Laryngorhinootologie 2014; 93(05): 334-336
DOI: 10.1055/s-0034-1371797
Gutachten + Recht
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Aus der Gutachtenpraxis: Entspricht ein Hörverlust von 100% immer einer Taubheit?

From the Expert’s Office: Is a Hearing Loss of 100% Equivalent to a Deafness?
T. Brusis
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Publication Date:
29 April 2014 (online)

Einleitung

Die Berechnung des prozentualen Hörverlustes (HV) und damit die Einschätzung von MdE/GdS/GdB orientiert sich – traditionsgemäß – in Deutschland an dem Ergebnis der sprachaudiometrischen Untersuchung mit dem Freiburger Sprachtest. Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch das Tonaudiogramm als Grundlage für den HV herangezogen werden, z. B. bei einem Aktengutachten, wenn kein Sprachaudiogramm vorhanden ist oder aber, wenn eine sprachaudiometrische Untersuchung wegen mangelnder Deutschkenntnisse nicht möglich ist.

Die Berechnung des prozentualen Hörverlustes kann mittels der 4-Frequenz-Tabelle von Röser (1973) bzw. der 3-Frequenz-Tabelle von Röser (1980) erfolgen. In der früheren DDR fand die 4-Frequenz-Tabelle von Fowler und Sabine Verwendung, die auch heute noch in der Schweiz als CPT-AMA-Tabelle (Council of Physical Therapy – American Medical Association) Verwendung findet. Für die Fragestellung, ob bereits eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegt und ein höherer Festbetrag für eine Hörgeräteversorgung von den Krankenkassen bezahlt werden muss, wird die WHO-Grading-Table zugrunde gelegt. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine 4-Frequenz-Tabelle mit Berücksichtigung der Frequenzen 500, 1 000, 2 000 und 4 000 Hz. Es erfolgt eine einfache Addition der Dezibel-Werte bei den genannten Frequenzen. Anschließend erfolgt eine Mittelwertberechnung, sodass es sich um den Durchschnittswert der addierten Hörverluste bei den Frequenzen zwischen 500–4 000 Hz in Dezibel (dB) (nicht in Prozent wie bei anderen Tabellen!) handelt. Dieser Tabellenvorschlag, der weltweit gelten soll, wertet den Hörverlust bei allen Frequenzen gleich, da dieser Vorschlag nicht für ein bestimmtes Sprachidiom gelten soll.

In Einzelfällen zeigt sich immer wieder, dass mittels Sprachaudiogramm oder Tonaudiogramm ein prozentualer Hörverlust von 100% (im Sinne einer Taubheit) errechnet werden kann, obwohl der Betreffende nicht taub ist, sondern noch über verwertbare Hörreste verfügt. Es stellt sich dann die Frage, ob bei einer Begutachtung in einem solchen Fall von einer Taubheit (MdE/GdS/GdB 80%) oder nur von einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit (MdE/GdS/GdB 70%) auszugehen ist.

 
  • Literatur

  • 1 Feldmann H. Brusis T. Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 7. Aufl. Thieme Verlag; 2012
  • 2 Thomann K-D, Losch E. Nieder P. Begutachtung im Schwerbehindertenrecht. Grundlagen, Begutachtungsrichtlinien, Versor­gungsmedizin-Verordnung. Referenz-Verlag; Frankfurt: 2012
  • 3 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Hrsg Versorgungsmedizin-Verordnung. Eigendruck; Berlin: 2009
  • 4 Meister EF. Brusis T. HNO-Begutachtung nach der neuen Versorgungsmedizin-Verordnung. Soziales Entschädigungsrecht und Schwerbehindertenrecht. HNO 2010; 58: 99-105