Pneumologie 2000; 54(1): 43-47
DOI: 10.1055/s-2000-9061
ÜBERSICHT
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Die Flockarbeiterlunge

Hintergründe eines neuen pneumologisch- arbeitsmedizinischen KrankheitsbildesL. Zell
  • Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes (Leiter: Prof. Dr. med. A. Buchter)
Further Information

Dr. med.Lothar Zell

Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes

(Leiter: Prof. Dr. med. A. Buchter)

Am Forum 6

D-66424 Homburg

Email: amlzel@med-rz.uni-sb.de

Publication History

Publication Date:
31 December 2000 (online)

Table of Contents #

Einleitung

Die Publikation eines Zusammenhangs von mehreren Patienten mit interstitiellen Lungenerkrankungen und ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Betrieb der Flockindustrie hat in den vergangenen vier Jahren in den USA eine öffentliche Diskussion ausgelöst, welche neben der Klärung medizinischer und arbeitstechnischer Aspekte des Krankheitsgeschehens das Spannungsfeld des Wissenschaftlers im Interessenkonflikt der Verantwortung gegenüber den betroffenen Patienten, den Forderungen des Arbeitgebers und wirtschaftlichen Interessen der Industrie widerspiegelt.

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Vorgeschichte

Im November 1994 und im Februar 1996 wurden zwei ansonsten gesunde junge Männer von ihren Pneumologen zur weiteren Abklärung einer unklaren interstitiellen Lungenerkrankung dem Arbeitsmediziner David Kern vorgestellt. Kern leitete seit 1986 die arbeits- und umweltmedizinische Abteilung des Memorial Hospital in Pawtucket, Rhode Island, welches wiederum zur Medical School der Brown University in Providence, Rhode Island, gehört [[8], [24]]. Beide Patienten waren über mehrere Jahre in einem Beflockungsbetrieb in Rhode lsland tätig gewesen [[10]].

Bereits 1990 und 1991 waren fünf Patienten mit nichtgranulomatösen interstitiellen Lungenerkrankungen in einem anderen Zweigbetrieb derselben Firma in der kanadischen Provinz Ontario aufgefallen und später beschrieben worden [[16]], zwei weitere bioptisch gesicherte Fälle traten danach dort auf.

Aus diesen Gründen informierte Kern neben der Firmenleitung auch das National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH), und führte in Form einer retrospektiven Kohortenstudie eine gesundheitliche Evaluation der im Beflockungsbetrieb Beschäftigten durch [[8], [10], [13], [24]].

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Arbeitsprozess

Unter dem Begriff der „Beflockung” (flocking) versteht man ein elektrostatisch-mechanisch durchgeführtes Verfahren zum Aufbringen von geschnittenen oder gemahlenen synthetischen oder natürlichen Fasern (dem sogenannten flock) auf ein mit Klebstoff beschichtetes Substrat (Gewebe, Papier, Kunststoff, Metall). So kann je nach Art, Länge und Menge des Flockes eine velour-, samt- oder wildlederähnliche Oberfläche erzeugt werden. Als synthetische Faser wird häufig Nylon (Polyamid), Kunstseide oder Polyester benutzt. Beflocktes Gewebe wird neben umfangreicher Verwendung für Polsterbezüge bei Sitzmöbeln und in der Automobilindustrie für eine Vielzahl weiterer Einsatzbereiche produziert (Tab. [1]).

