Z Orthop Unfall 2011; 149(05): 487-492
DOI: 10.1055/s-0031-1291989
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sicherheit von Endoprothesen – Zeit für eine umfassende Revision

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Publication Date:
07 October 2011 (online)

 
 

Eine Reihe aktueller Zwischenfälle mit Hüft-Endoprothesen hat die Debatte um die Sicherheit neu entfacht. Klar ist: Konzepte gibt es genug. Und längst nicht alle sind taufrisch. Es ist die Umsetzung, die auf sich warten lässt – mitunter seit Jahrzehnten.

Eine grundsätzliche Einordnung vorweg: Selbstredend ist die Endoprothetik ein enormer Gewinn der modernen Medizin. Seitdem Sir John Charnley Anfang der 1960er-Jahre mit der Erfindung der zementierten Hüftprothese aus Stahlschaft, Stahlkugel und Polyethylenpfanne dem Konzept zum Durchbruch verhalf, sind viele Modelle besser und besser geworden.

Rund 400 000 Patienten bekommen heute ein künstliches Gelenk in Deutschland, nach Angaben des Branchenverbands BVMed waren 2010 rund 210 000 davon künstliche Hüftgelenke. Fazit der Hersteller: "Die Gelenkersatzoperation gilt als einer der erfolgreichsten chirurgischen Eingriffe." Eine Einschätzung, die vermutlich viele Patienten teilen, wenn sie nach einer OP wieder schmerzfrei laufen können. Doch manche eben auch nicht.

Beispiele?

1998 warnt die Britische Medical Devices Agency vor der 3M Capital Hüftprothese von Hersteller 3M Health Care Ltd. Das Produkt war seit 1991 am Markt, in einigen Nachuntersuchungen finden sich binnen 5 Jahren Revisionsraten von 19–20 %. Allein in UK sind bis dahin über 4680 Stück verkauft worden.

Zwischen Oktober 1999 und Dezember 2000 kommen bei Sulzer Orthopedics, der US-Tochter des Schweizer Unternehmen Sulzer Medica, an die 25 000 mit Mineralöl verunreinigte künstliche Hüftgelenke aus der Produktion. Das Gros wird in den USA implantiert, etwa 2100 Patienten müssen erneut unters Messer. 2002 mutiert die Firma zur Centerpulse AG, entschädigt in einem Milliarden schweren Vergleich über 3500 Patienten allein in den USA mit jeweils an die 133 000 Euro. Ein Jahr später wird das Unternehmen von der US-Firma Zimmer übernommen.

2005 nimmt Falcon Medical seine Varicon-Prothese vom Markt. An die 2500 Modelle hat der österreichische Hersteller zwischen 2002 und 2005 in Deutschland, Italien und Österreich verkauft. Grund der Rücknahme sind "Spannungskorrosionsbrüche". Einige der Betroffenen erstreiten vor Gericht Entschädigungen in Höhe 5-stelliger Eurobeträge.

Oktober 2009 gibt US-Hersteller Zimmer weltweit eine Urgent Field Notice heraus. Alle Anwender der Durom® Hüftpfanne und des Metasul® LDH®Großkugelkopfsystems müssen eine Schulungs-DVD durcharbeiten, sollen sonst diese Implantate nicht mehr erhalten. Aus einigen europäischen Märkten, erläutert Zimmer, habe es "Berichte über Revisionen" gegeben. 61 000 dieser Systeme seien weltweit implantiert worden, erklärt Zimmer Mitte 2011. Alle Untersuchungen deuteten aber darauf hin, dass es Probleme nur dann gebe, wenn sich Operateure nicht an die vorgeschriebene Operationstechnik halten.

Dramatisch ist die Lage im Freiburger Loretto-Krankenhaus, wohin Zimmer 978 Stück dieses Modells geliefert hat, nach Schätzungen an die 70 % aller Implantate dieser Modellkombination für Deutschland. Nach Zahlen des Herstellers liegt die Revisionsrate dort bei 16 %, nach Angaben der Klinik höher. Der Grund ist ungeklärt, erste Prozesse laufen (siehe auch das Interview mit Herrn Barth auf S. 498).

