Z Geburtshilfe Neonatol 2011; 215(04): 131-132
DOI: 10.1055/s-0031-1285843
Editorial
George Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Iatrogene Frühgeburt

Iatrogenic Late Preterm Births
W. Rath
1   Gynäkologie und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Aachen
,
S. Schmidt
2   Klinik für Geburtshilfe und Perinatalmedizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg
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Publication Date:
23 August 2011 (online)

Weltweit kommt es schätzungsweise jede Minute zu einer Frühgeburt. Die Prävention und Behandlung der Frühgeburt ist und bleibt eine der größten Herausforderungen der Perinatalmedizin; infolge ihrer multifaktoriellen Genese gibt es bisher keine kausalen Therapieoptionen, sodass der Prävention der Frühgeburt gegenwärtig zunehmende Bedeutung zukommt.

Frühgeburten sind für 75–80% aller neonatalen Todesfälle und für mehr als 50% der neurologischen Morbidität der Kinder verantwortlich, vor der 26. SSW weisen nur 13% der überlebenden Kinder keine Behinderungen auf. Die Folgen sind schwere, oft lebenslange Einzelschicksale für das Kind und die betroffene Familie, aber auch eine massive finanzielle Belastung des Gesundheitssystems und der Solidargemeinschaft. Die Frühgeburt ist in unserem Land ein unterschätztes, da häufig von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes oder verdrängtes Problem.

Trotz aller Fortschritte in der Perinatalmedizin, der wir eine signifikante Senkung der perinatalen Mortalität in den letzten 20 Jahren verdanken, ist in den Industrieländern die Frühgeburtenrate auf 8–13% angestiegen, in den USA zwischen 1990 und 2008 sogar um mehr als 20%. Innerhalb Europas steht Deutschland mit ca. 9% an 2. Stelle der Frühgeburtlichkeit.

Besonders gefährdet hinsichtlich neonataler Mortalität und Langzeithandicaps sind Frühgeborene <1 000 g, deren Rate in Deutschland zwischen 2000 und 2007 um 70% zugenommen hat.

Bei der Frage „warum?“ sind 2 Entwicklungen in der Geburtshilfe unübersehbar: zum einen die signifikante Zunahme mütterlicher Risikofaktoren für eine Frühgeburt (u. a. Mehrlinge, Noxen, mütterliches Alter über 35 Jahre), die Spiegelbild einer komplexen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung in unserem Lande sind, zum anderen die stete (schleichende) Zunahme „iatrogener“ Frühgeburten (durch den Geburtshelfer aus medizinischen Gründen indizierte vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft), deren Anteil an der Gesamt-Frühgeburtenrate inzwischen bis zu 40% beträgt.

Ungeachtet dieser Entwicklung ist vom geburtshilflich-neonatologischen Team immer eine sorg­fältige, kritische und auf jeden Einzelfall bezogene Risiko-Nutzenabwägung zu fordern, um verantwortungsbewusst zu entscheiden, ob das Kind von einem Verbleiben in utero noch profitiert oder aber außerhalb des Uterus bessere Chancen hat. Dabei entsteht regelmäßig das Dilemma, dass eine Prolongation der Schwangerschaft nicht zu Lasten der Mutter gehen darf (erhöhte Rate mütterlicher Komplikationen wie z. B. bei Präeklampsie), andererseits der Geburtshelfer aber auch als „Anwalt des Kindes“ verpflichtet ist, das Bestmögliche für dessen lebenswertes Überleben zu tun. Mit dieser Entscheidung wird der Geburtshelfer häufig „akut“ konfrontiert, was die Entscheidung nicht einfacher macht.

Die Zunahme iatrogener Frühgeburten spiegelt aber auch eine Entwicklung wider, die geprägt ist von einem zu recht gewachsenen Vertrauen in die moderne Neonatalmedizin, neuen wissenschaftlich-empirischen Erkenntnissen zur neonatalen Morbidität und Mortalität vor und nach der 34. SSW (z. B. EPICURE-Studie) sowie einer Geburtsmedizin, die aus dem Anspruch der Eltern auf ein gesundes Kind und aus Sorge der Geburtshelfer vor medico-legalen Auseinandersetzungen zunehmend präventiv-defensiv ausgerichtet ist. Dies betrifft nicht nur die Medikalisierung der Schwangeren, sondern vor allem die Indikation und den Zeitpunkt der Schwangerschaftsbeendigung bei geburtshilflichen Pathologien. Nicht zu vergessen ist ein auch in großen geburtshilflichen Kliniken häufig nicht zu übersehendes Defizit an geburtshilflicher Ausbildung, Erfahrung und Versorgungskapazität, als deren Folge der vorzeitigen Schwangerschaftsbeendigung mittels Sectio caesarea und der Übertragung der daraus resultierenden Verantwortung für das Neugeborene auf den Neonatologen der Vorzug vor einem konservativen, überwachungsintensiven und a priori für die Mutter risikoreicherem Vorgehen gegeben wird. Nicht zuletzt hat bei Schwangerschaftspatholo­gien die immer noch gültige Definition der Frühgeburt de facto (u. a. in Leitlinien) eine Vorverlegung in die 34. SSW erfahren, wobei in jedem Einzelfall kritisch zu hinterfragen ist, ob dies auch für das Kind die optimale Lösung ist. Ungeachtet der geburtshilflichen Maxime, mütterliche Mortalität und Morbidität zu vermeiden, dürfen wir das Problem „late preterm birth“ und dessen Folgen für die kindliche Früh- und Spätmorbidität nicht vergessen. Die Komplexität des Problems „iatrogene Frühgeburt“ macht eine aktuelle Bestandsaufnahme aus geburtshilflicher und neonatologischer Sicht notwendig, die Inhalt dieses Themenheftes ist.

Wir möchten daher den Leserinnen und Lesern unserer Zeitschrift aktuelle Informationen zu diesem kontrovers diskutierten Thema sowie praxisrelevante Orientierungshilfen liefern.·

W. Rath

S. Schmidt