Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(11): 666
DOI: 10.1055/s-0042-119063
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Referat – Optimierte Suizidprädiktion: eine populationsbasierte Analyse von Arztkontakten vor dem Suizid

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Publication Date:
15 November 2016 (online)

Die WHO schätzte für 2012 800 000 Suizide weltweit. Jährlich sterben ungefähr 11 von 100 000 Menschen durch Suizid. Vollendete Suizide gehen mit enormen gesellschaftlichen und persönlichen Konsequenzen einher. Die klinische Vorhersage von Suiziden ist bisher nur mit unzureichender Präzision möglich. Mehr Wissen darüber, welche Patientencharakteristika in welchen Behandlungssettings (psychiatrisch vs. nicht psychiatrisch, ambulant vs. stationär) mit Suiziden in Verbindung stehen, ermöglicht die Entwicklung subgruppenspezifischer und damit effektiverer Prädiktions- und Präventionsmaßnahmen.

Ayal Schaffer und Kollegen untersuchten in diesem Studienprojekt eine große, populationsbasierte Kohorte von Suizidenten und analysierten deren Arztkontakte im 12-Monatszeitraum vor dem Tod. Die Auswertung stützt sich auf 2835 Suizide in Toronto zwischen 1998 und 2011 (= 91,7 % aller regionalen Suizide; Datenquelle: Office of the Chief Coroner of Ontario) sowie auf deren Arztkontakte im 12- Monatszeitraum vor dem Suizid (populationsweite personenbezogene Gesundheitsdaten des Institute für Clinical Evaluative Sciences in Toronto).

Bei 91,7 % der Suizidenten fand man mindestens einen Arztkontakt im 12-Monatszeitraum vor dem Tod. Mit 66,4 % zeigte sich beim Großteil mindestens ein Arztkontakt wegen einer psychischen Erkrankung und bei 25,3 % ausschließlich Arztkontakte ohne Bezug zu einer psychischen Erkrankung. Die Arztkontakte wegen psychischer Erkrankungen erfolgten zu 54,0 % in der ambulanten Primärversorgung, zu 39,8 % durch niedergelassene Psychiater, zu 31,1 % in Notaufnahmen und zu 21,0 % im Rahmen stationär-psychiatrischer Behandlungen. Im Median lagen zwischen dem letzten Arztkontakt wegen einer psychischen Erkrankung und dem Suizid 18 Tage.

Vor dem Suizid erfolgten Arztkontakte wegen psychischer Erkrankungen häufiger bei weiblichem Geschlecht, Alter 25–64 Jahre, Fehlen psychosozialer Stressoren, Diagnose von Schizophrenie oder bipolarer Erkrankung, früherem Suizidversuch und Tod durch Selbstvergiftung. Personen mit akuten Arztkontakten vor dem Suizid (Notaufnahmen und stationären Behandlungen) waren jünger, häufiger unverheirat, litten häufiger unter psychischen Erkrankungen und zeigten häufiger einen vorangegangenen Suizidversuch. Es zeigte sich eine längere Latenz zwischen Arztkontakt und Suizid bei Männern, im Alter von 10–24 Jahren und bei Personen ohne bekannte psychosoziale Stressoren. Ein kürzeres Intervall ergab sich für Personen mit bekannter Schizophrenie, bipolarer Störung oder vorherigem Suizidversuch sowie bei denjenigen, die im Krankenhaus starben.