August 2010 ruft schließlich US-Hersteller De Puy, eine Sparte von Johnson & Johnson, seine ASR-Serien aufgrund erhöhter Revisionsraten in einigen Endoprothesenregistern weltweit zurück. An die 100 000 Patienten sollen diese Modelle weltweit erhalten haben, in Deutschland sind es laut "Der Spiegel" 5500.

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Endlich wieder mobil! Für viele Patienten ist die Gelenkersatzoperation ein Segen. Leider aber eben nicht für alle.(Bild: Jupiterimages)

Einmal mehr stehen damit v. a. die Hersteller am Pranger der medialen Diskussion. Industrievertreter wehren sich flugs mit dem Hinweis darauf, dass in manch Endoprothesenregister bei den Revisionen Implantatversagen an sich unter ferner liefen rangiere, vielmehr Probleme der Chirurgie und anderes dominierten. "Haben Sie verstanden, wieso es Mindestmengen für Knie-Endoprothesen gibt, nicht aber bei Hüftgelenken?", reicht Marc Michel, Sprecher des Fachbereichs Endoprothetik und Implantate im BVMed den Ball flugs an andere Akteure weiter. Der G-BA möge dies doch bitte endlich einrichten (siehe auch das Interview mit Herrn Michel und Herrn Saleh auf S. 493). Allerdings dauert die juristische Auseinandersetzung um Mindestmengen derzeit bekanntlich an, der G-BA hat sie in der Knie-Endoprothetik bis zu einer Entscheidung des Bundessozialgerichts sogar ausgesetzt.

Dass die Qualität von Klinikum zu Klinikum oszilliert, zeigen in der Tat die jährlichen Auswertungen von Routinedaten etlicher Krankenkassen. "Komplikationsraten von bis zu 50 % in einigen Kliniken mit niedrigen Fallzahlen" ermittelt die KKH-Allianz Anfang 2011 für die Jahre 2008 und 2009. "Der größte Qualitätsgewinn in der Endoprothetik lässt sich derzeit auf der Anwenderseite holen, durch sorgfältigere Chirurgie", kommentiert Prof. Michael Morlock von der TU Hamburg-Harburg. Ständige Neuerungen bei den Modellen an sich, seien da zweitrangig, wenn nicht oft sogar kontraproduktiv. Morlock: "Viele Modelle sind heute ausgereift, könnten 30, 40 Jahre halten – wenn sie nur gut eingebaut würden." Was oft nicht der Fall sei. Morlock: "Eine Hüfte wird heute in 45 Minuten gemacht, die Pfanne in einer Minute eingeschlagen. Das geht zulasten der Qualität."

Es ist diese vertrackte Vielschichtigkeit des Problems, die eine Optimierung der Versorgung in der Endoprothetik so schwierig gestaltet. Und dennoch, es sind v. a. Probleme mit einzelnen Modellen, die Schwachstellen des ganzen Systems nach wie vor besonders offensichtlich machen.

Das beginnt durchaus mit einem Mangel an verlässlichen Daten und Informationsquellen.

Beispiel ASR™. Das Kürzel steht für 2 Produktlinien von De Puy Orthopaedics – Modelle für modulare Hüft-Endoprothesen, sowie für Kappenprothesen, in vielen Ländern ab dem Jahr 2005 eingeführt. Am 24. August 2010 ruft der Hersteller all diese Systeme weltweit zurück – "freiwillig", wie er betont. De Puy beruft sich auf Daten des britischen Endoprothesenregisters (NJR), nach denen die Gesamtrevisionsraten nach 5 Jahren auf etwa 12 % für das Oberflächenersatzsystem und 13 % für das modulare System hochschnellten. Regelhaft wären etwa 5 % gewesen. Im März 2011 berichtet die British Medical Association allerdings schon von Revisionsraten bis 49 % binnen 6 Jahren in einigen lokalen Registern für ASR XL.

Der Konzern will jetzt alle Kosten für zusätzliche Nachsorge und evtl. nötige Revisionen übernehmen. Richtig teuer könnten allerdings v. a. die anlaufenden Prozesse in den USA werden. Streitthemen bleiben genug. Allein schon der Zeitpunkt der Rücknahme bleibt umstritten.

Denn in Australien ging ASR bereits 2009 vom Markt. Ein Ergebnis eigener Intervention, so die dort zuständige Therapeutic Goods Administration (TGA), eine Abteilung des australischen Gesundheitsministeriums. Im Australischen Endoprothesenregister waren schon 2007 erhöhte Revisionsraten aufgefallen. Dezember 2009, so die TGA, habe der Hersteller zugestimmt, diese Modelle vom Markt zu nehmen.

De Puy sieht das anders. Dass ASR in einigen Märkten früher aus dem Sortiment verschwand, sei eine rein verkaufsstrategische Entscheidung gewesen. Aufgrund der "geschäftlichen Entwicklung der ASR- Marken und unserer stärkeren Fokussierung von Ressourcen auf unsere Wachstumsmarken und Technologien", sei das Produkt in Australien 2009 nicht mehr verkauft worden, so De Puy Mitte Juli 2011 auf Anfrage der ZFOU.

In einer Titelgeschichte vom Mai 2011 [siehe Links] hat allerdings das British Medical Journal etliche weitere Hinweise zusammengetragen, nach denen Experten frühzeitig von Problemen mit den ASR-Systemen berichteten.


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Schwaches Standing der Behörden

Zugleich übt das renommierte britische Medizinerblatt heftige Schelte an der britischen Behörde für Medizinprodukte, MHRA, die es trotz früher Warnungen nicht gewagt habe, ASR rechtzeitig zu verbieten. Zum Leidwesen des mächtigen britischen Medizinerjournals bleiben viele Fakten dazu aber unter Verschluss: Das BMJ war im Verbund mit einem Team des Fernsehsenders Channel 4 nicht in der Lage, durch einen "Freedom of Information Request" interne Dokumente zu ASR aus der Behörde zu bekommen: Geheim, da es die Gesetze in der EU so wollen. Nationale Vorschriften sind wiederum nur die Umsetzung der EU-Vorschriften.

Hierzulande regeln Medizinproduktegesetz (MPG) und 8 anhängende Verordnungen den Umgang mit Herzschrittmacher oder Endoprothese. Ein Kernpunkt der Regelungen: Anders als bei Arzneimitteln gibt es für Medizinprodukte keine behördliche Zulassung. Vielmehr haben von den Gesundheitsbehörden zertifizierte Benannte Stellen die Aufgabe, die Unterlagen zu neuen Produkten zu prüfen und bei positivem Prüfergebnis Herstellern das CE-Kennzeichen zu vergeben. Es muss bei Endoprothesen nach 5 Jahren erneuert werden. Hersteller und Benannte Stellen stehen damit auch im Mittelpunkt der Sicherheitsbewertung – sie sollen Produktrückrufe einleiten, wenn sie es für nötig erachten.

Parallel ist aber auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für die Risikobewertung von Medizinprodukten zuständig. Eine negative Bewertung durch das BfArM würde im Zweifel das Aus für ein Produkt bedeuten. Konkrete Verbote müssten dann allerdings wiederum Länderbehörden aussprechen (§ 26 MPG).

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Meldesystem ohne echte Aussagekraft

Wichtigster Anhaltspunkt für die BfArM-Bewertung sind jene Meldungen zu Implantatversagen, die Hersteller wie Anwender der Behörde melden müssen.

Allerdings werden vielleicht gerade mal einige wenige Prozent aller Schadensfälle dem BfArM tatsächlich bekannt. Denn selbst manche Experten wissen nicht, wann sie melden müssen. Ein Grund dafür: Die einschlägigen Verordnungen sehen reichlich abstrakt Meldepflicht nur dann, wenn Vorkommnisse "zum Tod oder einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten oder eines Anwenders oder einer anderen Person geführt haben oder hätten führen können" (§ 29 MPG).

Konkrete Zahlen zu einzelnen Medizinprodukten gibt es wie in Großbritannien auch bei der deutschen Behörde nicht. Meldungen zu Endoprothesen führt die BfArM-Statistik unter dem Oberbegriff "Nichtaktive Implante": 2009 waren es 1046 Meldungen aus diesem Bereich. Ein "nicht unbeträchtlicher Teil davon", so die Auskunft der Pressestelle, beträfe Endoprothesen. Das war’s.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Darstellung der ohnehin schon eher dünnen Datenlage besonders hierzulande nicht gerade durch Transparenz überwältigt.