Hinsichtlich der Gefährdungsbeurteilung von Arbeitnehmern in der Nylon-Beflockungsindustrie müssen Verfahrensabläufe und mögliche arbeitstechnische Verfahrensunterschiede dargestellt werden [[4], [27]]: Zunächst muss ein Fasermaterial definierter Länge (Flock) durch das Schneiden von kontinuierlichen Nylonfilamenten („Kabeln”) gewonnen werden. Dies kann mittels einer guillotineähnlichen Schneidmaschine mit Ober- und Untermesser durch entsprechenden Kabelvorschub in gewünschter Faserlänge erfolgen. Die dabei entstehenden Fasergrößen liegen erheblich oberhalb der Alveolargängigkeit. In den Produktionsanlagen in den Betrieben der USA, innerhalb derer die Erkrankungen auftraten, wurden sehr viel schneller arbeitende Rotationsschneidemaschinen eingesetzt, welche mit mehreren Messern die kontinuierlich einfahrenden Kabel schneiden, so dass die Faserlänge aus der Rotationsgeschwindigkeit der Messer und der Geschwindigkeit des Faservorschubs bestimmt wird. Die dortigen Nylonkabel waren mit Titandioxid vorbehandelt, welches ein Abstumpfen einzelner Messer der Rotationsschneidemaschine begünstigt. Bei stumpfen Messern kann sich der Anteil an Fasertrümmern erhöhen, ebenso entsteht bei stumpfen Messern Schmelzwärme, dadurch können aus dem erhitzten Kabelmaterial Schmelz- und Schneidtrümmer in alveolargängigen aerodynamischen Durchmessern herausgelöst werden. In den betroffenen Betrieben der USA erfolgte zudem eine Oberflächenbehandlung vor dem eigentlichen Schneidvorgang, indem die Nylonkabel ein Durchlaufbad passierten.

Diese Oberflächenbehandlung ist erforderlich, um die ansonsten nicht leitfähigen Nylonfasern im weiteren Verfahrensablauf elektrostatisch für die Beflockung ausrichten zu können. Durch den Schneideprozess kommt es dann allerdings zu einem erheblichen Abrieb der Oberflächenpräparation. Die dortige Präparation enthielt Gerbsäuren, einen Ammoniumether aus Kartoffelstärke und eine Alkohol-Ammoniumsulfatmischung. In anderen Betrieben wird die Oberflächenpräparation erst nach dem Schneiden auf die Fasern aufgebracht. Der geschnittene Flock wurde anschließend getrocknet, gemahlen (um beim Schneiden verschweißte Fasern zu trennen), gesiebt (um Überlängen auszuschließen) und in Säcke abgepackt. Für die dann erfolgende Beflockung wurde in der untersuchten Fabrik in Rhode Island zunächst ein Acrylklebstoff auf Wasserbasis auf eine Rolle bzw. Warenbahn eines Baumwoll-Polyester-Gewebes aufgetragen (Abb. [1a]). Beim dort angewandten Verfahren schneite das in einer Kammer befindliche Fasermaterial (Flock) durch einen Siebboden schwerkraftbedingt und durch ein Wechselstromfeld elektrostatisch ausgerichtet auf die darunter befindliche klebstoffbeschichtete Warenbahn (Abb. [1b]). Unter dieser Warenbahn verliefen mehrere Schlägerwellen, welche durch Vibration eine zusätzliche Verfestigung der Fasern im Klebstoff bewirkten. Nach einer Aushärtung des Klebstoffes durch Wärmebehandlung (Abb. [1c]) konnte dann das beflockte Gewebe bedruckt und veredelt werden. Der bei diesem Beflockungsverfahren entstehende hohe Faserüberschuss wurde mittels Absaugdrüsen entfernt (Abb. [1d]) und durch Luftschläuche in Zyklone gesogen, die Flock vom Luftstrom trennen sollten. Insgesamt bestanden aber hohe Gesamtstaubkonzentrationen in den Beflockungsräumen (durchschnittlich um 40 mg/m3), bedingt auch durch das Handhaben offener Säcke, durch nicht geschlossene Zyklone und durch das Reinigen der Produktionshallen von losem überall abgelagertem Flock mittels Druckluftschläuchen („Abblasen”). Die NIOSH-Untersuchungen umfassten zusätzliche qualitative und quantitative Staubuntersuchungen auf Metalle, flüchtige organische Verbindungen, Bakterien, Endotoxine und Pilze. Mikroskopisch zeigten die geschnittenen Nylonflockproben kleine alveolargängige „Schwänzchen” (tail) an den Schnittenden (Querschnitte von 1 µm), während die eigentlichen Fasern Größen von 15 µm Durchmesser und 1 mm Länge aufwiesen (Abb. [2]) [[3], [4], [27]]. Diese schnittbedingten kleinen Nylonfetzen werden in erster Linie für die pulmonalen Entzündungsreaktionen verantwortlich gemacht. Mit solchen Nylonfasern, welche früher als biologisch inert angesehen wurden, wurden bereits bei Ratten pulmonale Entzündungsreaktionen hervorgerufen, und zwar sowohl nach intratrachealer Applikation von eingesammeltem Staub der Fabrik in Rhode Island, als auch mit labortechnisch hergestelltem Nylonfragmentstaub bei völligem Fehlen von Oberflächenpräparationsstoffen [[19]]. An weiteren inhalativen Expositionen der Arbeitnehmer wurden im Acrylkleber enthaltener Ruß sowie nichtfasriges Zeolith als mineralisches Trocknungspuder, um das Zusammenklumpen von Flock bei hoher Luftfeuchtigkeit zu verhindern, erwähnt [[4], [10]].

