzes auch besondere gesundheitspolitische Aspekte. Die Definition dessen, was nach dem Sozialgesetzbuch als wirksam und ausreichend in der Versorgung anzusehen ist und wirtschaftlich erbracht werden kann, dabei immer ausgerichtet am aktuellen medizinischen Fortschritt, ist nicht der medizinischen Wissenschaft oder einzelnen Fachgesellschaften überlassen. Hier sei zum einen als Grundlage für politische Entscheidungen auf den Auftrag hingewiesen, den das Bundesministerium für Gesundheit dem Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen erteilt hat, nämlich ein Gutachten vorzulegen und darin „im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Versorgung Bereiche mit Über-, Unter- und Fehlversorgung und Möglichkeiten der Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven aufzuzeigen und zu bewerten”. Zum anderen hat der Gesetzgeber im § 137 SGB V Gremien etabliert, welche eine primär von gesundheitspolitischer Relevanz gestützte Leitliniendefinition medizinischen Handelns zu entwickeln haben (Koordinierungsausschuss) und die Inhalte guter, angemessener und damit auch erstattungsfähiger Medizin im Krankenhausbereich formulieren sollen (Ausschuss Krankenhaus). Die Entscheidung, wie Innovationen ins System kommen, wird in Zukunft somit wesentlich den Selbstverwaltungsorganen übertragen - mit allen Risiken und Schwierigkeiten nicht zuletzt auch wegen mannigfaltiger Einflussnahmen, aber auch mit den Chancen partnerschaftlicher Entscheidungen.

Medizinische Technologiebewertung im Sinne des HTA stellt somit einerseits für uns Chirurgen eine Herausforderung dar, nämlich mitzuwirken bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Daten als Grundlage einer selbstkritischen Methodenbewertung. Zum anderen gilt es, die Probleme bewusst zu machen, die sich aufgrund der gesetzlichen Vorgaben und der geplanten Steuerungselemente ergeben. Die Gefahren hinsichtlich eines verzögerten Innovationstransfers und auch einer Strangulierung ärztlichen Handelns durch externe Vorgaben sind nicht zu übersehen. Die nachfolgenden drei Beiträge zur medizinischen Technologiebewertung am Beispiel der laparoskopischen Chirurgie, zur Angemessenheit chirurgischen Handelns und zur Technologiebewertung in der Hand der Selbstverwaltung sollen zum Verständnis eines natürlich nicht nur der Viszeralchirurgie immanenten Problems beitragen.

Prof. Dr. med. H. Bauer

Chefarzt der Chirurgischen Abteilung
Kreiskrankenhaus Alt/Neuötting

Vinzenz-von-Paul-Str. 10

84503 Altötting