Während jeder Interessent bei den Produktwarnungen, alias "Medical Device Alerts" der britischen Medicines and Healthcare Regulatory Agency (MHRA) z. B. auch zu ASR eine übersichtliche Seite mit allen Informationen findet (http://www.mhra.gov.uk/Publications/Safetywarnings/MedicalDeviceAlerts/CON09), gibt es solch eine Aufbereitung beim BfArM nicht.

Welche konkrete Rolle das BfArM etwa beim Marktrückruf von ASR gespielt hat, bleibt unklar. Der Rückruf von ASR sei ein Beispiel dafür, inwieweit "Risikobewertungsverfahren des BfArM auf Basis des Meldesystems in der Konsequenz zu Rücknahmen führen können", erklärt die Behörde. Der Hersteller sieht das anders: Es sei ein freiwilliger Rückruf, auch die zuständigen deutschen Behörden hätten nicht verlangt, dass dieses Produkt von De Puy zurückgerufen wird, erklärt die Firma auf Anfrage.

In einem weiteren Fall prüft die Behörde noch: Das Risikobewertungsverfahren für das Durom-System der Firma Zimmer sei noch nicht abgeschlossen – sobald dies der Fall sein werde, veröffentliche man eine entsprechende Bewertung auch dazu, so das BfArM im Juni 2011. Sie käme allerdings womöglich zu spät. Weltweit führt Zimmer längst das Nachfolgemodell, die MMC-Pfanne ein. In Deutschland seit 2010.


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Chance Register

Viele Experten hierzulande erhoffen sich ab kommendem Jahr mehr Transparenz bei der Marktüberwachung durch das neue Endoprothesenregister (siehe dazu auch das Interview mit Herrn Hassenpflug auf S. 496). Das von DGOOC, AOK, vdek, Herstellern und BQS-Institut Anfang 2010 aus der Taufe gehobene Endoprothesenregister Deutschland (EPRD) soll ab 2012 endlich Daten aus dem Versorgungsalltag flächendeckend erheben – viele Jahre nachdem es solche Register in Schweden, UK oder Australien bereits gibt. Zugleich zeichnet sich ab, dass die Fachgesellschaften in Zukunft auch hierzulande eine prominentere Rolle bei der Einstufung von Risiken, gar bei Marktrücknahmen, spielen könnten (siehe Interview mit Herrn Hassenpflug).

Noch hüllen sie sich hierzulande zu aktuellen Problemfällen eher in Schweigen. Während die australische oder die britische Orthopädenzunft sich zu ASR und anderen Problemfällen äußert, fachliche Empfehlungen zum konkreten Vorgehen veröffentlicht – dominiert hierzulande eine gewisse Vielstimmigkeit im Chor der Experten. "Es liegt auch daran, dass wir diese Vorkommnisse erst spät registriert haben", räumt Prof. Volker Ewerbeck von der Universitätsklinik Heidelberg ein, der den ASR-Oberflächenersatz bei 70 Patienten implantierte, nach "spätestens 2 Jahren" aber wieder komplett verlassen hatte, da sich ein erhöhtes Risiko auf Schenkelhalsfraktur zeigte. Die Lernkurve für dieses System war den Heidelbergern nach den Daten des hausinternen Registers viel zu hoch. Ewerbeck: "Ich kann keinem Patienten solch eine Lernkurve zumuten, wenn es sehr gute, sichere und etablierte Systeme am Markt gibt."

Zugleich begrüßen etliche hiesige Koryphäen die Entscheidung des Herstellers zur Marktrücknahme. Normalerweise nähmen Firmen bei Problemen ein Produkt gerne still und leise vom Markt, meint Michael Morlock. De Puy hingegen stelle sich zumindest dem Problem, auch wenn das den Konzern nach Schätzungen an die 5 Milliarden Euro kosten könnte.

Schadensersatz im Sinne von Schmerzensgeld gibt es für Betroffene allerdings bislang nicht. Das vor Gerichten zu erstreiten, bleibt deren Sache (siehe dazu auch das Interview mit Herrn Barth S. 498).

Dabei spiegelt die Situation vor Gericht meist nur die Kontroverse in der Fachszene: Von den zahlreichen Gutachtern hat oft jeder seine eigene Meinung. Im Detail sind die aktuellen Problemfälle ungeklärt. Und keine Frage, gegebene Zielkonflikte der Endoprothetik machen die Fehlersuche oft zusätzlich kompliziert.

