Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(02): 50-51
DOI: 10.1055/s-0032-1322329
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Chronische Aphasie – Wiederholte transkranielle Magnetstimulation

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Publication Date:
04 July 2012 (online)

 

Die "klassische" Behandlung der chronischen Aphasie nach mehr als 6 Monate zurückliegendem Hirninfarkt ist die Sprachübungstherapie, ggf. unterstützt durch Hirnleistungstraining. Es gab Versuche der supplementären medikamentösen Behandlung, doch führte sie zu keiner wesentlichen Verbesserungen des Therapieerfolgs. Seit einigen Jahren probiert man eine neue supplementäre Therapie aus, die zur Physiotherapie gehört: die wiederholte transkranielle Magnetstimulation.
Arch Phys Med Rehabil 2012; 93: S26—S34

Einzelanwendungen der transkraniellen Magnetstimulation (TMS), also nicht "repetitiv", wurden seit etwa 1885 zur Erforschung von Bewegungsstörungen publiziert. Bei der TMS erzeugt eine Spule, wenn sie von einem Stromimpuls durchströmt wird, einen magnetischen Impuls.

Positioniert man die Spule auf der Kopfhaut, so wird der darunterliegende Kortex stimuliert, d. h. es werden Aktionspotentiale ausgelöst. Die Spulen sind so konstruiert, dass die Stimulation auf etwa einen Quadratzentimeter begrenzt wird, so dass man kleine funktionelle Areale, Regions of Interest gezielt stimulieren kann. Wird der Impuls ausgelöst, spüren die Patienten auf der Kopfhaut eine kurze Berührung wie beim leichten Auftippen mit dem Finger und hören einen Klick. Dies ist weder schmerzhaft noch unangenehm. Abhängig davon, welches unter der Spule liegende Areal stimuliert wird, kommt es zu motorischen oder sensorischen Ereignissen, oder es werden Funktionen gehemmt. Das zur Stimulation beabsichtigte Areal kann der Behandler durch Versuch und Irrtum suchen. Mit einer Navigation, einer neuroradiologischen Technik, läßt sich die Suche abkürzen.

Über die wiederholte (repetitive) TMS (rTMS) wurde seit etwa 2005 publiziert.

Bei rTMS werden täglich minutenlange Stimulationen durchgeführt, die zu lang anhaltenden Bahnungen oder Hemmungen kortikaler Areale führen, was unter anderem epileptische Anfälle reduziert und die Motorik bei Lähmungen verbessert. Warum dies so ist? Wir wissen es nicht. Und was ist, wenn Hirnareale z. B. ischämisch geschädigt sind? Dann kann man sie natürlich weder mit der TMS noch mit der rTMS stimulieren. Jedoch sind ja die beiden Hemisphären durch die Kommissurenfasern des Corpus Callosum (Balken) miteinander verbunden, auch für rezeptive und expressive Sprachfunktionen. Und man entdeckte, dass sich bei Rechtshändern mit linkshirnischem Insult und nicht-flüssigen (z. B. amnestischen und motorischen) Aphasien durch eine Stimulation der intakten rechten Hemisphäre etwa dort, aber nicht nur dort, wo sich links das erkrankte Broca-Areal befindet, das Benennen von Bildkarten verbessert. Und dieser Effekt tritt nicht nur unmittelbar nach der Stimulation auf, sondern hält noch einige Stunden oder sogar noch länger an. Auch was diesen Effekt angeht, kennen wir den physiologischen Grund noch nicht genau. Spiegelneurone, die wir auch beim Spracherwerb kennen, sollen beteiligt sein – aber wie genau? Im Augenblick handelt es sich also ein kleines Wunder!

Doch genug gestaunt: Die Arbeitsgruppe um Magret A. Naeser, die die Methode maßgeblich entwickelte, hat in einer angesehenen Reha-Zeitschrift einen Review der Methode mit neuen Ergebnissen und Fallbeispielen publiziert, der eine zukünftige Innovation für die Behandlung von Aphasien in Aussicht stellt.

