PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 363-364
DOI: 10.1055/s-2001-17184
Resümee
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Abschließende
Betrachtungen

Ulrike  Brandenburg, Steffen  Fliegel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. September 2001 (online)

„Sex ist Kultur”. „Sex ist Natur”. O-Töne zweier unserer DiskutantInnen. Kontroverser könnten die Standpunkte zum Diskurs Sexualität wohl kaum sein. Wir haben in diesem Heft den Rahmen dafür geboten.

Der Diskurs wurde von den Autoren und Autorinnen mit Leben, mit Inhalt und mit Unterschiedlichkeit (mit „Unterscheidungen”) gefüllt. Trotz höchst brisanter Themen, trotz zum Teil extrem differierender Standpunkte kam ein Dialog zustande, der getragen ist von Interesse, Respekt und Akzeptanz. Durch Trennendes, nämlich durch die differierenden Standpunkte, entstand Entwicklung. Durch Verbindendes, nämlich durch den Mut zu offenen und offen bleibenden Fragen und den Mut, sich voreinander nicht-verstehend und nicht-wissend zu zeigen, entstand Vertrauen. Beides zusammen, das Verbindende und das Trennende schaffte Sicherheit auf der einen, Entwicklungspotenz auf der anderen Seite. Und dies führte zu fruchtbaren Beziehungen - eben das, was wir uns unter einem „schulenübergreifenden Dialog” vorgestellt hatten.

Wovon anders sprechen wir, wenn wir von Sex sprechen, als von Beziehung? Und worum anders geht es, wenn wir innerhalb von Beziehung - auch mit uns selbst - uns der Kernfrage unseres Diskurses stellen, nämlich: Was ist eigentlich Sexualität? Oder vielleicht besser: Was meinen wir eigentlich damit, wenn wir von Sexualität sprechen? Was meinen wir mit „sexueller Störung” - und wie gehen wir damit um?

Es ist bemerkenswert, wie trotz großer Sprachlosigkeit von Experten wie von Patienten, gleichzeitig Operationalisierungen entwickelt wurden, die es erlauben, mit Sexualität und mit Menschen mit sexuellen Problemen diagnostisch wie therapeutisch umzugehen. Wir Therapeutinnen und Therapeuten - insbesondere wir Psychotherapeuten - lieben den Ausdruck „Effektivität”. Scheinbar gibt er uns Sicherheit oder Erlaubnis, auch unsere Tätigkeit als eine wertvolle und im Gesundheitswesen als qualitätsgesicherte anzuerkennen. Trotz unserer zweifellos skeptischen Einstellung diesem Begriff gegenüber möchten wir herausstellen, dass in diesem Heft in außerordentlicher präziser und akribischer Art und Weise Beratungs- und Behandlungsansätze von gestörter Sexualität im weitesten Sinne dargestellt wurden. Nicht als Wahrheiten und allgemein gültige Leitlinien wurden sie größtenteils dargestellt, sondern vielmehr als Behandlungskonzepte, die sich am Individuum, am Paar und an dessen Prozess orientieren. Damit bleiben sie automatisch, was den eigenen konzeptuellen Entwicklungsstand betrifft, unwiderruflich prozessual und bedürfen der steten Reflexion wie auch der schulenübergreifenden Diskussion.

Erklärungsmodelle wie „Sex ist Kultur” oder „Sex ist Natur” lassen sich singulär betrachtet durchaus nachvollziehen. Betrachtet man sie aber als Ganzes, als Aspekte einer Sexualität, so passen sie nicht zueinander. Auch das wird in diesem Heft deutlich. Ist Sexualität vielleicht bereits in sich ein Widerspruch? Oder ist sie ein Widerspruch innerhalb der Gesellschaft? Ist sie ein Paradoxon mit verschiedenen Facetten, welche das Verstehen in unterschiedliche Richtungen weist? Hat sie möglicherweise eine biologische Basis, von der ausgehend sich der Großteil menschlicher sexueller Erfahrungen kulturell formiert, kulturell stimuliert und formen lässt? Vielleicht ist Sexualität mehr eine Idee als eine objektive Größe?

