Der Klinikarzt 2017; 46(08): 355-356
DOI: 10.1055/s-0043-111121
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wo bleiben die Frauen an vorderster Klinikfront?

Matthias Leschke
Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie
Klinikum Esslingen GmbH
Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Tübingen
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 August 2017 (online)

Die Zeiten sind passé, als es Frauen verwehrt war, Medizin zu studieren oder – gesellschaftlich geradezu verpönt – als Ärztin zu arbeiten. Das war einmal. Frauen stehen heute alle Lebensentwürfe offen. Männer und Frauen – kein Unterschied. Oder vielleicht doch? Man kann es nicht übersehen: Egal in welchem Beruf, in welcher Position, Frauen werden häufig diskriminiert, benachteiligt, gemobbt. Und zwar von uns Männern. Männliche Vorgesetzte berufen selten eine Frau in eine Spitzenposition. Offenbar bleiben sie lieber unter sich. Dennoch herrscht die Meinung vor, dass Frauen heute wissen, was sie wollen und das auch durchsetzen. Doch es sind Ausnahmekarrieren. In der Wirtschaft, in den Medien, in der Politik. In der Politik mischen sie die männliche Riege auf, mit Charme und Spott und schlagender Intelligenz. Verdrängen wir nicht, dass eine Frau seit 12 Jahren unsere Republik mit naturwissenschaftlichem Kalkül steuert. Frauen sind auch in der Wirtschaft und den Medien präsent, still, aber effizient im Hintergrund wirkend oder mit Charme vor den TV-Kameras. Warum schweife ich ab, obwohl ich eigentlich über die Rolle der Frau im Klinikalltag philosophieren will? Irgendwie ist die Omnipräsenz der Frau im Krankenhauswesen noch nicht so richtig angekommen. Die weibliche Invasion der jungen Medizinabsolventinnen ist nicht zu übersehen. In meiner kardiologischen Klinik sind 70 % meiner ärztlichen Mitarbeiter weiblich.

Wenn man sich in der Kliniklandschaft umschaut, sind Ärztinnen in Spitzenpositionen rar. Mir fällt das immer auf, wenn ich meine Fortbildungsveranstaltungen plane. Immerhin versammeln sich da über ein Dutzend hochkarätiger Referenten aus ganz Deutschland. Ich werde bei der Planung immer häufiger von einem schlechten Gewissen geplagt: Es gelingt mir selten, eine Referentin zu finden. Für meine Fortbildung suche ich exzellente Chefs anderer Kliniken, Persönlichkeiten, die in Forschung und Lehre engagiert sind, die von internationalen Kongressen die Essenz in die Ärzteschaft transportieren. Dass Frauen zu solchen Spitzenleistungen per se nicht in der Lage wären, kann ich nicht glauben. Von dem Wissensdurst und Fleiß meiner jungen ärztlichen Mitarbeiterinnen bin ich begeistert, noch mehr über ihr menschliches Engagement, ja ihre Empathie gegenüber den Patienten. Das Wohl ihrer Kranken liegt ihnen zutiefst am Herzen. Und die Patienten schätzen diese weibliche Medizin. Wir Männer haben es da offensichtlich schwerer, unsere Patienten zu begeistern.

Doch woran mag es liegen, dass Frauen nach ihren Klinikjahren lieber in eine Praxis wechseln als im Krankenhaus Karriere zu machen oder sich sogar dort an die Spitze zu kämpfen? „Zu kämpfen“ – dieses Wort verrät, weshalb sich viele Frauen einen solchen Berufsweg nicht zutrauen, nein sich nicht zumuten wollen. Frau und Mann haben trotz aller Bestrebungen, „gleich“ zu sein, doch meist sehr unterschiedliche Vorstellungen fürs Leben. Die Frau, die auf Ehe und Kinder verzichtet, sich in die Forschung verbeißt und sich ihren Erfolg, ihre Anerkennung hart erkämpft, hat die Chance, Chefin zu werden. Uns männlichen Chefs ist es selbstverständlich, dass wir mehr als einen Fulltime-Job erfüllen, der bis in die späte Nacht hinein Präsenz fordert und auch das Wochenende: Kongresse, Vorträge, Fortbildungsveranstaltungen, Weiterbildung, nächtliches Studium der aktuellen Literatur. Ja und dazu noch die unmedizinische Seite, das Management, Führungsaufgaben, der Diskurs mit den betriebswirtschaftlichen Vorgesetzten, der Kampf darum, dass die Medizin nicht unter die Räder der Ökonomie gerät. Wer mit Leib und Seele Arzt ist, muss diese „Nebentätigkeit“, die heute gut und gerne 50 % unserer Zeit ausmacht, als lästig empfinden.