Die Autoren suchen bei Patienten mit nicht-flüssigen Aphasien, deren Beginn mindestens 6 Monate zurückliegt, zunächst die Region of Interest (ROI) über der intakten rechten Hemisphäre. Die ROI ist die Region, deren Stimulation sofort zur besten Verbesserung des Benennens führt. Diese ROI wird in den darauf folgenden Sitzungen immer wieder stimuliert. Für langfristige Effekte eignen sich am besten Stimulationsfrequenzen von 1 Hz, d. h. jede Sekunde eine Impuls, 20 Minuten lang, an aufeinanderfolgenden 10 Tagen mit einer Unterbrechung der Behandlung am dazwischenliegenden Wochenende. Die immer wieder exakte Ausrichtung der Spulen auf die individuelle ROI wurde durch eine kernspintomografisch unterstützte Navigation erreicht, wie man sie seit langem auch bei neurochirurgischen oder HNO-ärztlichen Eingriffen verwendet.

Noch 2 Monate nach Ende der rTMS-Behandlungsserie wurden Verbesserungen des Benennens und auch der Satzlänge (Wörter eines Satzes) nachgewiesen. Diese Verbesserungen waren aber nur "tendenziell" (könnten auch zufällig sein) und nicht "signifikant" (beweisbar und wiederholbar). In einzelnen Fällen stieg die Satzlänge von 1 Wort auf 3 Wörter. In einzelnen Fällen konnten noch 27 Monate nach Ende der Behandlungsserie eine Verbesserung des Benennens gegenüber dem Zustand vor der Behandlung nachgewiesen werden. Durch funktionelle Kernspintomographie (fMRI) in Verbindung mit Benennaufgaben konnten nach der Behandlungsserie im Vergleich zu den Aufnahmen vorher bessere Aktivierungen der linken Hemisphäre nachgewiesen werden. Die Stimulation der intakten Hemisphäre bewirkt also eine Funktionsverbesserung der erkrankten Hemisphäre.

Patienten, die am besten auf die rTMS ansprachen, suchten die Autoren für einen weitere Behandlungsserie aus, in der sie unmittelbar nach der 20-minütigen Stimulation eine 3 Stunden dauernde Sprachtherapie durchführten – die Boot-Camp-Stimmtherapie lässt grüßen! (Wer nicht weiß, was eine Boot-Camp-Stimmtherapie ist, lese die Ausgabe dieser Rubrik in Heft 1/2012.) Und nun kamen "signifikante" Verbesserungen heraus, d. h. Steigerungen der Ergebnisse um mehr als 2 Standardabweichungen, d. h. mehr als 2 Effektstärken.

Fazit

Die rTMS ist ein neues, im Moment noch nicht ausreichend wissenschaftlich abgesichertes, aber vielversprechendes Verfahren, das die Effekte einer Sprachübungstherapie nach Aphasie durch Insult verbessern kann. Zukünftig könnte man unmittelbar vor jeder Sitzung einer Übungstherapie eine 20-minütige rTMS durchführen. Dazu müssten sich die Behandlungszentren ein Stimulationsgerät und eine Navigation anschaffen. Schlimm? Eher nicht. Beispielsweise ist in meiner Abteilung in Lübeck die TMS bereits in mein EMG-Gerät integriert – die TMS-Option habe ich aber noch nie benutzt. Und die Notwendigkeit der Anschaffung einer Navigation kennt man im Klinikumsvorstand schon von der HNO-Medizin und Neurochirurgie. Was das Personal angeht: Phoniater (Navigation und Stimulation) und Logopäden (Übungstherapie) sind natürlich schon im Team vorhanden, nichts Neues. Der Verbreitung der Methode steht also eigentlich nichts im Wege – zunächst als Forschungsvorhaben – später in jeder Krankenhausabteilung – und wer weiß, vielleicht irgendwann einmal auch in Praxiskooperationen aus Phoniatern und Logopäden..

Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck