Neonatologie Scan 2012; 01(02): 90-91
DOI: 10.1055/s-0032-1309532
Diskussion
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zeitpunkt der enteralen Ernährung bei wachstumsretardierten Frühgeborenen: Früher Beginn ermöglicht risikoärmere und schnellere Gewöhnung an Vollnahrung

Im Rahmen der multizentrischen randomisierten Studie ADEPT (Abnormal Doppler Enteral Prescription Trial) untersuchten die englischen Wissenschaftler Alison Leaf und Mitarbeiter bei Frühgeborenen mit Wachstumsretardierung die Auswirkungen einer frühen im Vergleich zur verzögerten „enteralen Ernährung auf die Dauer bis zur Gewöhnung an Vollnahrung und auf die Häufigkeit gastrointestinaler Komplikationen wie nekrotisierende Enterokolitis (NEC).
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Publication History

Publication Date:
01 December 2012 (online)

Pediatrics 2012; 129: e1260 – e1268

Eine postnatale Wachstumsretardierung wird häufig bei Frühgeborenen beobachtet und ist mit neuronalen Entwicklungsstörungen und/oder gastrointestinalen Komplikationen wie der NEC assoziiert. Da die NEC häufiger nach Beginn der enteralen Ernährung auftritt, ist es gängige Praxis geworden, den Beginn der enteralen Ernährung auf ca. 5 Tage postpartal „hinauszuzögern. Der Nutzen dieser Verzögerung ist jedoch bisher nicht belegt und könnte sogar das weitere Wachstum beeinträchtigen.

Eingeschlossen wurden 404 Frühgeborene aus 54 Zentren innerhalb von Großbritannien und Irland. Alle wurden vor der 35. SSW geboren, hatten ein Geburtsgewicht unterhalb der 10. Perzentile und zeigten von der Norm abweichende pränatale Dopplerbefunde der Umbilikal„arterie. Jeweils 202 Frühgeborene wurden randomisiert der Gruppe mit früher (am 2. Tag nach Geburt) und verzögerter (am 6. Tag nach Geburt) „enteraler Ernährung zugeordnet. Eine schrittweise erhöhte Nahrungsmenge erfolgte für beide Gruppen gewichtsabhängig standardisiert. Die primären Endpunkte waren Häufigkeit von NEC und Dauer bis zur Gewöhnung an Vollnahrung (wenn fortgesetzt über mindestens 3 Tage 150 ml/kg/Tag primär empfohlener Muttermilch verabreicht werden konnte).

Eine NEC trat bei frühem Beginn in 18 % und bei verzögertem Beginn in 15 % auf (relatives Risiko 1,2) auf, der Unterschied zwischen beiden Gruppen war nicht signifikant. Die Gewöhnung an Vollnahrung war nach frühem Beginn der enteralen Ernährung im mittleren Alter von 18 Tagen vollzogen. Nach verzögertem Beginn war dies nach 21 Tagen der Fall. Mit dem früheren Beginn der enteralen Ernährung konnte somit nicht nur die Dauer der parenteralen Ernährung mit Intensivüberwachung verkürzt werden, sondern es ergab sich auch eine geringere Inzidenz an cholestatischem Ikterus und eine günstigere Gewichtsentwicklung bei Entlassung.

Fazit Nach Ergebnissen der Studie wirkt sich ein möglichst früher Beginn der enteralen Ernährung innerhalb der ersten 48 h nach Geburt bei Frühgeborenen mit Wachstumsretardierung positiv auf eine schnellere Gewöhnung an Vollnahrung mit günstiger Gewichtsentwicklung aus. Außerdem wird dabei das Gesamtrisiko an Komplikationen reduziert, ohne dass eine erhöhte Inzidenz an nekrotisierender Enterokolitis in Kauf genommen werden muss.