So zählen ASR wie auch das Zimmer Durom Metasul-System zu den Metall zu Metall-Gleitpaarungen, deren grundsätzliches Problem seit Jahren bekannt ist: Ein prinzipiell möglicher Metallabrieb.

Ab wann und wem das wirklich gefährlich wird, ist bis heute nicht operationalisierbar, einen Cut-off-Wert für bestimmte Metallionen im Blut, ab dem eine Prothese gewechselt werden muss, gibt es nicht. "Das ist wie beim Alkohol", meint Morlock, "dem einen schaden bereits geringe, dem anderen erst deutlich höhere Dosierungen."


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Mögliche Ursache Clearance?

Anders als modulare Systeme sind Kappenprothesen bis heute nur als Metall-Gleitpaarung ausführbar. Denn eine Pfanne aus Polyethylen müsste bei ihnen viel dicker ausfallen als eine aus Metall, was eine "exotisch große Öffnung" (Hassenpflug) im Beckenknochen erfordern würde.

Der Architekt der heutigen Kappenprothesen ist der britische Chirurg Derek McMinn aus Birmingham, der das Konzept mit einer eigenen Entwicklung Birmingham Hip Resurfacing (BHR) 1997 überhaupt erst praktikabel machte. McMinn aber zitiert das BMJ jetzt als einen Hauptkritiker der De Puy ASR-Kappenprothese. Der US-Konzern hatte sie als Konkurrenzprodukt zur BHR entwickelt, McMinn doziert seit 2005 darüber, dass die ASR-Pfanne ein erhöhtes Risiko auf Metallabriebberge.

Im Verdacht steht u. a. ein womöglich zu enger Gelenkspalt zwischen Metallpfanne und Metallkappe, im Fachjargon die sog. "Clearance". Er ist bei ASR wie etlichen weiteren Kappenprothesen, die noch am Markt sind, kleiner als bei der BHR, wie nicht nur McMinn, sondern auch Prof. Michael Menge, bis Ende 2009 Chefarzt der Orthopädischen Klinik im St. Marienkrankenhaus Ludwigshafen, ermittelt hat. Ein zu kleiner Gelenkspalt könnte die Abriebgefahr erhöhen. Man habe nach Bekanntwerden von Problemen, so Menge, keine Kappen mit kleinem Gelenkspalt mehr operiert – obwohl die überwiegende Menge völlig problemfrei funktioniere.


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Vorteil der Kappenprothesen unklar

Obendrein deutet eine neue Studie an, dass ein lange Zeit vorgebrachtes medizinisches Hauptargument für Kappenprothesen womöglich gar nicht gilt: Weil sie Knochenmasse schont, so die landläufige Annahme, soll dann, wenn doch eine Revision nötig und eine konventionelle Prothese eingebaut werden muss, diese Implantation besser gelingen, als wenn eine konventionelle Prothese revidiert werden müsste. Doch eine Gruppe um Richard N. de Steiger vom Australischen Endoprothesenregister kann das bei der Auswertung australischer Registerdaten nicht bestätigen [siehe Links]. Wer initial eine Kappenprothese trug, hatte danach sogar nach einer ersten Revision ein erhöhtes Risiko auf eine weitere Wechseloperation. "Man wird die breite Propagierung Kappenprothesen sind das Beste, nicht mehr sehen", resümiert Hassenpflug.

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Ein zweites Stichwort der aktuellen Sicherheitsdiskussion heißt Großkopfprothese. Parallel haben etliche Hersteller in den letzten 10 Jahren immer größere Gelenkköpfe in ihren Modellen angeboten. Das bietet dem Patienten u. a. die Chance auf größere Beweglichkeit im Gelenk.

Gerade bei Großkopfprothesen muss der Chirurg sein Handwerk allerdings besonders gut beherrschen, da er die Pfanne sehr sauber positionieren muss. "Großkopfprothesen stellen grundsätzlich höhere Anforderungen an die Operationsfertigkeit der Chirurgen, erklärt etwa die Firma Zimmer. Detaillierte Operationshinweise und Schulungen trügen dem aber Rechnung.

Und doch halten sich hartnäckig Zweifel, ob die Gesamtarchitektur dieser Prothesen auch bei adäquater Implantation in jedem Fall optimal ist.

So deutet eine Studie aus 2011 von einer Gruppe um Martin Lavigne in Montreal an, dass sich Großkopfprothesen verschiedener Hersteller beim Abriebverhalten von Cobalt- und Titanionen unterscheiden. Als Quelle für Cobalt vermuten die Autoren die Adapterhülse zwischen Schaft und Kopf des Femuranteils der Prothese. "Wir haben bei den Metall zu Metall-Paarungen 2 Problemzonen, einmal die Gelenkfläche selber, dann auch die Kontaktstelle zwischen Schaft, Adapter und aufgesetztem Gelenkkopf", meint Volker Ewerbeck. Wenn nur eine der Komponenten nicht zum Ensemble passe, falsche Belastungen herrschten, seien Probleme vorprogrammiert.


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Der Freiburger Fall

Auch der Träger des Freiburger Loretto-Krankenhauses verweist im März 2010 im Streit mit der Firma Zimmer auf die "Steckverbindung zwischen dem Konus des Oberschenkelschafts und dem Adapter im Hüftkopf" als Problemstelle. Dort sei es bei vielen Patienten zum Metallabrieb bei Großköpfen gekommen, bei Verwendung von Prothesen mit Köpfen unter 28 mm Durchmesser hingegen nicht. Das Krankenhaus sieht damit den Implanteur entlastet, den Chefarzt der Klinik, Dr. Marcel Rütschi. Zimmer argumentiert wiederum, es gebe nach Auswertung aller vorhandenen Daten weltweit keine Anhaltspunkte für generell erhöhte Revisionsraten seines Prothesenmodells.

Auch Michael Morlock, der 5 Explantate aus Freiburg untersucht hat, hält es für denkbar, dass die höheren Momente bei großen Köpfen die Konus-Verbindungen überfordert haben könnten, v. a. da die Konusfläche in der Vergangenheit immer weiter reduziert wurde. Letzten Endes für ihn allerdings ein Rätsel: "Bei den Fällen aus dem Loretto-Klinikum vermuten wir Abrieb am Schaftkonus. Das haben wir noch nie gesehen. Wir verstehen den Freiburger Fall noch gar nicht richtig." Trotzdem hält er die immer größer gewordenen Prothesenköpfe in manchen Modellserien heute generell für ein Problem. Morlock plädiert für einen Maximaldurchmesser: "36 mm sind genug, das sollte eine Obergrenze sein – aber die Fachgesellschaften haben leider keine Mittel, um da Vorschriften zu machen."

Paradox wirkt da auf den ersten Blick wiederum der Fall ASR. Denn De Puy hat wiederholt erklärt, die Revisionsraten seien hier gerade bei kleineren Prothesenköpfen besonders erhöht. Morlock sieht die Erklärung darin, dass hier gar kein Zusammenhang mit einer Konusproblematik bestehe. Vielmehr nehme bei solchen Systemen mit "Monoblockpfanne" bei kleineren Köpfen (die allerdings wiederum größer sind als 36 mm) die "Überdachungsfläche" der Pfanne ab, was ebenfalls zu erhöhtem Abrieb im Gelenk führe. Eine Facette mehr, dass die Ursachensuche noch viel Feinarbeit erfordert.

Einige Behörden haben unterdessen pauschal reagiert. Nicht nur die britische MHRA, die seit April 2010 einen Device Alert für alle Metall zu Metall-Paarungen aufgelegt hat. Auch die FDA stellt seit Mai 2011 alle Metall zu Metall-Gleitpaarungen unter Generalverdacht. Hersteller sollen Nachbeobachtungen und Studiendaten vorlegen, wie hoch die Abriebraten sind. Im September 2011 sieht das britische Endoprothesenregister (NJR) erstmals Hinweise, dass die Revisionsraten bei Metall zu Metall-Gleitpaarungen generell erhöht sind.


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Anforderungen steigen

Entwirren kann den Wust an Einzelstudien und Expertenmeinungen am ehesten ein systematischerer Aufbau von Datenbanken. Dafür, wer das leisten soll, taucht seit Kurzem ein weiterer Vorschlag auf: In der EU soll eine neue Zulassungs- und Überwachungsbehörde her.

