Gesundheitswesen 2012; 74(04): 224-228
DOI: 10.1055/s-0032-1308978
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Evidenzbasierte Politik und nachhaltiger Wissenstransfer: Eine Perspektive für die Gesundheitsförderung in Deutschland[*]

Evidence-Based Policy and Sustainable Translation of Knowledge: A Perspective for Health Promotion in Germany
A. Rütten
1   Institut für Sportwissenschaft und Sport, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
,
P. Gelius
1   Institut für Sportwissenschaft und Sport, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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Publication Date:
16 April 2012 (online)

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Zusammenfassung

In diesem Artikel wird eine erweiterte Sichtweise von evidenzbasierter Public Health-Politik mit einer verstärkten Ausrichtung auf den Policy-Prozess vorgeschlagen. Frühere Beiträge zu dieser Diskussion haben zwar bereits erkannt, dass das Paradigma der evidenzbasierten Medizin für den Policy-Kontext ungeeignet ist, sie haben sich jedoch vor allem mit der Evidenzbasierung von Politikinhalten auseinandergesetzt, d. h. mit Forschung, die politische Entscheidungsträger über das informiert, was im Bereich Public Health „funktioniert“ (z. B. evidenzbasierte Interventionen bezüglich der Determinanten von Gesundheit). Vernachlässigt wurde so bisher die Untersuchung politischer Prozesse, d. h. Forschung über das, was im Prozess politischer Entscheidungsfindung „funktioniert“ (z. B. die Schlüsseldeterminanten von Politikentwicklung und -implementierung beim Aufbau politischer Kapazitäten und der Verbesserung der Wirkungen von Politik). Die hier vorgeschlagene erweiterte Per­spektive soll ermöglichen, Theorie und Forschung auf eine für die Politik angemesse­nere Weise zu kontextualisieren und zugleich die Ansätze für angewandte Wissenschaft und Wissens­transfer im Bereich Public Health zu verbessern. Dieser Artikel erörtert die wichtigsten Unterschiede zwischen einer Ausrichtung auf die Inhalte von Politik und einer verstärkten Ausrichtung auf den Policy-Prozess anhand von 3 – eng aufeinander bezogenen und sich z.T. überlappenden – Themenbereichen in Public Health: (1) die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse, die der Evidenzbasierung von Politik dienen sollen, (2) die Bedingungen für die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Politik und (3) die „Übertragung“ von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Politik. Forschung und Theoriediskussion in Public Health sollten natürlich auch weiterhin zur Evidenzbasierung von Interventionen oder zu Erkenntnissen über Determinanten von Gesundheit beitragen. Zugleich aber sollten sie verstärkt ihren Blick auf politische Entscheidungs- und Implementationsprozesse legen. Dafür gilt es, die passenden theoretischen Grundlagen zu entwickeln, eine adäquate Methodologie zu finden und die erforderliche empirische Forschung zu betreiben.

Abstract

This article proposes to shift the focus of our view on evidence-based policy towards a comprehensive “policy orientation”. While previous contributions on policy making in public health have already recognised that the evidence-based medicine paradigm is inappropriate for the specificities of the policy context, they still have primarily dealt with evidence of the policy content, i. e. with research to inform policy makers about “what works” in public health (e. g. evidence-based interventions on health determinants). However, they have widely neglected issues pertaining to the policy process, i. e. knowledge concerning “what works” in policy making (e. g. key determinants of policy development and policy implementation in order to build policy capacities and to improve policy outcomes). A broader perspective including the policy process will allow us to contextualise theory and research in a way more appropriate to the process of policy making and will help improve approaches of applied science and knowledge translation in public health. We will illustrate the differences be­tween a content orientation and a policy process orientation in public health by reviewing previous discourses on 3 closely related topics: (1) the production of evidence for policy making, (2) the conditions for the utilisation of evidence in policy making, and (3) the translation of evidence into policy making. We conclude that future public health theory and research, while continuing to broaden the evidence base on health determinants and health interventions, should increasingly focus on research concerning processes of public health policy development and implementation, building frameworks, developing methodologies, and conducting the necessary empirical research.

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* Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der am 21.9.2011 auf dem gemeinsamen Kongress von DGSMP und DGMS in Bremen gehalten wurde, sowie auf einem überarbeiteten und erweiterten englischsprachigen Artikel, der 2011 im International Journal of Public Health erschienen ist [7].