NOTARZT 2012; 28(05): 193
DOI: 10.1055/s-0032-1305285
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sichtung

Triage
P. Sefrin
1   Vorsitzender des Fachbereichs A Medizin der Schutzkommission beim Bundesministerium des Inneren
,
J. W. Weidringer
2   Mitglied des Fachbereichs A Medizin der Schutzkommission beim Bundesministerium des Inneren und Organisator der Konsensuskonferenz „Sichtung“
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. September 2012 (online)

Die Sichtung bei einem Großschadensfall im Bereich des Rettungsdienstes und bei einer Katastrophe im Bereich des Katastrophenschutzes ist die unbedingte Voraussetzung für die Organisation eines wie auch immer gearteten Versorgungskonzeptes. In der Anfangsphase derartiger Geschehnisse besteht grundsätzlich ein Missverhältnis zwischen Bedarf und Möglichkeiten einer Versorgung, sodass der üblichen individual-medizinischen Handlungsmaxime nicht entsprochen werden kann.

Um zu einem (bundes-)einheitlichen Vorgehen zu kommen, hat 2002 – organisiert von der Schutzkommission beim Bundesministerium des Inneren – eine Konsensuskonferenz stattgefunden, die nicht nur die Sichtungskategorien definierte, sondern auch Handlungskonsequenzen festlegte. Inzwischen hat sich das Ergebnis der Konferenz durchgesetzt und ist akzeptiert. In der Praxis haben sich bei zunehmender Notwendigkeit bei der gestiegenen Anzahl von Massenunfällen und Großschadenslagen allerdings neue Probleme ergeben, die einer neuerlichen interdisziplinären Diskussion bedürfen. Bei einer derartigen Diskussion ist aber als Basis eine Bestandsaufnahme erforderlich nach dem Motto: Was wurde bisher erreicht – vor welchem Hintergrund sollen die Diskussionen geführt werden? Dazu soll nachfolgender Artikel beitragen.

Schon bei der Bestandsaufnahme fällt auf, dass einige Fragen offen geblieben sind. Es hat sich gezeigt, dass es sich bei den größten Schadensereignissen nicht um begrenzte, sondern häufig um ausgedehnte flächenhafte Ereignisse handelte. Die bisher dem Leitenden Notarzt zugewiesene Aufgabe der Sichtung ist von diesem vielfach nicht mehr selbst wahrzunehmen, sodass sich die Frage erhebt, wie eine Sichtung dann durchgeführt werden kann und soll. Vor diesem Hintergrund wurde die Notwendigkeit einer „Vorsichtung“ durch nichtärztliches Personal gesehen. Nachdem es dazu einige differente Vorgehensverfahren gibt, ist die Frage welches dieser Verfahren bundesweit zum Einsatz kommen soll und welche Qualifikation das Personal dafür besitzen muss. Klärungsbedürftig ist wer-wo-wie mit welchen juristischen Konsequenzen der Haftung diese Vorsichtung durchführen kann. Klärungsbedürftig sind auch die Tauglichkeit und die Evidenz der Vorsichtungsverfahren.

Unabhängig von der Vorsichtung durch nichtärztliches Personal wird diese nur überbrückenden Charakter bis zur ärztlichen Sichtung haben können. Dabei stellt sich die Frage – bei dem sonst in dieser Form im ärztlichen Alltag nicht notwendigen Verfahren – welche Qualifikation ist für einen Sichtungsarzt zu fordern und wie und wo kann er sie erwerben. Im Gegensatz zu der Definition der Sichtungskategorien fehlen derzeit Handlungsanweisungen sowohl für die Sichtung selbst, aber auch zur Entscheidung über die Transportdringlichkeit.

Neue Schadensszenarien – wie z. B. CBNR – werfen neue Fragen auf. Wann wird unter diesen Bedingungen wo eine Sichtung notwendig und durchgeführt? Widersprüchliche Meinungen von Experten vor oder nach der Dekontamination lassen derzeit kein verbindliches Konzept erstellen. Bei der sog. Dekon-Sichtung ergeben sich bezüglich der erforderlichen Maßnahmen andere Schwerpunkte als bei der Sichtung von Verletzten. Hier spielt z. B. die frühzeitige Identifizierung des Schadstoffs die größte Rolle, um eine geeignete Dekontamination und medizinische Behandlung umzusetzen.

Es ist offenbar, dass große Erwartungen an die im Oktober 2012 in Berlin stattfindende neuerliche Konsensuskonferenz wiederum unter der Leitung der Schutzkommission beim Bundesministerium des Inneren unter Beteiligung aller maßgeblichen Behörden und Insitutionen bestehen. Es bleibt zu hoffen, dass auf der Basis des bisher Erreichten neuerlich allgemein akzeptierte Lösungen gefunden werden, um die Einheitlichkeit des schwierigen und für den Einzelnen mit erheblichen Konsequenzen verbundenen Verfahrens auch in Zukunft zu garantieren.

Prof. Dr. P. Sefrin

Prof. (H:G, Berlin) Dr. J. W. Weidringer