Bei der Zulassung sind die Anforderungen für die Hersteller vor Marktzugang gerade erst etwas gestiegen. Endoprothesen werden heute in die höchste Sicherheitsstufe, die Klasse III eingeordnet. Wer mit neuen Modellen auf den Markt will, muss der Benannten Stelle auch eine Klinische Bewertung vorlegen. Doch der Terminus suggeriert mehr als stattfindet. Eine klinische Studie ist, anders als bei Arzneimitteln, eben nicht Standard.

Klinische Daten, so das MPG (§ 3, Absatz 25) können entweder aus einer "Klinischen Prüfung" stammen, aber auch aus Studien über ein "ähnliches Produkt", aus "unveröffentlichten Berichten", oder dürfen gar "sonstige klinische Erfahrungen mit einem ähnlichen Produkt." sein.

"Die Formulierungen in den Gesetzen sind zu vage", meint Michael Morlock. Der Gesetzgeber müsste präzisieren. Vor allem dürfe es nicht mehr sein, dass ein Produkt auf den Markt kommt ohne klinische Studie mit dem Argument, es ist nur ein bisschen etwas verändert worden.

Allen voran geben Europas Herzspezialisten dieser Forderung nach zentraler Zulassung seit Kurzem besonderen Nachdruck. In einer fulminanten Analyse listen Kardiologen um Alan G. Fraser von der European Society of Cardiology die Forderungen eines Konsensuskonferenz im Januar 2011 an ein neues EU-Zulassungsverfahren auf [siehe Links]. Eine zentrale EU-Behörde, z. B. eine mit erweiterten Befugnissen neu ausgestattete Europäische Arzneimittelbehörde, EMA, sollte in Zukunft neue Medizinprodukte aus höheren Risikoklassen einem ähnlichen Zulassungsverfahren unterziehen, wie sie das bei Arzneimitteln seit Jahren bereits leistet. Obendrein würde sie auch deren Beobachtung und Sicherheitsbewertung nach Marktzugang steuern und leiten.

Bei der Zulassung aber soll ein Rekurs auf klinische Daten zu vergleichbaren Vorgängermodellen strenger limitiert werden. Ärzte, aber auch Patienten, sollen Zugang zu dem Zulassungsdossier einzelner Produkte erhalten, um sich selbst ein Bild über Vor- und Nachteile verschaffen zu können.

Ein Vorschlag, der im Kern mittlerweile in einen ersten Entwurf der EU-Kommission für eine neue Medizinprodukte-Richtlinie Eingang gefunden hat. Seit 2008 tüftelt die EU-Kommission an einer Totalreform des wustigen EU-Paragrafenwerks zu Medizinprodukten.

Auch in den USA kocht nun erneut eine Debatte um Zulassungsverfahren für Medizinprodukte hoch. Denn auch bei der FDA passieren bislang viele Modelle ohne klinische Tests nach der Philosophie einer Substanziellen Äquivalenz. Motto bei diesem sog. 510 (k)-Programm: Eine kleine Änderung in der neuen Serie heißt noch nicht, dass nun etwas wirklich Neues kommt. Ergo kann das Modell direkt auf den Markt. Nebenbei: Die modulare ASR Endoprothese kam nach diesem 510 (k)-Prozess auf den Markt. Das Oberflächenersatzsystem ASR wurde in den USA hingegen nicht implantiert, da die FDA hier ein strengeres Verfahren zugrunde legte. Beim sog. Premarket Approval kann sie echte klinische Studien fordern und die legte De Puy in diesem Fall erst gar nicht vor.

Das 510 (k)-System solle ersetzt werden durch einen besseren Mix aus Studien vor Marktzulassung und mehr Post-Market-Überwachungen, forderte Anfang August 2011 ein Gutachten des Institute of Medicine in den USA.


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Die limitierte Zulassung

Die Bundesregierung lehnt eine zentrale Zulassung für Medizinprodukte hingegen ab, wie sie Juli 2011 auf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen darlegte. Sie will am "bewährten" System der Vergabe eines CE-Kennzeichens durch Benannte Stellen auch in Zukunft festhalten.