Überhaupt: Die Situation junger Ärzte in unseren Kliniken ist bedrückend. Leistungsverdichtung bei rabiat verkürzten Liegezeiten, Planstellenreduzierung, willkürlich befristete Arbeitsverträge, unbezahlte Überstunden, Bewältigung nicht enden wollender Dokumentationsaufgaben. Und gegen diese Ausbeutung der Arbeitskraft und permanente Überlastung getraut sich kaum ein junger Arzt aufzulehnen. So nimmt man halt auch bis zu 70 Wochenarbeitsstunden klaglos hin. Man fürchtet Repressalien, fürchtet, dass der Chef den Arbeitsvertrag nicht verlängern könnte. Offenbar wollen sich Frauen dies alles nicht antun. Sie wollen eine menschliche Medizin betreiben und offenbar sehen sie da in einer eigenen Praxis eher eine Chance. Auch wenn sie da ebenso von der Bürokratie gebeutelt werden, doch sie sind ihre eigenen Herrinnen.

Frauen wollen einen Partner, möchten heiraten, wollen eine Familie mit Kindern gründen. Auch wenn wir Männer uns einbilden, unsere besseren Hälften heute selbstverständlicher in banaler Hausarbeit zu unterstützen, bleibt die eigentliche Verantwortung bei der Frau. Irgendwann sagen unsere Ärztinnen dem Klinikbetrieb Adieu, nicht für immer, doch so lange, bis die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind. Und das ist ein Problem. Der Wiedereinstieg nach Jahren in den Beruf ist hart. Die Medizin entwickelt sich in einem rasanten Tempo. Ein paar Jahre Pause lassen Lücken entstehen. Deshalb kann man dennoch eine gute Ärztin sein, doch die Rolle eines Meinungsführers, den die Chefposition voraussetzt mit aller Härte, ja Gnadenlosigkeit, bleibt da Illusion. Wer sich für einige Zeit aus dem Geschäft zurückgezogen hat, ist zwangsläufig nicht mehr aktiv vernetzt. Will Frau sich für eine Führungsposition bewerben, ist eine lückenlose Vita unerlässlich. Die Luft an der Spitze ist dünn. Die männlichen Bewerber, die ihre Karriere kompromisslos planen, sind da eine Herausforderung. Männer suchen eine Machtposition, sie müssen auch knallharte Manager sein; Frauen wollen diese Position gestalten und ihrem Leben Sinn verleihen. Diese „weiche“ Tour mag im Kampf um eine Chefarztstelle oder eine C4-Professur ein Nachteil sein.

Wir brauchen aber auch Ärztinnen an der Spitze unserer Kliniken. Ich vermute, dass die wenigsten ihren Klinikjob an den Nagel hängen, weil sie sich ganz in die Rolle der Hausfrau und Mutter stürzen wollen. Die Arbeitgeber müssen da noch tüchtig überlegen, wie sie junge Ärztinnen, die auch eine Familie gründen, mit Kinderbetreuung und individuellen Arbeitszeitregelungen weit entgegenkommen. Ebenso wichtig ist auch das kollegiale Klima, das wir Männer mehr oder weniger schaffen. Ist es nicht so, dass wir unsere Kolleginnen nicht immer so ganz ernst nehmen und sie das auch fühlen lassen? Weil wir zu wissen meinen, dass sie doch bald abspringen und Familie spielen wollen? Sind es nicht auch unsere Vorurteile, dass wir eher meinen, unsere Kolleginnen wären zufriedener, wenn sie Kinder ausführen und shoppen gehen?

Doch vergessen wir nicht, dass eine Frau, die trotz ihrer Kinder weiterarbeitet und Familie und Klinik unter einen Hut bringt, per se Führungskompetenz und Durchhaltewillen beweist? Wir sollten mit offenen Augen durch unsere Klinikflure gehen und solche Ambitionen unserer Kolleginnen sehen und fördern. Wir brauchen auch in Top-Positionen Frauen.