Maria Weiß, Berlin

1. Kommentar

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PD Dr. Frank Jochum

Evangelisches Waldkrankenhaus Spandau

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin

Stadtrandstr. 555

13589 Berlin

Intubation, Respiratortherapie, Anlegen eines Nabelvenen- und Nabelarterienkatheters, Sedierung und totalparenterale Ernährung (TPN) für ca. 14 Tage und erst danach erste enterale Nahrung, war das Standardvorgehen für die Behandlung von sehr oder extrem unreifen Frühge„borenen in den „80er“ Jahren. Mortalität und Inzidenz typischer Komplikationen waren im Vergleich zur heutigen Situation hoch. Das beschriebene „aggressive“ Vorgehen wurde unter der Vorstellung gewählt, die intrauterine Situation so gut wie möglich nachzubilden. Der späte enterale Nahrungsaufbau sollte den unreifen Darm schonen. Mit der heutigen modernen Behandlungsstrategie wurde zum oben geschilderten Vorgehen eine „180°-Wende“ vollzogen: Intubation und Beatmung werden vermieden (Start mit CPAP, continuous positive airway pressure). Eine initiale Sedierung wird nicht nur „wegen der Assoziation zur Zell„apopthose nur noch in besonderen Situationen durchgeführt. Auf das Anlegen von zentralen Kathetern wird wenn möglich verzichtet und der enterale Nahrungsaufbau beginnt direkt nach der Geburt, sodass bereits nach 10 – 14 Tagen keine Infusionstherapie mehr notwendig ist. Auslöser für den Paradigmenwechsel war ein besseres Verständnis der Pathophysiologie in Verbindung mit einem gesteigerten Bewusstsein für Komplikationen der in den 70er/80er Jahren neu eingeführten Behandlungstechniken. Unter dem heutigen Vorgehen, das Vermeidung von „Stress“ und die Physiologie der unreifen Organsysteme in den Mittelpunkt stellt, ist die Mortalität und Morbidität zurückgegangen.

Erkenntnisse über die Entwicklung des Gastrointestinaltraktes und das Entstehen von nosokomialen Infektionen haben zum früheren Beginn enteraler Ernährung beigetragen. Der Nachweis, dass die Darmmukosa zu einem großen Teil direkt über den Darminhalt ernährt wird, erscheint im Bezug auf die hier diskutierte Untersuchung als zentrale Information. So ist nach heutigem Stand des Wissens erklärbar, dass „Frühgeborenendarm“, der keine Amnionflüssigkeit für den enteralen Ernährungsanteil der Mukosa zur Verfügung hat, mit enteraler Ernährung, die direkt nach Geburt beginnt, weniger Komplikationen aufweist, als bei spätem Beginn der enteralen Nährstoffzufuhr.

Es ist der Verdienst des Studienteams um Alison Leaf, die Frage nach frühem oder spätem enteralen Nahrungsaufbau eindeutig zu Gunsten des frühen enteralen Ernährungsbeginns beantwortet zu haben.

Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig erstaunlich, dass auch bei der Gruppe der hier untersuchten hypotrophen Frühgeborenen keine negativen, sondern eher positive Auswirkungen des frühen enteralen Ernährungsbeginns festgestellt wurden. Der enterale Ernährungsbeginn am 2. Lebenstag bei der „frühen Gruppe“ erscheint vor dem oben beschriebenen pathophysiologischen Hintergrund weiter als spät, auch in Relation zum Vorgehen in Zentren, die an der Untersuchung nicht beteiligt waren. Um die im Vergleich hohe nekrotisierende Enterokolitis-Inzidenz der hier untersuchten Hochrisikogruppe zu Daten anderer Zentren verstehen zu können, ist die Analyse der kompletten Therapiestrategie notwendig, die z. B. die eingangs beschriebenen Therapieelemente umfasst. Das ist aus den publizierten Daten nicht möglich. Es ist der Verdienst des Studienteams um Alison „Leaf, die Frage nach frühem oder spätem enteralen Nahrungsaufbau – auch für die Gruppe der hypotrophen Frühgeborenen – durch ihre methodisch klar strukturierte und mit aus„reichender Patientenzahl durchgeführte Multizenterstudie eindeutig zu Gunsten des frühen enteralen Ernährungsbeginns beantwortet zu haben.