Da regt sich Widerspruch, u. a. bei einer weiteren Prüfstelle für Medikamente und Medizinprodukte im hiesigen Gesundheitswesen. Das CE-Zertifizierungsverfahren, so die Position beim Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), sei für ca. 90 % der Produkte gut und sinnvoll. Bei Klasse-IIb- und Klasse-III-Produkten aber müsse in Zukunft strenger darauf geachtet werden, dass klinische Studien vorliegen und dass die Bewertung einheitlich und transparent erfolgt. "Wir brauchen vor Marktzugang und Erstattung bessere Studien zu Medizinprodukten, bei solchen aus höheren Gefährdungsklassen auch randomisierte Studien", fordert Dr. Stefan Sauerland, Leiter des Ressorts Nichtmedikamentöse Verfahren beim IQWIG.

Etliche Experten favorisieren als schneller umsetzbare Lösung derweil erst mal eine Variante. Der GKV-Spitzenverband möchte eine Probephase für neue Therapien, die zunächst nur in einigen Spezialzentren angeboten werden sollten, bevor sie auf den breiten Markt können. Unter den Orthopäden macht sich u. a. Volker Ewerbeck für diese Idee stark (siehe das Interview mit Herrn Ewerbeck S. 500).

So ganz taufrisch ist das allerdings alles nicht. Neue Modelle, so Sarah K. Muirhead-Allwood als Editorialistin im BMJ, sollten zunächst nur in Spezialisierten Zentren eingeführt werden. Und weiter: Nun, da ein Versagensfall eingetreten sei, werde die Öffentlichkeit ein Versagen bei den Konsequenzen, die zu ziehen seien, in Zukunft nicht mehr verzeihen. Das war allerdings im Februar 1998 – anlässlich des Skandals um das 3M Capital-Systems. Ihre Prognose hat sich nicht erfüllt.

Vielleicht braucht die Kontroverse um das Wo und Wie von mehr Sicherheit in der Endoprothetik auch einfach mal eine große Schlichtungsrunde. Eine, die Ergebnisse anschließend dann auch umsetzt.

Bernhard Epping


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Weitere Informationen

Behörden und Politik
Die Britische Behörde MHRA zu ASR:
http://www.mhra.gov.uk/Publications/Safetywarnings/MedicalDeviceAlerts/CON093789

Die Australische Gesundheitsbehörde zu ASR
http://www.mhra.gov.uk/Publications/Safetywarnings/MedicalDeviceAlerts/CON093789

Das BfArM:
http://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/riskinfo/wissauf/statist-auswertung.html?nn=1012476

BfArM-Statistik
http://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/riskinfo/wissauf/statist/statist-Auswert_quartalsweise_Anzahl-Risikomel_Produktgr.html?nn=1012476

DIMDI
http://www.dimdi.de/static/de/mpg/index.htm

Liste der Benannten Stellen in Deutschland:
http://www.dimdi.de/static/de/mpg/adress/benannte-stellen/bs-akt.htm

Bundestags-Drucksache 17/6190:
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/061/1706190.pdf

Antwort der Bundesregierung, Drucksache 17/6397:
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/063/1706397.pdf

Weitere Artikel "Out of Joint", das British Medical Journal zu ASR&Co:
http://www.bmj.com/content/342/bmj.d2905.full

Fraser et al., Report zu einer KonsensusKonferenz der European Society of Cardiology:
http://eurheartj.oxfordjournals.org/content/32/13/1673.full.pdf

Aktuelle Diskussion im NEJM zur Neuregelung Marktzugang Medizinprodukte:
http://healthpolicyandreform.nejm.org/?p=15108&query=home

Studie von Steiger et al. zur erhöhten Revisionsraten bei Kappenprothesen im australischen Register:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2856207/?tool=pubmed

Studie von M. Menge zu Kappenprothesen:
http://www.prof-menge.com/berichte/Kappenprothesen.pdf

Selbsthilfe Betroffener:
http://www.durom-hueftprobleme.de/tag/selbsthilfe

Hersteller:
http://www.depuy.de/home/asr-rueckruf


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Die Röntgenbilder sind entnommen aus Orthopädie und Unfallchirurgie up2date (Jahrgang 2007 und 2008).




 
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Endlich wieder mobil! Für viele Patienten ist die Gelenkersatzoperation ein Segen. Leider aber eben nicht für alle.(Bild: Jupiterimages)
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