Tab. 1Anwendungsgebiete der elektrostatischen Beflockung
Automobil- und FahrzeugbauArmaturenverkleidungen Fensterführungsprofile Himmelauskleidungen Kofferraumauskleidungen Polstergewebe
SpielzeugindustrieModelleisenbahnzubehör (Geländeformteile, Grasmatten, Bäume) Formschaumpuppen Gartenzwerge Tischfussballspiele Karnevalshüte
Möbelindustrie und RaumausstattungWände- und Deckenverkleidungen (Dekoration, Schalldämpfung) Velourstapeten Fußbodenbeläge Spiegel-, Schrankrückwände Lautsprecherwände Polsterstoffe Kunststoffstühle Fußabstreifermatten Besteckeinsätze Schubkästenböden
Täschner- und EtuiindustrieKofferschalen Brillenetuis Musikinstrumentenkoffer Etuieinsätze für Zirkel Trockenrasiereretuis
Textil- und LederindustrieWildleder- und Fellimitation Dessinbeflockung (T-Shirts, Gardinen) Schuhinnenfutter Samtbänder
Dekorations- und WerbeartikelChristbaumschmuck Ostereier Köpfe für Perücken Geschenkpapier
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Abb. 1Schema des Verfahrensablaufs der Beflockung [[26]]:

a) Klebstoffauftrag,

b) Beflockung,

c) thermische Trocknung,

d) Reinigung und Absaugung von überschüssigem Flock.

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Abb. 2Elektronenmikroskopische Aufnahme des geschnittenen Endes einer Nylon-Faser mit „Schwänzchen” (Querschnitt der Flock-Faser ca. 15 µm, Querschnitt des Schwänzchen ca. 1 µm) [[3], [4]].

