Balint Journal 2011; 12(4): 100-108
DOI: 10.1055/s-0031-1283822
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Beredtes Schweigen. Anmerkungen zur andauernden Wirkmächtigkeit der apostolischen Funktion in Balint-Gruppen. Teil II

Noisy Silence. Notes on the Persistent Effectiveness of Apostolic Function in Balint-Groups. Part IIA. Ertle
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Publication Date:
14 December 2011 (online)

Zusammenfassung

Die Frage nach dem Verborgenen, durch Schweigen verhüllten, Verdrängten in der Balintarbeit rührt an Bereiche, die sich dem unvoreingenommenen Betrachter vordergründig als selbstverständlich, nicht hinterfragbar, paradigmatisch aufdrängen. Dazu gehört die auffällige Diskrepanz zwischen einem idealisierten Arztbild als angeblich unzerstörbarem Persönlichkeitskern jeden Arztes und der manifesten Tendenz, die Arzt-Patient-Beziehung in einen unverbindlichen, lediglich auf dem wechselseitigen Aushandeln von Interessen beruhenden Kontakt zwischen Gesundheitsanbieter und Klient umzuwandeln. Beides findet in der aktuellen Balintarbeit seinen Niederschlag. Die nach wie vor gültige Intention Balints der begrenzten, jedoch nicht unwesentlichen Umstellung in der Persönlichkeit des Arztes wird so aufgehoben, Balintarbeit zu einer tendenziell entbehrlichen Methodik standardisierbaren Verhaltens entwertet. Diese Beobachtungen werden ergänzt durch Fragmente aus einer Gruppen-Vignette. 

Abstract

Questions about the hidden, veiled by silence and repressed aspects in Balint work will soon touch those fields, which apparently assert themselves as natural, not to be questioned, paradigmatic to the unprejudiced observer. It concerns the striking difference between an idealized idea of the physician, which is supposed to be an indestructible core of his personality and the growing tendency to transform to and manage the doctor-patient-relation as a noncommittal encounter between the producer of health services and his customer, both merely entangled in mutual arrangement of their interests. M. Balint‘s still valid aim of a limited, but considerable change in personality is thus cancelled and the value of Balint work is lowered to a technique that will soon be spared. These observations are complemented by details of a case-report.

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1 Zit. nach: Mitscherlich A: Zur Zusammenarbeit von Psychoanalytiker und niedergelassenem Arzt in der Praxis. (1965) In: Nedelmann, C, Ferstl H (Hrsg.): Die Methode der Balint-Gruppe. Stuttgart: Klett-Cotta 1989; 176

2 Hervorhebung durch L. Gast

3 Hervorhebungen durch mich, A. E.

4 Entsprechende unkritische Idealisierungen des Arztbildes sind verbreiteter Topos unserer Zeit, so z. B. bei L. Geisler [28], oder N. v. Hardenberg [29].

5 Vermutlich Übersetzungsfehler; grammatikalisch korrekt wäre die Verwendung des Relativpronomens „der“ in Relation zum Objekt „Wirklichkeit“ (A. E.).

6 Wittgenstein L. Tractatus Logico-Philosophicus. Frankfurt 1963; Zit. nach: Lorenzer A. Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M, Suhrkamp-Verlag 1973; 97

7 A. Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Freiburg: Karl Alber Verlag 1949; 342

8 Gruppen können mit W. Bion [42] eingeteilt werden in Arbeitsgruppen und „Grundannahmegruppen“. Während die Arbeitsgruppe sich auszeichnet durch ihre Bereitschaft, konstruktiv an einer gemeinsamen Zielsetzung zu arbeiten, dienen die im Zustand der Regression sich befindenden Grundannahmegruppen vorwiegend der Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse, in der Kampf-Flucht-Gruppe beispielsweise mit der kollektiven Ausrichtung auf einen Feind oder ein Feindbild, „den [bzw. das] sie bekämpfen kann, oder vor dem sie fliehen muss, wobei beides der Gruppe Kohärenz verschafft.“ [43] . Es ist Aufgabe des Gruppenleiters, dafür zu sorgen, dass die Gruppe konstruktiv arbeitet und nicht zurück fällt in den Status der Grundannahmen.

9 Brecht B. „Oh Fallada, die du hangest!“ In: Brecht B. Gesammelte Gedichte, Bd. I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag 1967; 61 f.

10 Weder aus dem Bericht, noch aus dem späteren Gruppenverlauf war hervorgegangen, ob bei der Patientin eine Ablatio mammae erfolgt war.

11 Die Organisatoren der Weiterbildung hatten einleitend mich mit Hinweis auf meine allgemeinärztliche Qualifikation vorgestellt.

12 Ingeborg Bachmann. Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. München: Piper-Verlag 1991; 19

13 Hervorhebung durch W. Loch

Dr. med. A. Ertle

FA f Psychostherapeutische Medizin und Allgemeinmedizin

Käthe-Kollwitz-Str. 1

71083 Herrenberg

Email: andreas.ertle@t-online.de

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