PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 351-352
DOI: 10.1055/s-0031-1276972
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Weltweit einzigartig – das Epilepsiemuseum in Kehl-Kork/Deutschland

Michael  Brünger
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Publication Date:
13 December 2011 (online)

Der äußere Eindruck mag den Besucher zunächst täuschen: Hinter der Fassade des Heimatmuseums in Kork erwartet den Besucher eine weltweit einzigartige Ausstellung. Im Epilepsiemuseum stehen die Epilepsien als neurologische Erkrankungen des Menschen facettenreich im Mittelpunkt.

Seit 3700 Jahren sind schriftliche Nachweise zur Existenz der Epilepsien beim Menschen bekannt: In Babylon gab es nach damaliger Gesetzeslage die Möglichkeit, einen Sklavenkauf rückgängig zu machen, wenn sich Anfälle im ersten Monat nach Kauf einstellten (Box 1).

Box 1 Codex Hammurabi § 278 Wenn ein Bürger einen Diener oder eine Magd gekauft und ihn / sie, da der Monat noch nicht voll ist, die bennu-Krankheit befallen hat, so gibt er (ihn) seinem Verkäufer zurück, und der Käufer nimmt das Silber, das er gezahlt hat, wieder an sich.

Zitiert nach: Eilers W. CODEX HAMMURABI, die Gesetzesstele Hammurabis. Reprint nach der 5. Auflage der Ausgabe Leipzig 1932. Marix Verlag, Wiesbaden, 2009, Seite 89.

Bei der Übersetzung der bennu-Krankheit als Epilepsie bezieht sich Eilers auf K. Sudhoff (1910): „als Gegenstand der Mängelgewähr häufig in den Sklavenkaufverträgen“.

Hammurabi (etwa 1728 bis 1686 v. Chr.) war König der Stadt Babylon. Die Gesetzesstele wurde in den Jahren 1901 / 1902 bei französischen Ausgrabungen auf dem Boden der alten Elamiterhauptstadt Susa (also nicht in Babylon selbst!) gefunden, wohin sie vermutlich als Kriegsbeute gelangte. Der Stein wird heute im Louvre in Paris aufbewahrt.

Das älteste bekannte „Lehrbuch“ zur Epilepsie stammt ebenfalls aus babylonischer Zeit und ist wohl zwischen 1200 und 1000 v. Chr. entstanden. Die Steintafeln befinden sich schon seit längerer Zeit im Depot des British Museum in London, konnten aber erst jetzt endgültig entziffert werden.

Legt man bei den Zeugnissen aus zurückliegenden Jahrhunderten heute geltende Wissenschaftsmaßstäbe an, so erweist sich auch in unserer Zeit noch manche Aussage zu den Epilepsien als zutreffend. Das Museum dokumentiert aber auch eindrücklich, dass jede Epoche der Geschichte ihre spezifischen Irrtümer hervorbringt – nicht selten mit schweren Folgen für die Kranken.

Hansjörg Schneble, Kinderarzt und Epileptologe, hat in Kork eine Ausstellung von unschätzbarem Wert zusammengetragen (siehe auch Interview mit Hansjörg Schneble in diesem Heft). Wertvoll ist diese Sammlung nicht allein durch die vielen Exponate, die er – gestützt auf persönliche Beziehungen zu namhaften Epileptologen in vielen Teilen der Welt und durch stets offene Augen für alle Aspekte der Epilepsien – hier versammeln konnte. Natürlich kann ein Museum, welches durch Spenden und die Mittel seines Gründers erhalten wird, das erwähnte babylonische Lehrbuch in Form von Steintafeln nur als Fotografie zeigen.

Dafür steht aber fundierte, anschauliche Wissensvermittlung ganz im Vordergrund. Wenn der Museumsgründer und -leiter erzählt, wird das persönliche Schicksal Betroffener lebendig, werden die Biografien derjenigen ins Licht gerückt, die ihr Leben der Sorge für Kranke oder der wissenschaftlichen Erforschung der Epilepsien gewidmet haben.

Schneble führt den Besucher durch eine museumsdidaktisch klar gegliederte Ausstellung, die die Wissenschaftsgeschichte von frühen Quellen bis zur Neuzeit, frühere und jetzige Diagnostik und Therapie bis in die Gegenwart thematisiert. Breiten Raum nimmt auch die Darstellung der gesellschaftlichen Haltung zum an Epilepsie erkrankten Menschen ein: die Anfänge der institutionalisierten Fürsorge und Behandlung im Würzburger Juliusspital und in Görlitz, die Hinwendung zum Spirituellen, die menschenverachtende und -vernichtende Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten.

Menschen mit Epilepsie kommen vielfach selbst zu Wort: in Beschreibungen, Bildern und Werken, die verdeutlichen, wie sie ihrer eigenen Betroffenheit Raum gegeben haben. Das Museum zeigt berührende Kunstwerke, Gemälde und Skulpturen; sie sind ein Signal an die Außenwelt und oftmals Ergebnis eines zunächst ganz eigenen, inneren Prozesses der Auseinandersetzung mit der Erkrankung.

„Auch Dostojewski – selbst an Epilepsie erkrankt – gibt den Figuren in seinen Romanen mehrmals eine Epilepsie mit auf den Lebensweg“ führt Schneble aus: „Den Fürsten Myschkin zeichnet bei Dostojewski Güte, Ehrlichkeit und Tugendhaftigkeit aus („Der Idiot“). Smerdjakow dagegen, außerehelicher Sohn, Bediensteter und schließlich Mörder von Fjodor Pawlowitsch Karamasow („Die Brüder Karamasow“), wird als Mensch mit all seiner Schlechtigkeit gezeichnet. Dostojewski zeigt uns eindrücklich, dass Charakter/Persönlichkeit und Epilepsie nichts miteinander zu tun haben[1]“.

