Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(02): 56
DOI: 10.1055/s-0032-1312668
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten

Cleft Lip and Palate
M. Rücker
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Publication Date:
04 July 2012 (online)

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Prof. Dr. Dr. Martin Rücker

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

Allein in Deutschland sind jährlich etwa 1 200 Neugeborene von einer Lippen-, Kiefer- und Gaumenspaltbildung betroffen. Die Ätiologie von Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten ist komplex und in ihrer Gesamtheit noch nicht vollständig verstanden. Als ursächlich angenommen wird eine multifaktorielle Genese mit genetischer Komponente. Die Ausprägung orofazialer Spalten reicht von einer Lippenkerbe oder Uvula bifida bis hin zu beidseitigen Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten. Somit können Spaltbildungen außer Weichgeweben auch knöcherne Strukturen und Zähne in unterschiedlichen anatomischen Einheiten des Gesichtsschädels beeinträchtigen. In der Folge können neben der Ästhetik auch wesentliche Funktionen des orofazialen Bereichs betroffen sein. Insbesondere beeinträchtigt können die Funktionen Saugen, Kauen, Schlucken und Sprechen sein. Aufgrund dieser Komplexität und Vielgestaltigkeit ist eine Klassifikation der Spaltbildungen schwierig. Für die ästhetische und funktionelle Rehabilitation unserer Patienten ist heutzutage eine interdisziplinäre Zusammenführung der Kompetenzen unterschiedlicher Fachdisziplinen unbedingt erforderlich. So beteiligen sich an universitären Zentren neben der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie meist die Phoniatrie und Pädaudiologie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kinderheilkunde und Neonatologie, Humangenetik, Kieferorthopädie, Zahnerhaltung und Parodontologie, Zahnärztliche Prothetik, Gynäkologie und Geburtshilfe sowie die Logopädie und Stillberatung an der Behandlung von Spaltpatienten.

Ermöglicht heute die Zusammenführung der therapeutischen Kompetenzen – sowohl der chirurgisch als auch der konservativ orientierten – den Trägern von Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten ein unbeeinträchtigtes Leben, so wurden sie in der Vergangenheit oft sozial ausgegrenzt. Leider kommt man nicht umhin, beschämt daran zu erinnern, dass aufgrund der genetischen Komponente Spaltträger im rassenhygienisch verblendeten Dritten Reich zwangssterilisiert wurden. Spalten wurden abwertend als Hasenscharte oder Wolfsrachen bezeichnet. Aktuell ist hier die Haltung der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie hervorzuheben, die die rückhaltlose Aufarbeitung der rassenhygienischen „Ausmerze der Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten“ aus dem uneingeschränkten Bekenntnis zum Schutz des menschlichen Lebens in all seinen Erscheinungsformen heraus ausdrücklich unterstützt.

Da das moderne Therapiekonzept konservative und operative Maßnahmen angepasst an das Entwicklungsstadium des Kindes kombiniert, kann sich die Therapie mit Unterbrechungen durchaus über 2 Jahrzehnte erstrecken. Nicht zuletzt aufgrund der interdisziplinären, wachstumsbegleitenden Therapie und der Tatsache, dass es sich um eine der häufigsten angeborenen Fehlbildungen handelt, sind Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten auch gesundheitspolitisch durchaus von Relevanz.

Vor diesem Hintergrund freuen wir uns, Ihnen im Rahmen des Schwerpunktthemas dieser Ausgabe das aktuelle Wissen über Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten mit besonderer Berücksichtigung des harten und weichen Gaumens vorstellen zu können. Die Erläuterung der gegenwärtig klinisch gebräuchlichen Einteilung soll einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten geben. Die Beschreibung von Anatomie und Physiologie des velopharyngealen Abschlusses einerseits und der Ätiologie der velopharyngealen Insuffizienz andererseits soll Grundlage sein für das Verständnis der aktuellen entwicklungsangepassten operativen und funktionellen Therapie. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung sollen die rezeptiven und expressiven kognitiven Fähigkeiten differenziert dargestellt und mögliche Besonderheiten bei der Nahrungsaufnahme im Säuglingsalter sowie beim Spracherwerb im Kindesalter beleuchtet werden.

Aus eigener langjähriger Erfahrung können wir bestätigen, dass nur ein multidisziplinärer Therapieansatz der Komplexität von Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten tatsächlich gerecht werden kann. Daher soll die von uns getroffene Auswahl der Beiträge Ihnen eine informative Übersicht zum aktuellen Wissenstand in der Therapie von Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten bieten.

Ihr
Prof. Dr. Dr. Martin Rücker