Ein Thema dieses Heftes war die Medikalisierung von Sexualität. Sex als Lifestyle-Größe, Sex als Aufbesserung des gesundheitlichen Images, Designer-Sex etc. Eine Medikalisierung von Sexualität kann nur eine Chance haben in einer Gesellschaft, die längst sexualisiert ist. Vielleicht ist es das, nämlich die Sexualisierung von Gesellschaft, vielleicht sogar die Sexualisierung der Welt, denn die westliche Kultur überformt die übrigen ohnehin mehr und mehr. Sexualisierung scheint das Kern- oder das Rahmenthema zu sein. Sie konstruiert Sexualität und damit Beziehung und damit menschliches Leben. Sex ist öffentlich geworden. Privat verschwindet er eher. Das, was heute in der Werbung gezeigt wird, hätte vor 20 Jahren noch als Pornographie gegolten. Genutzt wird dazu vor allem der weibliche, aber immer mehr auch der männliche Körper. Jugend und Schönheit sind Symbole für gute Sexualität. Gute Sexualität steht für Lifestyle, Lifestyle für Gesundheit, alles zusammen auch für Erfolg und Macht. Was will man also mehr? Ist es nicht heute so, dass längst diejenigen, die erfolgreich jünger wirken, auch jugendlich und schön bleiben sowie dynamisch und fit als die sexuell Gesunden gelten? Dass das vielleicht gerade diejenigen sind, die kaum noch Zeit für Sex haben, vielleicht auch keine Lust mehr haben, erschöpft und ein wenig verloren im eigenen Selbst sind, danach fragt keiner, und das will auch keiner wissen.

Sexualerziehung ist ein anderes Thema dieses Heftes. Wir verbinden damit allzu schnell Aufklärung. Allein bei diesem Wort schon stöhnt jeder auf - insbesondere die Jugendlichen. Oftmals wird es ihnen drei- bis fünfmal pro Schulzeit in meist ähnlicher Weise serviert. Dass es uns aber nicht gelungen ist, trotz 40 Jahren Aufklärung, das Sprechen über Sexualität, das Fragen, das Äußern eigener Bedürfnisse, eigener Ängste und eigener Begierden - all dies zu erleichtern, das ist das eigentlich Tragische und durchzieht folgerichtig alle Beiträge in diesem Heft. Wie können wir dazu beitragen, in menschliche Kommunikation Themen wie Sexualität, Intimität und Lust zu integrieren? Der bisher beschrittene Weg erstickt uns in einer Flut von Büchern, Filmen und Zeitungsartikeln. Dieser Weg hat wenig gefruchtet. Diese Art von Informationsvermittlung scheint an der Oberfläche und am öffentlichen Sex kleben zu bleiben, berührt aber nicht die private und persönliche Sexualität und damit auch nicht die Herzen der Menschen. Sich einfach Ratgeber zu kaufen, einfach Übungen zu machen und Sex noch erlebnisreicher (noch anstrengender?) zu gestalten - diese Möglichkeiten erregen Interesse, schlagen aber im wirklichen Leben der Frauen, der Männer und der Paare keine Wurzeln. Eine Stufe davor, die des Herstellens von Intimität, fehlt offenbar. Und wie geht das? Geben wir darauf Antworten?

Was Mut macht, auch Angst, aber vor allem Mut, Erleichterung und Gelassenheit, das ist der Zuwachs an Freiheit, den wir in den vergangenen Jahrzehnten bezüglich Sexualität gewonnen haben. Die Vielfalt sexueller Möglichkeiten, die auch dargestellt ist in vielen verschiedenen Inszenierungen in diesem Heft, bewerten wir als Gewinn. Dieser Gewinn schafft Raum und Zeit zur Entwicklung. Er erlaubt ein Experimentieren mit den eigenen Möglichkeiten. Er erlaubt korrigierbare Fehler zu machen. Dieser Gewinn schafft auch die Qual der Wahl, vor allem aber eine Entwicklungspotenz dessen, wie, wo, mit wem wir sexuell leben wollen und können.

Und übrigens, um es nicht zu vergessen, Sex kann auch Spaß machen ...

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