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Untersuchung

Um mögliche weitere Patienten mit unklaren interstitiellen Lungenerkrankungen in dem Beflockungsbetrieb in Rhode Island zu finden, wurden zunächst alle zwischen Juni 1990 und September 1996 über mindestens 18 Monate beschäftigten Personen erfasst (n = 165). Beim Vorliegen von Atemwegssymptomen wurden die Betroffenen zu weiteren Untersuchungen eingeladen, diese beinhalteten auch eine Bodyplethysmographie, eine Diffusionskapazitätsbestimmung und eine Röntgenaufnahme des Thorax. Bei Auffälligkeiten erfolgte eine HR-Computertomographie. Zeigten sich Hinweise für eine interstitielle Lungenerkrankung, erfolgte dann eine Überweisung zur bronchoalveolären Lavage oder zur offenen oder transbronchialen Lungenbiopsie. Bei histologischer Sicherung wurde bei diesen Patienten dann eine weitere Differentialdiagnostik durchgeführt. Das Krankheitsbild der Beflockungslunge wurde als Ausschlußdiagnose definiert, wenn eine interstitielle Lungenerkrankung gesichert werden konnte und zusätzlich persistierende Beschwerden bei anamnestischer Tätigkeit in der Beflockungsindustrie vorlagen. Die Abschätzung der alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenz erfolgte vergleichend mit einem Register für interstitielle Lungenerkrankungen des US-Bundesstaats New Mexico. Schließlich konnten 39 von 148 zum Untersuchungszeitpunkt Beschäftigten und zusätzlich drei frühere Mitarbeiter weitergehend untersucht werden, dabei fanden sich acht Personen (sieben Männer, eine Frau), auf die die genannten Kriterien der Flockarbeiterlunge zutrafen. Der Median der Latenzzeit zwischen Expositionsbeginn und Beschwerdebeginn betrug sechs Jahre, zwischen Beschwerdebeginn und Diagnosestellung waren es 15 Monate. Die geschlechtsadjustierte Inzidenzrate war in Bezug auf das Vergleichsregister um den Faktor 48 für interstitielle Lungenerkrankungen erhöht und für Lungenfibrosen um den Faktor 258. Hinsichtlich der Ätiologie des Krankheitsbildes stellt Kern neben den Nylonfasern die zur Oberflächenbehandlung verwendeten Materialien zur Diskussion (Gerbsäure, Kartoffelstärkemehl, Ammoniumsulfat und aliphatische Alkohole). Seitens seiner Untersuchung und aus der Literatur fand er aber keine ausreichenden Hinweise für eine wesentlich kausale Rolle dieser Stoffe. Des weiteren fanden sich bronchoskopisch keine Rußablagerungen (als Klebstoffbestandteil) im Sinne einer Anthrakose, ebenso keine Pneumokoniosezeichen bei möglicher Zeolithexposition. Bisher nicht näher definierte thermische Zersetzungsprodukte beim Trocknungsprozess wurden spekulativ diskutiert, Mycotoxine von Schimmelpilzen wurden aufgrund arbeitstechnischer Abläufe und der Literatur ursächlich als unwahrscheinlich bewertet [[10], [13]].

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Krankheitsbild

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Pathologie

Zur Charakterisierung der pathoanatomischen Veränderungen in Verbindung mit den beruflichen Expositionen in Nylonfaserfabriken fand im Januar 1998 auf Einladung des National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) ein Workshop mit Klinikern und Pathologen statt [[6]]. Die dort erfolgte Synopsis von bisher insgesamt 20 Patienten aus insgesamt vier Fabrikationsstätten (Rhode Island, Ontario, zweimal Massachusetts) ergab unter den beteiligten Wissenschaftlern und in Übereinstimmung mit den von Kern publizierten Fällen [[10]] einen Konsensus hinsichtlich des histopathologischen Bildes:

Gewebeproben (transbronchial oder durch offene Lungenbiopsie entnommen) lagen von 15 Patienten vor. Vorherrschend war eine lymphozytäre Bronchiolitis und Peribronchiolitis mit lymphoider Hyperplasie, gekennzeichnet von lymphoiden Aggregationen. In unterschiedlich ausgeprägter Weise fanden sich bei den einzelnen Gewebsproben Kriterien weiterer histopathologischer Unterteilungsmöglichkeiten: diffuse alveolar damage (DAD), bronchiolitis obliterans with organizing pneumonia (BOOP) und desquamative interstitial pneumonitis (DIP). Drei der acht Patienten aus der Gruppe von Kern hatten in der bronchoalveolären Lavage eine der chronisch-eosinophilen Pneumonie entsprechende Eosinophilie zwischen 25 und 40 %. Riesenzellen (giant cells), wie sie bei der Hartmetallfibrose gesehen werden können, und Granulombildungen waren histologisch lediglich in einem der 15 Fälle, und auch dort nur in schwacher Ausprägung, zu finden.

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Klinik

Auch das während dieses NIOSH-Workshops zusammengefasste klinische Bild der Patienten entspricht im wesentlichen den Auffälligkeiten der 8 Patienten von Kern: Bei allen 20 Patienten bestanden Dyspnoe und produktiver oder unproduktiver Husten über Monate oder Jahre vor der ersten Vorstellung, eine verminderte Total- oder Vitalkapazität lag in der Hälfte der Fälle vor, 19 Patienten hatten eine eingeschränkte Diffusionskapazität, CT- und HRCT-Untersuchungen zeigten milchglasartige Trübungen, teilweise mit Betonung der Peripherie, teilweise auch bei als unauffällig befundeter Röntgenübersichtsaufnahme des Thorax. Mediastinale, hiläre oder pleurale Veränderungen wurden nicht gefunden. Therapeutisch stand eine Expositionskarenz im Vordergrund: Von 17 Patienten wird eine Arbeitsaufgabe berichtet, davon versuchten 6 eine spätere Wiederaufnahme der Arbeit, diese zeigten aber alle dann ein erneutes Auftreten der subjektiven und objektiven Symptome. 8 der 20 Arbeiter erhielten eine initial hochdosierte systemische Kortikosteroidtherapie und 6 wurden mit inhalativen Steroiden behandelt. Die weiteren 6 Arbeiter erhielten keinerlei medikamentöse Therapie und zeigten eine Besserung sämtlicher Symptome nach Beendigung der Tätigkeit. 2 der 3 Arbeiter, die ihre Tätigkeit nicht aufgegeben hatten, hatten einen steigenden Medikamentenbedarf einschließlich oraler Kortikosteroide, einer wurde innerhalb der Firma an einen Arbeitsplatz ohne entsprechende Exposition umgesetzt. Einige Patienten zeigten eine komplette Restitution, bei anderen besserte sich die Symptomatik nur partiell, so dass Belastungslimitierungen bis hin zur Erfordernis einer Sauerstoffdauertherapie bestehen blieben [[6]].

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Auseinandersetzung

Nachdem ihm Ende 1994 der erste Patient zur arbeitsmedizinischen Untersuchung vorgestellt wurde, suchte Kern die Beflockungsfirma in Rhode Island zu einer Betriebsbegehung zur Frage möglicher Ursachen auf, konnte aber keine arbeitsbedingte Erklärung finden [[10]]. Bei diesem Besuch unterzeichnete er einen Vertrag zur Wahrung von Betriebsgeheimnissen der Firma. Nach Vorstellung des zweiten Patienten Anfang 1996 teilte Kern der Firma den erhärteten Verdacht einer durch berufliche Expositionen bedingten Erkrankung mit, daraufhin wurde er von der Firma mit der Untersuchung möglicher Ursachen beauftragt und von der Firma ebenfalls eine Untersuchung durch das National Institute for Occupational Safety and Health angefordert [[27]]. Während seiner Ermittlungen Ende 1996 bereitete Kern darüber auch ein Abstract für die Jahrestagung der American Thoracic Society im Mai 1997 in San Francisco vor, um auf die Problematik aufmerksam zu machen und diese zu diskutieren. Die Einsendung des Abstractentwurfes wurde allerdings von der Firma nicht gestattet, weil darin Chemikalien genannt worden seien, welche als Betriebsgeheimnis gemäß der 1994 getroffenen Vereinbarung zu werten seien. Nach Meinung Kerns waren unter einer solchen Vereinbarung Informationen über Produktionsverfahren zu verstehen, nicht aber die Mitteilung von Berufskrankheiten [[9]]. Auch ein überarbeiteter Abstractentwurf ohne Identifizierungshinweise auf den Betrieb (nicht einmal das Wort „flock” erschien) wurde von der Firmenleitung untersagt, aus diesem Grund informierte Kern dann die Verwaltung des Memorial Hospital und die medizinische Fakultät der Brown University. Seitens der Krankenhausverwaltung wurde Kern dann allerdings aufgefordert, das Abstract zurückzuziehen, zum einen wegen der 1994 getroffenen Vereinbarung über die Wahrung von Betriebsgeheimnissen, zum zweiten, weil kein formaler Vertrag über die von Kern durchgeführte Gesamtuntersuchung bestand, aber bereits Gelder für medizinische Untersuchungen von der Beflockungsfirma an das Krankenhaus gezahlt worden waren und die Krankenhausverwaltung Schadenersatzforderungen bei eventuellen wirtschaftlichen Einbußen der Firma fürchtete. Auch seitens der Brown University wurde Kern mitgeteilt, dass er das Abstract nicht publizieren dürfe. Kern aber reichte dennoch seine Ergebnisse ein und stellte sie im Mai 1997 beim ATS-Meeting vor [[14]], daraufhin wurde er von seinem Krankenhaus und von der Universität brieflich benachrichtigt, dass sein 1999 auslaufender Fünfjahresvertrag nicht verlängert werden würde. Zeitgleich erfolgte zusätzlich die Ankündigung der Schließung seiner arbeitsmedizinischen Abteilung aus wirtschaftlichen Gründen, obwohl diese Abteilung die einzige Ausbildungsstätte für Medizinstudenten der Brown University im Fach Arbeitsmedizin war [[8], [24]]. Eine Vielzahl von Protestschreiben an Universität und Krankenhaus und eine landesweit und international im medizinischen Schrifttum ausgelöste Diskussion behandelte die Frage, welches das höher zu wertende Gut ist: Die Einhaltung von Vereinbarungen zur Wahrung produktionstechnischer Betriebsgeheimnisse oder die Verantwortung zur Mitteilung gesundheitsschädigender Einflüsse am Arbeitsplatz bei einer wissenschaftlichen Konferenz mit der Zielsetzung, auf Gefahren für weitere Beschäftigte in anderen Firmen aufmerksam zu machen und damit möglichen Erkrankungen vorzubeugen. Neben vielen Artikeln in der Tagespresse (Boston Globe, Pawtucket Times, Providence Journal-Bulletin), einer Vielzahl von Protestschreiben von Arbeitsmedizinern und mehreren Stellungnahmen von medizinischen Fachgesellschaften findet sich 1997 im New England Journal of Medicine eine Leserbriefdiskussion der verschiedenen Interessengruppen [[2], [7], [12], [17], [23]]. Ein Kommentar in Science weist auf Vertuschungsversuche der für die Firma unvorteilhaften Forschungsergebnisse hin [[22]]. Die Veröffentlichung von Kern's Originalarbeit über die Untersuchung im Beflockungsbetrieb in Rhode Island im August 1998 in den Annals of Internal Medicine [[10]] wird von einem Editorial begleitet, welches trotz aller Interessenkonflikte die soziale Verantwortung medizinischer Tätigkeit fokussiert [[5]]. Zusätzlich stellt eine Medizinjournalistin in derselben Ausgabe die Chronologe der Ereignisse und Aussagen der Beteiligten dar [[24]]. Auch in den Annals folgt 1999 eine ausführliche Leserbriefdiskussion [[1], [11], [15], [18], [20], [25]].