Dostojewski ist einer von vielen großen Persönlichkeiten, die der Besucher in der „Prominentengalerie“ antrifft. Bedeutende Personen der Geschichte und des heutigen öffentlichen Lebens findet er hier wieder. Spontan mag mancher Besucher denken: „Das hätte ich nicht gedacht, dass der / die auch Anfälle hatte …!“ Ist das ein Trost für Betroffene? Vielleicht kann es das in vielen Fällen sein, verdeutlicht es doch, dass Anfälle einer erfolgreichen beruflichen und gesellschaftlichen Karriere nicht entgegenstehen müssen.

Die Angehörigen, die Familien von Anfallskranken sind ebenfalls vertreten: Um dem eigenen Kind zu helfen, legten Eltern ihm in Bayern und Österreich des 17./18. Jahrhunderts eine sogenannte Fraisenkette um ([Abb. 1]): Sie erhofften sich von diesen Amuletten Schutz vor Anfällen („Fraisen“). Zahlreich sind auch die Votivtafeln erhalten, die dem heiligen Valentin von Terni[2] – Schutzpatron nicht nur der Liebenden, sondern auch der Anfallskranken – dankbar gestiftet wurden.

Abb. 1 Eine Fraisenkette aus dem Salzburger Land. Die Amulette sollten vor Anfällen schützen (Quelle: Privat, mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Epilepsiemuseums in Kork/Deutschland).)

Diese Erkenntnis nimmt ihren Ursprung in der häufig anzutreffenden Annahme: „Wer Anfälle hat, ist immer auch behindert, krank und unfähig“. Vielleicht muss man ergänzen: Wenn wir nicht gut informiert sind über dieses Krankheitsbild, sind uns Menschen mit Epilepsie zunächst oft fremd. Wir können nur schwer einschätzen, was das für unsere Begegnung mit den Betroffenen bedeutet. Dieses Wissen fehlt häufig in der Bevölkerung, was die Haltung gegenüber Epilepsiekranken ungünstig prägen kann.

In Zeiten, in denen Erkrankungen wie das Tourette-Syndrom durch Zeitungsberichte, Filme und Reportagen einen erstaunlichen Bekanntheitsgrad erreicht haben, der sich im Sinne einer Enttabuisierung positiv für die Betroffenen ausgewirkt hat, war ein Epilepsiemuseum überfällig. Hansjörg Schneble hat dies als Erster erkannt, er hat den Epilepsien und damit den Betroffenen einen Platz gegeben.

Ist es als Zufall zu werten, dass sich diese bedeutende Sammlung nicht in Berlin, sondern im kleinen Kork findet? Dass sie sich weder in den Hallen einer medizinischen Fakultät noch im Epilepsiezentrum Kork selbst findet? Kann dies als Sinnbild für den Platz epilepsiekranker Menschen in unserer Gesellschaft gesehen werden? Die eher unscheinbare Adresse dieses Museum sollte Interessierte nicht von einem Besuch oder einer Spende abhalten. Im kleinen Rahmen ist etwas Außerordentliches geschaffen worden, die Fachwelt hat Schneble und seinen Sohn für die Idee und die stetige Vervollkommnung mit einem Preis geehrt.

1 Hier geben wir heute Dostojewski eindeutig Recht! Er steht damit im Widerspruch zu Sigmund Freud, der ja zunächst Nervenarzt war. Freuds Äußerungen über Dostojewski und seine Einschätzung zur „heiligen Krankheit“ können wir heute nicht mehr teilen: „Immer hebt sich noch als scheinbare klinische Einheit der alte Morbus sacer hervor, die unheimliche Krankheit mit ihren unberechenbaren, anscheinend nicht provozierten Krampfanfällen, der Charakterveränderung ins Reizbare und Aggressive und der progressiven Herabsetzung aller geistigen Leistungen“ (S. Freud: Gesammelte Werke. Dostojewski und die Vatertötung, 1928 [1927]) [Erstveröffentlichung: In: Die Urgestalt der Brüder Karamasoff, hrsg. von R. Fülöp-Miller und F. Eckstein, München 1928, S. XI–XXXVI. – Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 399–418].

2 Valentin von Interamna/Terni († im Jahr 268 als Märtyrer) teilt sich sein „Amt“ als Schutzpatron der Epilepsiekranken mit Valentin von Rätien (*435; † um 475). Dagegen ist Valentin von Rom, am 14. Februar 269 hingerichtet, vermutlich der eigentliche Schutzpatron der Liebenden.

Deutsches Epilepsiemuseum Kork

Museum für Epilepsie und Epilepsiegeschichte

Oberdorfstraße 8

77694 Kehl-Kork

Öffnungszeiten: sonntags 14–17 Uhr, Eintritt frei

Postanschrift: Hornisgrindestraße 70, 77652 Offenburg

Tel. u. Fax: 0049/1212-510955935

Email: info@epilepsiemuseum.de

URL: http://www.epilepsiemuseum.de

Führungen nach Anmeldung

Spendenmöglichkeiten: Epilepsiemuseum Kork, Konto-Nr. 16347967 bei der Sparkasse Hanauerland Kehl (BLZ: 664 518 62), Spendenbescheinigung wird zugestellt