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DOI: 10.1055/s-0032-1305970
Grenzen der Anstalt: Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980
Publication History
Publication Date:
09 March 2012 (online)
Anders als Blasius (1994), der Psychiatriegeschichte im historisch-politischen Kontext deutscher Geschichte verortete, oder Schott u. Tölle (2006), die aus klinischer und historischer Perspektive aktuelle Kontroversen und die Fortschritte als medizinische Fachdisziplin reflektieren, verfolgt die Freiburger Historikerin Cornelia Brink über eine Zeitspanne von 150 Jahren, wie die deutsche Psychiatrie und die Gesellschaft mit zentralen Themen wie der besonderen Schutzbedürftigkeit seelisch Kranker, dem prekären Verhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit und der Versorgung chronisch Kranker umgegangen sind. Im Überschneidungsfeld von Gesellschafts-, Medizin- und Kulturgeschichte befindlich, kennzeichne diese als Kontinuität: "Von der Institutionalisierung der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie als Anstaltspsychiatrie in den 1860er-Jahren über Kaiserreich, Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus bis in die 1970er-Jahre bedeutet medizinisch intervenieren für die psychisch Kranken internieren" (S. 13). Konsequent interessiert die Autorin besonders die Schwelle zwischen Psychiatrie und Außenwelt: dem, was durch alltägliches Handeln passiert, auf ihr und durch sie. Hierbei untersucht sie die Regelungen der (unfreiwilligen) Einweisung und Entlassung, die Auswirkungen ihres Sonderstatus auf die Patienten und die symbolischen Qualitäten des gerade nicht gemeindenahen psychiatrischen Krankenhauses, auf das bis heute Ängste und Begierden projeziert werden.
Zahlreiche (wieder) aktuelle Fragen finden sich schon in der Vergangenheit kontrovers diskutiert: Anstieg der Aufnahmezahlen, Zunahme seelisch Kranker, Übermaß an Dokumentation versus Zuwendung für den Kranken, Psychisch-Kranken-Gesetzgebung, Ökonomisierung der Versorgung, "Außenfürsorge" bzw. Ambulantisierung. Die Exklusion psychisch Kranker wird überzeugend und pointiert als sozialer Prozess transparent gemacht, in den zahlreiche Akteure einbezogen sind – seine mörderische Zuspitzung in der T4-Aktion sei nur zu begreifen als "Konglomerat" verschiedener Interessenlagen: von medizinisch-wissenschaftlichen, bürokratisch-ökonomischen und politisch-rassenideologischen Kräften – "und sei es dadurch, dass die Beteiligten schwiegen" (S. 336).
Anschaulich und präzise hebt sich Brink – trotz einer gelegentlich sperrigen Fachsprache – gegen ein Erzählen von Psychiatriegeschichte (z. B. Ehrenberg, 2008) ab: Souverän und hoch belesen belegt sie ihr Verständnis von Psychiatrie als ein "Geflecht von Medizin, Politik, Justiz, Verwaltung und Öffentlichkeit" bzw. als "integralen Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse und Interaktionen" (S. 32). Kritisch bleibt anzumerken, dass die Fülle des historischen Materials, die außergewöhnliche Differenziertheit der Argumentation und die Themenvielfalt ein Sachregister sehr vermissen lassen.
Hasso Klimitz, Potsdam
E-Mail: HKlimitz@klinikumevb.de
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Literatur
- Blasius D. Einfache Seelenstörung. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch; 1994
- Ehrenberg A. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt: Suhrkamp; 2008
- Schott H, Tölle R. Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege und Behandlungsformen. München: C. H. Beck; 2006