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Konsens

Die Gemeinsamkeiten der histopathologischen und klinischen Befunde weisen auf eine Induktion der Erkrankungen in Betrieben der Nylonflockindustrie mit ungenügender Arbeitshygiene hin. Die Verbesserung der Symptomatik nach Tätigkeitsaufgabe, die Verschlechterung bei erneuter Tätigkeitsaufnahme, das epidemiologisch gehäufte Auftreten von 20 Erkrankungen einer seltenen Krankheitsentität bei einer Zahl von insgesamt etwa 500 Beschäftigten in vier Fabriken, die unter den Arbeitern der Fabrik in Rhode Island um etwa den Faktor 50 gesteigerte Inzidenz interstitieller Lungenerkrankungen gegenüber der Allgemeinbevölkerung und der inzwischen geführte Nachweis einer ausgeprägten akuten pulmonalen Entzündungsreaktion bei Ratten nach intratrachealer Applikation von Stäuben der Fabrik in Rhode Island lassen den Zusammenhang der Induktion des Krankheitsbildes durch die spezifischen Arbeitsplatzexpositionen offensichtlich erscheinen. Weitere toxikologische Untersuchungen zur Wirkung der Nylonfaserfragmente und zur möglichen und bisher nicht ausgeschlossenen ätiologischen Bedeutung anderer im Produktionsprozess auftretender Stoffe (Oberflächenbehandlung, thermische Zersetzungsprodukte) werden benötigt.

Allgemeine Präventionsstrategien einschließlich technischer und persönlicher Schutzmaßnahmen zur Expositionsminderung sowie arbeitsmedizinische Überwachungsuntersuchungen werden für die Nylon-Beflockungsindustrie empfohlen.

