Rofo 2001; 173(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-2001-10223
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Polytraumamanagement: Anmerkungen zu einer radiologischen „Rund um die Uhr”-Aufgabe

H. HäuserK. Bohndorf
  • Klinik für Diagnostische Radiologie und Neuroradiologie Klinikum Augsburg
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Das Thema liegt im Trend. Nach zögerlichem Beginn hat die radiologische Fachwelt (am weitestgehenden in den USA) sich inzwischen des „Radiologischen Managements beim Polytrauma” angenommen.

Die Fakten

  • Das Polytrauma ist die häufigste Todesursache bis zum 44. Lebensjahr.

  • Ca. 30 000 Polytraumen sind pro Jahr in Deutschland zu versorgen.

  • Die Behandlungskosten pro Fall liegen im Mittel in einem Traumazentrum bei 110 000,- DM (und werden bis jetzt in der Regel durch die Tageskostenpauschalen bei weitem nicht gedeckt).

  • Nur ca. 0,5 % der Kosten pro Patient entfallen auf die bildgebende Diagnostik im Schockraum selbst.

Überleben des Patienten, der Therapieverlauf und die Verweildauer auf der Intensivstation werden aufgrund der Folgen eines prothrahierten Schockgeschehens im ganz starken Maße von der Arbeit in den ersten 30 - 60 Minuten im Schockraum des Krankenhauses beeinflusst. Verzögerungen in der Diagnostik, inadäquate Diagnostik und unzureichende Würdigung der diagnostischen Befunde sind die häufigsten Fehler, die in diesen ersten 60 Minuten gemacht werden können und auch zu vermeidbaren Todesfällen führen.

Optimale Zeitausnutzung in der initialen Diagnostik- und Therapiephase ist bei diesen Patienten extrem wichtig. Was muss aus radiologischer Sicht beigesteuert werden? Unsere Ansichten (basierend auf der aktiven Mitversorgung von jährlich ca. 300 polytraumatisierten Patienten und der Würdigung der Literatur) sind folgende:

Akutes Polytraumamanagement ohne Radiologen ist Unsinn

Merkwürdigerweise wird sowohl in den Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger für die Zulassung eines Krankenhauses zur Behandlung Schwerverletzter als auch in den neu erstellten Leitlinien für die unfallchirurgische Diagnostik und Therapie beim Polytrauma der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) der Radiologe nicht als initial notwendiges Mitglied des Schockraum-Basisteams im Krankenhaus der Schwerpunkt- oder Maximalversorgung definiert. Ausschließlich eine MTRA wird als Bestandteil des Basisteams für die apparative Diagnostik angesehen.

Die radiologische Abteilung muss zwar personell eine 24-Std.-Präsenz im Krankenhaus gewährleisten, eine nähere Definition der Tätigkeit und Verfügbarkeit des Radiologen im Schockraum liegt aber nicht vor.

Dagegen ist eine Reihe von Argumenten anzuführen:

  • Arbeitsteilung und Spezialisierung führen zur besseren Nutzung der ersten 60 Minuten. Verschiedene Arbeiten beziffern den Zeitgewinn bei horizontal strukturierter Arbeitsteilung im Schockraum mit ca. 50 %.

  • In der Frühversorgung Schwerverletzter beschränkt sich die CT-Diagnostik längst nicht mehr auf die Abklärung von Kopfverletzungen allein. Mittlerweile ist als Standard zu fordern: Bei hämodynamisch stabilen Patienten ist auch routinemäßig ein CT des Thorax und des Abdomens schon in den ersten 60 Minuten notwendig. Nur bei klinischem und sonographischem Verdacht auf abdominelle Blutungen bei hämodynamischer Instabilität kann in der Regel auf ein CT verzichtet werden, wenn der Patient sofort in den OP verbracht wird. Diese Forderungen ergeben zwingend, dass ein Radiologe vor Ort die CT-Untersuchung leiten und sofort befunden muss. Zwangsläufig folgt, dass der Radiologe ein Teil des Traumateams sein muss. Ein primär schneIles Verbringen des Patienten in den CT macht keinen Sinn, wenn sich die Befunderstellung nach der Untersuchung verzögert.

