Psychiatr Prax 2011; 38(08): 412-413
DOI: 10.1055/s-0031-1295586
Wiedergelesen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Eugen Bleuler: Dementia Praecox oder Gruppe der Schizophrenien

Rezensent(en):
Asmus Finzen
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. November 2011 (online)

 

Schizophrenie sei ein von Eugen Bleuler erfundenes Wort, giftete Thomas S. Szasz 1976 [ 1 ]. Schizophrenie sei das heilige Symbol der Psychiatrie, aber nichtsdestoweniger eine Schimäre. Szasz hat recht. Bleuler hat das Wort "erfunden" – leider nicht die Krankheit, für die es steht: "Leider konnten wir uns der unangenehmen Aufgabe nicht entziehen, einen neuen Namen für die Krankheitsgruppe (Dementia Präcox) zu schmieden. Der bisherige ist zu unhandlich. Man kann damit nur die Krankheit benennen, nicht aber die Kranken, und man kann kein Adjektiv bilden, das die der Krankheit zukommenden Eigenschaften bezeichnen könnte. Es gibt aber noch einen viel wichtigeren, materiellen Grund, warum es unausweichlich schien, neben den bisherigen Namen einen neuen zu stellen." Zu dem jetzigen Umfang des Krankheitsbegriffs passt er nicht mehr, denn es handelt sich weder um lauter Kranke, die man als dement bezeichnen möchte, noch ausschließlich um frühzeitige Verblödungen. So blieb nichts anderes übrig, als hier die Krankheit mit einem Namen zu bezeichnen, der weniger missverständlich ist. Ich kenne die Schwächen des vorgeschlagenen Ausdrucks, aber ich weiß keinen besseren und einen ganz guten zu finden scheint mir für einen Begriff, der noch in Wandlung begriffen ist, überhaupt nicht möglich. Ich nenne die Dementia-Praecox Schizophrenie, weil, wie ich zu zeigen hoffe, die Spaltung der verschiedensten psychischen Funktionen (etwa des Denkens, des Fühlens und des Ich-Erlebens) eine ihrer wichtigsten Eigenschaften ist. Der Bequemlichkeit halber brauche ich das Wort im Singular, obschon die Gruppe wahrscheinlich mehrere Krankheiten umfasst." (S. 4/5)

Diese Überlegungen sind seit dem Erscheinen Bleulers Jahrhundertwerkes vor genau 100 Jahren ein immerwährendes Thema. Auch im Zeichen der anstehenden 5. Revision des DSM (und der 11. der ICD) werden sie wieder heiß diskutiert. Seine Wortschöpfung allerdings hat einen Schlusspunkt hinter eine Begriffsfindungsdebatte zu den sogenannten Zerfallspsychosen gesetzt, die fast das ganze 19. Jahrhundert angehalten hatte und an der sich viele der Großen der damaligen Zeit beteiligt hatten [ 2 ]. Bleulers Vorschlag wurde von seinen Zeitgenossen freundlich aufgenommen. Aber er war, wie Christian Müller [ 3 ] schreibt, kein Paukenschlag. Er setzte sich nur ganz allmählich durch und wurde lange Zeit gemeinsam mit Kraepelins Begriff der Dementia Praecox verwendet. Bleuler tut das in der ersten Auflage seines Lehrbuches [ 4 ] übrigens auch. Schließlich wollte er Kraepelin weiterentwickeln, nicht ihn revidieren oder gar verdrängen. Allerdings leistet er mit seiner anderen Gruppierung der Symptome einen wesentlichen Beitrag dazu, die scheinbar unverständliche Krankheit Schizophrenie zu verstehen. Dazu gehört auch deren einleitende Relativierung: "Es ist aber sehr wichtig zu wissen, dass es alle Übergänge zum Normalen gibt, und dass die leichten Fälle, die latenten Schizophrenien mit wenig ausgesprochenen Symptomen, viel zahlreicher sind als die manifesten. Ferner darf man bei den großen Schwankungen im schizophrenen Krankheitsbilde nicht darauf rechnen, in jedem Moment ihre Symptome nachweisen zu können." (S. 8).

 
  • Literatur

  • 1 Szasz Th. Schizophrenia. Deutsch: Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie. München: Europa Verlag; 1976. Original: Basic Books, N.Y. 1976
  • 2 Scharfetter CH. Eugen Bleuler. Polyphrenie und Schizophrenie. Zürich: VDF Verlag; 2006
  • 3 Müller Ch. Rezeption der Bleuler’schen Schizophrenielehre in der zeitgenössischen Fachliteratur. In: Hell D, Scharfetter Ch, Möller A, Hrsg. Eugen Bleuler. Leben und Werk. Bern: Huber Verlag; 2001: 37-46
  • 4 Bleuler E. Lehrbuch der Psychiatrie. Heidelberg: Springer-Verlag; 1916. 15.. Auflage von E. und M. Bleuler 1975.
  • 5 Hell D, Scharfetter Ch, Möller A Hrsg. Eugen Bleuler. Leben und Werk. Bern: Huber Verlag; 2001
  • 6 Finzen A. Schizophrenie. Die Krankheit verstehen, behandeln, bewältigen. Bonn: Psychiatrieverlag; 2011