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Fragen

Hinsichtlich der Ätiologie der erkrankten Patienten mit interstitiellen Lungenerkrankungen sind in Ergänzung zu den wenigen erwähnten und diskutierten Stoffen in der Arbeit von Kern zusätzlich eine Vielzahl weiterer Substanzen zu untersuchen. In der Veröffentlichung über die erkrankten Mitarbeiter im Beflockungsbetrieb in Ontario wird auf über 100 verschiedene Chemikalien im dortigen Produktionsprozess hingewiesen [[16]]. Erste Arbeiten zur Erfassung der Belastung [[21]] und zur ursächlichen Bedeutung der Schadstoffe im Fabrikstaub sind bereits veröffentlicht [[19]]. Die Notwendigkeit einer spezifischeren Eingrenzung der ätiologischen Agentien als auch des Krankheitsbildes besteht weiter und kann zumindest teilweise auch durch arbeitshygienische Optimierungen der Verfahrensabläufe, welche unter präventiver Intention ohnehin dringend erforderlich sind, beantwortet werden.

Die Frage der gegenseitigen Abwägung und Wertung medizinischer und sozialer Verantwortung, wissenschaftlicher und akademischer Freiheit und wirtschaftlichen Interessen im kommerziellen Wettbewerb muß primär unter dem Vorrang der Berücksichtigung individual- und kollektivmedizinischer Aspekte der in diesem Industriezweig beschäftigten Menschen diskutiert und beantwortet werden.

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Literatur

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  • 24 Shuchman M. Secrecy in science: The flock worker's lung investigation.  Ann Intern Med. 1998;  129 341-344
  • 25 Shuchman M. Secrecy in science: The flock worker's lung investigation (Antwortbrief).  Ann Intern Med. 1999;  130 616
  • 26 Verband der Flockindustrie e.V. .Flock: Verschönern, schützen, sichern. Eine Informationsschrift vom Verband der Flockindustrie e.V. Reutlingen
  • 27 Washko R, Burkhart J, Piacitelli C. NIOSH: Health Hazard Evaluation Report. U. S. Department of Health and Human Services, National Institute for Occupational Safety and Health, NIOSH 1998 Report No. HETA 96-0093

Dr. med.Lothar Zell

Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes

(Leiter: Prof. Dr. med. A. Buchter)

Am Forum 6

D-66424 Homburg

Email: amlzel@med-rz.uni-sb.de

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Literatur

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  • 22 Roush W. Publishing sensitive data: who calls the shots? Secrecy dispute pits Brown researcher against company.  Science. 1997;  276 523-524
  • 23 Scott H D. Intimidation of researchers by special-interest groups (Leserbrief).  N Engl J Med. 1997;  337 1318
  • 24 Shuchman M. Secrecy in science: The flock worker's lung investigation.  Ann Intern Med. 1998;  129 341-344
  • 25 Shuchman M. Secrecy in science: The flock worker's lung investigation (Antwortbrief).  Ann Intern Med. 1999;  130 616
  • 26 Verband der Flockindustrie e.V. .Flock: Verschönern, schützen, sichern. Eine Informationsschrift vom Verband der Flockindustrie e.V. Reutlingen
  • 27 Washko R, Burkhart J, Piacitelli C. NIOSH: Health Hazard Evaluation Report. U. S. Department of Health and Human Services, National Institute for Occupational Safety and Health, NIOSH 1998 Report No. HETA 96-0093

Dr. med.Lothar Zell

Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes

(Leiter: Prof. Dr. med. A. Buchter)

Am Forum 6

D-66424 Homburg

Email: amlzel@med-rz.uni-sb.de

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Abb. 1Schema des Verfahrensablaufs der Beflockung [[26]]:

a) Klebstoffauftrag,

b) Beflockung,

c) thermische Trocknung,

d) Reinigung und Absaugung von überschüssigem Flock.

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Abb. 2Elektronenmikroskopische Aufnahme des geschnittenen Endes einer Nylon-Faser mit „Schwänzchen” (Querschnitt der Flock-Faser ca. 15 µm, Querschnitt des Schwänzchen ca. 1 µm) [[3], [4]].