  • Den Anspruch auf Qualität bei der Erstversorgung Schwerstverletzter einzulösen bedeutet für uns: Der Radiologe muss, wie alle anderen Teammitglieder auch, über die Anamnese, das Verletzungsmuster und die hämodynamische Situation Bescheid wissen und sich aktiv um diese Informationen kümmern. Entsprechend wird er seine Algorithmen und seine Untersuchungstechniken (s. u.) der Situation anpassen. Seine Befundqualität wird sich erhöhen, Der Radiologe ist das einzige Teammitglied, welches in allen bildgebenden Methoden trainiert ist (einschließlich Sonographie!), was - entsprechend der horizontalen Organisation - die zusammenfassende Bewertung aller Ergebnisse verbessert.

Die „neuen” Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie berücksichtigen diese Überlegungen jedoch nicht. Es macht aber keinen Sinn, für den radiologischen Arbeitsbereich apparative und räumliche Vorgaben sowie diagnostische Abläufe festzulegen, gleichzeitig sich aber um die Definition der Tätigkeit und Verfügbarkeit des Radiologen zu drücken.

Bildgebende Diagnostik im Schockraum. Was brauchen wir?

Kernelemente einer bildgebenden Diagnostik im Schockraum sind eine Röntgeneinheit, Sonographie und CT. Damit endet aber schon die Gemeinsamkeit der Ansichten zwischen den beteiligten Fachgruppen (Chirurgie/Anästhesie/Radiologie), aber auch innerhalb der Radiologen selbst. Brauchen wir einen Buckytisch mit deckengeführter Obertischröhre? Brauchen wir eine digitale C-Bogeneinheit mit Durchleuchtung und Zielaufnahmen? Muss der CT im Schockraum stehen? Wie weit darf der CT räumlich vom Schockraum entfernt lokalisiert sein? Umfangreiche Befragungen vieler mit polytraumatisierten Patienten beschäftigten Ärzte haben gezeigt, dass keine einheitlichen Vorstellungen existieren.

Vergleichende Untersuchungen, die bestimmte Systeme begründet besser einsetzbar erscheinen lassen, sind nicht vorhanden. Bestehende Installationen beruhen meist auf persönlichen Erfahrungen oder Vorgaben, nicht auf objektiven Erkenntnissen. Aus radiologischer Sicht können daher bislang auch keine Empfehlungen für eine optimale Raumgestaltung weitergegeben werden. Auch wenn die Vorteile der digitalen Bildakquisition und -weitergabe offenkundig sind, existieren nicht einmal definierte Minimalanforderungen für die röntgendiagnostischen Installationen neuer Traumaeinheiten.

Unstrittig ist dagegen heute die Forderung nach direkter räumlicher Nähe des CT zum Schockraum. Es gibt aber ebenso keine Erkenntnisse darüber, wie weit entfernt tatsächlich ein CT maximal vom Schockraum platziert sein darf, ohne den Patienten im Vergleich zu einer günstigeren Raumkonstellation zu gefährden. Im Rahmen der Primärdiagnostik sind, in erster Linie auch aufgrund der erforderlichen CT-Diagnostik, bis zu 7 Umlagerungen der Patienten bekannt. Dies bedeutet nicht nur erhebliche Zeitverluste, sondern auch körperliche Belastungen des Patienten. So gesehen trägt die radiologische Diagnostik zu einer Gefährdung des Patienten bei, auch wenn die Zielsetzung gegenteilig ist.

Die praktische Lösung der apparativen und räumlichen Probleme der bildgebenden Diagnostik des Schwerverletzten vor Ort wird immer komplex und abhängig von verschiedenen Faktoren sein. Uns erscheint deswegen die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung eines Lagerungskonzeptes vordringlich. Dieses Konzept sollte Umlagerungen innerhalb und außerhalb des Schockraums zulassen, ohne den Patienten selbst bewegen zu müssen. Dieses Lagerungskonzept sollte ein Standard, also herstellerunabhängig sein. Kompatibilität für Buckytische, Durchleuchtungseinheiten, CTs, OP-Tische und Transportliegen ist das Ziel.

Ein LobIied auf Algorithmen (oder: Plädoyer für standardisierte Handlungsabläufe auch in der radiologischen Diagnostik)

Nicht nur horizontale Arbeitsweise, sondern auch standardisierte, eingeübte Handlungsabläufe sparen Zeit und vermindern Fehlermöglichkeiten. Es existieren vor allem von der DGU entwickelte Handlungsschemata (Algorithmen), die komplexe Diagnose- und Behandlungswege beim polytraumatisierten Patienten in strukturierte Einzelschritte gliedern. Daraus resultieren nachweisbare Reduktionen der Letalitätsraten.

In einzelnen Zentren wurden radiologische Diagnostikabläufe bereits an klinische Algorithmen zeitgerecht adaptiert. Auch Konzepte zur Zeitverkürzung im Rahmen der CT-Diagnostik sind teilweise publiziert. Nur einen Konsens, vergleichbar den Leitlinien der DGU, gibt es in der radiologischen Fachwelt nicht.

Die Diskussion, ob Ultraschalldiagnostik durch CT ersetzbar wird, welche Voraussetzungen erfülIt werden müssten und wann welche CT-Untersuchung durchgeführt werden muss, basiert auf nur wenigen Studien. Selbst zu einzelnen Organuntersuchungen ist kein anerkannter Standard für CT-Untersuchungen festgelegt. Der immer wieder postulierte Zeitgewinn einer Ganzkörper-CT-Untersuchung mag für die eigentliche Datenakquisition zutreffen. Ein tatsächlicher Zeitgewinn unter Berücksichtigung der gesamten Bilddatennachverarbeitung, Bildbetrachtung und Befundaussage im Verhältnis zu körperabschnittorientierter Untersuchungstechnik ist nicht bewiesen.

Es ist unklar, inwieweit Patienten von einer Screening-CT-Untersuchung profitieren oder dadurch evtl. gefährdet werden. Solange keine validierten Aussagen zu diesen Fragen vorliegen, sind auch keine Postulate für einen favorisierten diagnostischen Ablauf zulässig. Nur Multizentervergleiche können die Effektivität bestehender radiologischer Abläufe untermauern oder in Frage stellen. Ist z. B. tatsächlich in den für Schwerstverletztenversorgung zugelassenen Traumazentren eine komplette radiologische Diagnostik (inklusive CT) unter Einschluss einer abschließenden Befunderstellung innerhalb 30 - 60 Minuten gewährleistet?

Allgemeingültige radiologische Diagnosealgorithmen für die gesamte Polytraumadiagnostik könnten hier Lücken schließen und Standards definieren. Als Standard sollte z. B. eine cranielle CT bei diesen Patienten die obere HWS (Co - C2) erfassen, in Abhängigkeit von der Beurteilbarkeit der unteren HWS aber auch den zervikothorakalen Übergang. Wie ist jedoch bei kreislaufinstabilen Patienten vorzugehen?

Unserer Ansicht nach würden Algorithmen folgende positive Effekte nach sich ziehen:

  • Klar strukturierte Diagnoseabläufe erleichtern innerklinisch für weniger Erfahrene einerseits den eigenen Arbeitsablauf, andererseits sind zeitraubende interdisziplinäre Einzelfalldiskussionen dadurch überflüssig.

  • Strukturierte Lösungswege gestatten zwar begründete Abweichungen, vermitteln aber trotz Zeitdruck auch Sicherheit.

  • Solange die Algorithmen angewandt werden, ist aufgrund der transparenten Handlungsabläufe eine systematische Fehlersuche möglich. Interklinische Vergleiche zur Qualitätskontrolle sind leichter durchführbar.

Vorbildhaft werden klinische Qualitätsvergleiche der beteiligten Zentren in der Polytraumaforschung der DGU durchgeführt. Das Traumaregister der Arbeitsgemeinschaft Polytrauma der DGU erlaubt allerdings keine tiefere Einsicht, inwieweit suboptimale Bedingungen der zentrumstypischen radiologischen Arbeitsweise vorlagen. Insofern erscheinen eigene Qualitätsvergleiche zwingend.

Um praktikable radiologische Algorithmen entwickeln und anwenden zu können, ist grundlegende Voraussetzung die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die radiologischen Vorstellungen müssen in Konsens mit den beteiligten Fachgebieten festgelegt werden. Regelmäßige interdisziplinäre Problemfallkonferenzen sind notwendig, um bestehende Algorithmen zu überprüfen. Ebenso haben sich interne Qualitätskontrollen (z. B. standardisierte Zweitbefundung) als sinnvoll erwiesen.

OA Dr. Hannes Häuser

Klinik für Diagnostische Radiologie und NeuroradiologieKlinikum Augsburg

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