E-Mail: paediatrie@waldkrankenhaus.com


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2. Kommentar

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Dr. Ulla Lieser

Universitätsklinik und Poliklinik

für Kinder- und Jugendmedizin

Universitätsklinikum Halle (Saale)

Ernst-Grube-Str. 40

06120 Halle (Saale)

Die enterale Ernährung von Frühgeborenen, und speziell der hypotrophen Frühgeborenen, stellt eine der Herausforderungen in der täglichen Arbeit des ärzt„lichen und pflegerischen Personals auf einer Frühgeborenenintensivstation dar. Die tägliche Frage nach der Höhe der Nahrungssteigerung führt oft zu Diskussionen zwischen den Berufsgruppen. Wir sehen zum einen das Frühgeborene mit seinem hohen und speziellen Bedarf an Nährstoffen und die metabolische und gastro„intestinale Unreife. Zum anderen führen frühgeborenentypische Krankheitsbilder zu einem verzögerten Nahrungsaufbau. Gerade die hypotrophen Frühgeborenen mit pathologischen Doppler der Nabelschnurarterie zeigen oft Nahrungsunverträglichkeiten und enterale Probleme.

In der vorliegenden Studie wird in Einklang mit vorangehenden Studien gezeigt, dass die frühzeitige Ernährung der hypotrophen Frühgeborenen das Risiko einer schweren nekrotisierenden Enterokolitis (NEC) nicht erhöht. Die Aussage ist vor allem vor dem Hintergrund, dass für hypotrophe Frühgeborenen das NEC-Risiko auf das 2 – 4-fache erhöht ist, zu beachten. Zusätzlich wird gezeigt, dass die Rate der Cholestase eher vermindert ist. Die Annahme, dass hypotrophe Frühgeborene von einem verzögerten Nahrungsaufbau profitieren, hat sich nicht bestätigt. Der Vorteil einer frühzeitigen enteralen Ernährung (innerhalb der ersten 24 Lebensstunden) wird von zahlreichen Autoren beschrieben. Die bevorzugte Substanz ist dabei Muttermilch, wenn diese nicht vorhanden ist, Frauenmilch, gefolgt von Formula Frühgeborenennahrung, worauf auch in der vorliegenden Studie hingewiesen wird.

Ein einheitliches „Fütterregime“ innerhalb der Studie konnte aufgrund der großen Anzahl der teilnehmenden Studienzentren nicht etabliert werden, was bedauert wurde. Wünschenswert wären weitere Studien, um solche Empfehlungen zu geben.

Die frühe Gabe von Muttermilch (1 ml alle 2 – 4 h) wird dabei von verschiedenen „Autoren nicht als Kalorienzufuhr, sondern als Prävention einer Darmschleimhaut„atrophie und als Stimulanz zur Aus„schüttung von Verdauungsenzymen und Wachstumsfaktoren gesehen. Erstaunlich ist, dass ein unterschiedlicher Zeitpunkt (Differenz nur wenige Tage) des Beginns der Ernährung sich bis zur Entlassung der Kinder bemerkbar macht und hypotrophe Frühgeborene, die erst später ernährt werden, noch zur Entlassung ein niedrigeres Gewicht vorweisen.

Ein einheitliches „Fütterregime“ innerhalb der Studie konnte aufgrund der großen Anzahl der teilnehmenden Studienzentren nicht etabliert werden, was bedauert wurde. Wünschenswert wären weitere Studien, um solche Empfehlungen zu geben. In früheren Studien zu Ernährungspraktiken bei Frühgeborenen wurde dargestellt, dass die Einführung von Ernährungsstandards das Auftreten der NEC erheblich verringern kann. Nicht eingegangen wurde auf den Umgang mit Magenresten und die Art der Fütterung (Nahrung über Magensonde als Perfusor oder im Bolus). Ebenso fehlt der Hinweis auf die Gabe von Probiotika, die in anderen Studien als wesentlicher Faktor zur Reduzierung der NEC-Frequenz angegeben wurde.

Insgesamt eine interessante Studie, die in der täglichen Praxis Eingang finden kann und Ansätze für weitere Untersuchungen bietet. Von den Autoren selbst wird vorgeschlagen, weitere Untersuchungen zu möglichen Einflussfaktoren auf die Reifung und die Funktion des Darms von speziell hypotrophen Frühgeborenen durchzuführen.

E-Mail: ulla.lieser@uk-halle.de


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