Rehabilitation (Stuttg) 2012; 51(04): 220
DOI: 10.1055/s-0032-1321733
Buchbesprechung
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Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule

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Publication History

Publication Date:
03 August 2012 (online)

Interdisziplinäres Praxisbuch entsprechend der Nationalen ­VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz

J. Hildebrandt, M. Pfingsten, Hrsg.

München: Urban & Fischer, 2011; 496 Seiten, 89,95 Euro

ISBN: 978-3-43723251-0

Das im Herbst 2011 erschienene Buch „Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule“ orientiert sich an der Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz und soll den Anspruch eines interdiszi­plinären Praxisbuches erfüllen.

Formal gliedert sich das Buch mit knapp 500 Seiten in die Kapitel Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Therapie, Prävention, Gesamtmanagement und Versorgungskoordination. 57 nam­hafte Autorinnen und Autoren aus Europa und den USA tragen, jeweils aus der Perspektive ihres Fachgebietes, zu einem sehr umfassenden Überblick über den Rückenschmerz bei. Nach ei­nem kritischen und mutigen Vorwort beschreiben die Herausgeber des Buches, der Mediziner Jan Hildebrandt und der Psychologe Michael Pfingsten, eingehend die Über-, Unter- und Fehlversorgung der Patienten mit nichtspezifischen Rückenschmerzen, die – je nach Autoren – 85–95?% der Rückenschmerzpatienten ausmachen, und den daraus entstehenden enormen Hand­lungsbedarf. Die Schlussfolgerung, „dass erst fruchtbare Zusammenarbeit aller Beteiligten Fortschritte und Problemlösungen in Diagnostik und Therapie im Sinne einer besseren Hilfe für die Patienten erwirken kann“, ist die Grundlage für die zahlreichen anschließenden Buchbeiträge.

Der erste Teil des Grundlagenkapitels zur Epidemiologie und sozioökonomischen Bedeutung von Rückenschmerzen kommt auf der Basis von zahlreichen Studien zu dem Ergebnis, dass „psychosoziale Faktoren nach heutigem Wissen eine größere Rolle spielen als bisher nachweisbare biomedizinische und biomechanische Ursachen“. Um die Darstellung der biomedizinischen und biomechanischen Ursachen kommt das Buch als umfassendes Werk aber nicht herum. Zur Differenzierung von nichtspezifischen Rückenschmerzen von den seltenen spezifischen Rücken­schmerzen bedarf es einer genauen Differenzialdiagnose – obwohl „für die Mehrheit der Patienten mit dem Symptom Rückenschmerzen eine eindeutige ätiologische Diagnose nicht möglich ist“. Die wichtigsten klinischen und apparativen Me­thoden werden mit aussagekräftigem Bildmaterial vorgestellt. Der in das Buch einbezogene Originaltext der Nationalen VersorgungsLeitlinie gibt mit den „red“ und „yellow flags“ – d. h. den Warnzeichen für ein akutes oder chronifizierendes Geschehen – praxisnahe Tipps für den Einsatz diagnostischer Maßnahmen.

Für die Autoren der Leitlinie stehen die Aktivierung und die ärztliche Aufklärung zu jedem Zeitpunkt des Krankheitsgeschehens im Vordergrund. Das spiegelt sich auch in den Beiträgen des Buches wieder. Das Grundproblem der mangelnden Evidenz dieser Therapieansätze kommt aber auch hier immer wieder zum Vorschein. So wird zum Beispiel die manuelle Therapie in Form der Mobilisation/Manipulation als eine „wirksame Behandlung von Rückenschmerzen“ beschrieben – mit dem Nachsatz: „Der Effekt ist jedoch gering, nicht besser als bei anderen Therapien, und es ist nicht genau gesichert, was die Wirksamkeit ausmacht“. Die Nationale VersorgungsLeitlinie gibt keine Empfehlung für die Mobilisation/Manipulation.

Um eine Verbesserung der Strukturqualität in der Versorgung zu erreichen, wird ein Mehr an Kooperation zwischen den Berufsgruppen in den Behandlungsabläufen gefordert. Auch eine ­Überführung des Patienten in interdisziplinär-integrative Versorgungsstrukturen wird nur durch eine Anpassung der strukturellen Rahmenbedingungen zu erreichen sein.

Personen mit besonderer rehabilitationswissenschaftlicher Kenntnis werden möglicherweise den Eindruck haben, dass die ambulante und stationäre Rehabilitation in dem Buch nicht ausreichend abgebildet werden. Insbesondere fehlen neuere Entwicklungen wie die medizinische berufsorientierte Rehabilita­tion (MBOR) und deren Evaluationsergebnisse. Beim Blick in die Liste der Autoren fällt auch auf, dass der Bereich der Rehabilitation in ihr nicht vertreten ist. Insgesamt ist dies aber ein umfassendes, gut geschriebenes und gut gestaltetes Praxisbuch, dessen Lektüre den mit der Versorgung von Rückenschmerzpatienten befassten Personen trotz des mit knapp 90 Euro nicht gerade niedrigen Preises dringend ­empfohlen werden kann.

Die Herausgeber des Praxisbuches hoffen, dass es wesentliche Impulse zur besseren Kooperation der in der Patientenversorgung Tätigen geben wird. Diesem Wunsch kann man sich voll und ganz anschließen.

Angelika Uhlmann und Wilfried H. Jäckel