Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(01): 2
DOI: 10.1055/s-0032-1307039
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Stimmtherapie – "Boot Camp": Neuer Ansatz für extrem intensive Therapie

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Publication Date:
21 March 2012 (online)

 

Unter einem "Boot Camp" verstehen Amerikaner ursprünglich ein Ausbildungslager für Rekruten, die grobstollige Stiefel tragen. Doch was hat das mit Stimmübungen zu tun?
J Voice 2011; 25: 562–569

Sinngemäß übersetzt bedeutet "Boot Camp" so etwas wie die "Grundausbildung" der Bundeswehr. Boot Camps sind jedoch viel bekannter geworden als "Umerziehungslager" für straffällige Jugendliche. Dort werden unsoziale Verhaltensmuster "gelöscht" und durch bessere Verhaltensmuster "ersetzt". Dem Begriff Boot Camp haftet deshalb etwas Martialisches an. Sind wir Phoniater, Logopäden und Stimmheillehrer aber nicht eher sanftmütig und feinsinnig?

Den Effekt einer Übungstherapie kann man so verstehen, dass für Stimmgebung, Atmung und Resonanzformung ungünstige motorische Engramme gelöscht und durch vorteilhafte ersetzt werden. Dafür muss man häufig üben. In der vorliegenden Arbeit wird der neurobiologische Hintergrund des Übens umfassend erläutert, aber damit möchte ich Sie nicht langweilen – Sie werden mir die Vorteile häufigen Übens schon glauben. Schon heute bevorzugt man für Stimmübungstherapien statt einer besser 2 Therapieeinheiten pro Woche, die durch tägliches selbstständiges Üben zuhause ergänzt werden – in der Hoffnung, dass die Patienten selbstständig alles richtig machen. Diese täglichen Übungen, meist 3-4 mal für 10 -15 Minuten, sind übrigens Hauptbestandteil der neuromuskulären elektrophonatorischen Stimulation nach Pahn (NMEPS), die speziell für Stimmlippenlähmungen entwickelt wurde und deren Wirksamkeit zumindest für diese Indikation belegt ist. Eine erhöhte Häufigkeit des täglichen Übens wird auch in stationären "Stimmheilkuren" ermöglicht. Meist werden 2-3 Therapieeinheiten täglich angeboten, ergänzt durch Physiotherapie und Psychotherapie. Soweit also nichts Neues.

Der Vorschlag der Autoren Patel et al. geht jedoch über das bisher Bekannte weit hinaus. Jetzt wird’s nämlich heftig: Im "Stimm-Boot-Camp" trainieren die Patienten 4 Tage lang täglich 6 Zeitstunden, unterbrochen durch nur kurze Pausen von 5-10 Minuten. Und durch den Begriff "Boot Camp" wird jedem Kandidat vor Beginn klar: es wird ernst – und Schluss mit lustig! Die "Marines" lassen grüßen. Die "Ausbilder", sorry: Therapeuten, wechseln stündlich, und jeder fordert maximalen Einsatz für eine andere Therapiemethode: Phonationsübungen, Resonanzübungen oder die Akzentmethode werden speziell erwähnt. Es kommen sogar Doppelstunden pro Methode vor. Stellen Sie sich vor: Akzentmethode 100 Minuten lang ohne Pause! Von Entspannung und Ruhepausen ist in der vorliegenden Arbeit nicht die Rede, der Zeitplan weist ja noch nicht einmal eine Mittagspause aus. (Das kommt uns bekannt vor, denn so mancher Rekrut hat in seiner Grundausbildung überflüssige Pfunde gelassen.) Vor und nach jedem Trainingstag wird übrigens eine komplette Stimmuntersuchung durchgeführt, um den Teilnehmern ihre Erfolge als zusätzliche Motivationshilfe zurückzumelden. Am letzten Tag im "Ausbildungslager" ist eine "Abschlussprüfung" zu bestehen. Die Untersuchungen umfassen Stroboskopien, akustische Analysen und aerodynamische Messungen, ggf. auch Elektromyografie, Kymografie und Hochgeschwindigkeitsglottografie (Ich vermisse übrigens die viel billigere und effektivere Elektroglottografie, aber darum geht es hier nicht).

Freiwillige, angetreten! Welche Patienten werden das sein? Solche, die keine Geduld für eine Stimmtherapie über 6 Monate und länger aufbringen können, die einen raschen Erfolg benötigen (z.B. im Beruf), die eine ambulante Therapie aufgrund ungünstiger Arbeitszeiten (Schichtdienst, Überstunden u.s.w.) nicht einrichten können, die zuhause oder in den Pausen am Arbeitsplatz keine Zeit finden, ihre Stimmübungen durchzuführen, oder die nicht in der Lage sind, die Übungen selbstständig korrekt durchzuführen, sowie Patienten in abgelegenen Wohnorten mit langen Anfahrtswegen. Die Diagnosen sind nicht so wichtig. Und die Behandler? Na, Sie brauchen schon ein Team aus mindestens 3, besser 6 verschiedenen Personen, dazu auch die tägliche endoskopische Untersuchung, wobei ich mir so manchen Fall einer Arbeitshyperämie der Stimmlippen vorstellen kann. Aber die werden sich schon erholen: am besten "Zapfenstreich" um 8 am Abend und "Wecken" um 6 in der Früh. Spaß beiseite: Auch für Kliniken und Kurkliniken könnte der Ansatz als stationäre oder teilstationäre Behandlung interessant werden.

Natürlich haben die Autoren ihr neues Konzept schon ausprobiert. Es besteht ja aus bewährten Übungen. Das Neue ist nur der brutale Zeitplan. Ergebnisse enthält die Arbeit noch nicht: Die Autoren müssen erst noch beweisen, dass 20 Zeitstunden in 4 Tagen effektiver sind als in 3-6 Monaten. Vielleicht haben Sie und Ihre tapfersten Patienten ja den Mut, das neue Konzept schon vorab auszuprobieren. Aber Vorsicht: nichts für "Warmduscher"!

Fazit

Das Boot-Camp-Konzept treibt das Üben bei Stimmtherapien auf die Spitze - lerntheoretisch fundiert. Das konventionelle "Timing" einer Stimmtherapie wird auf ein Woche konzentriert.

> Die Überlegenheit gegenüber dem üblichen Konzept muß erst noch bewiesen werden, doch steht jetzt schon fest, dass ein kompaktes Konzept vielen berufklich stark eingespannten Patienten entgegenkommt. Aber "tough" muß man schon sein, als Patient und als Behandler.

Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck