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DOI: 10.1055/s-0030-1268366
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Was hat L. mit uns zu tun?
Publication History
Publication Date:
05 November 2010 (online)
Das Schweizerische Straffrecht bietet die Möglichkeit, eine Freiheitsstrafe nicht nur zugunsten einer stationären, sondern auch einer ambulanten psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Behandlung aufzuschieben. Für den forensisch-psychiatrischen nicht oder nur wenig erfahrenen Leser stellt sich die Frage, ob und inwiefern eine derart verordnete "Zwangstherapie" wirken kann. Catja Wyler van Laak führt seit über 10 Jahren eine forensisch-psychiatrische Privatpraxis, in welcher sie u.a. derartige Therapien durchführt. Es verwundert nicht, dass sie sich insbesondere für die sog. "Resilienz" interessiert, also diejenigen Persönlichkeitsfaktoren, die die Betreffenden widerstandsfähig machen gegenüber schwierigen Lebensbedingungen, ohne die Interessen anderer zu vernachlässigen oder zu verletzen. Resiliente Persönlichkeiten sollten trotz vielfältiger anamnestischer Risikokonstellationen zumindest eine enge Beziehung zu einer Bezugsperson gehabt haben, ihre Umgebung beschreibt sie als aktiv und spontan, sie sollen einen hohen Grad an Wachheit und Autonomie aufweisen und sie seien fürsorglich und verantwortungsbewusst.
In ihrem Buch beschreibt die Autorin den Fall eines damals 43-jährigen Internetkinderpornografie-Konsumenten, der begonnen hatte, sich in Chatrooms zu betätigen und schließlich ein Treffen mit einer angeblich 13,5-jährigen "Partnerin" arrangierte, welche sich als "Lockvogel" bzw. als Mann erwies, der schließlich die Polizei avisierte. Der Täter wurde wegen Besitz und Verbreitung von Pornografie zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt und eine Weisung zu einer ambulanten Psychotherapie erteilt. Nun stoßen Täter, welche sexuelle Handlungen an Kindern begangen haben (dazu gehört selbstredend auch der Konsum von Kinderpronografie), in der Regel auf Abscheu. Die Kasuistik gibt deshalb der Autorin die Gelegenheit, die spezifischen ethischen Aspekte, die der forensisch-psychiatrischen Tätigkeit zugrunde liegen, zu schildern. Anhand des berühmten Milgram-Experiments legt sie dar, dass unter gegebenen Umständen auch gesetzestreue Bürger zu sadistischen Taten verlockt werden können. Aufgrund der zur Verfügung stehenden, sowohl für forensische "Laien" als auch Experten relevanten Literatur stellt die Autorin fest, dass ihr Klient zu den eher seltenen Internetkinderpornografie-Konsumenten gehört, welcher durch den Konsum zu einer aktiven Handlung i.S. eines "Hands-on-Deliktes" verleitet wurde. Für die Risikobeurteilung folge, dass, ungleich den erschreckenden Resultaten des "Milgram-Experimentes", nicht eine hochspezifische Tatkonstellationen bestanden habe, sondern dass die auffälligen Persönlichkeitszüge ihres Klienten, nämlich Gefühlskälte und gestörte Bindungsfähigkeit, die Delikte begünstigt hätten. Dies gibt der Autorin die Gelegenheit, auf die Prinzipien der modernen forensischen Risikokalkulationen mittels strukturierter Checklisten einzugehen, wobei sie im Falle ihres forensisch-psychiatrisch nur mäßig gestörten Klienten dem teuren und sehr aufwendigen Verfahren FOTRES, welches im Verlauf subtile Veränderungen dokumentieren könne, den Vorzug gibt. Nun habe ihr Klient, bezogen auf die moderne Resilienzforschung, eher ungünstige Persönlichkeitsmerkmale aufgewiesen, trotzdem sei der Therapieverlauf günstig gewesen. Die Autorin führt dies auf den erheblichen Leidensdruck des Klienten, der an einer therapeutischen Beziehung auf der Erwachsenenebene arbeitete, die ihm eine intellektuelle, erfolgreiche Behandlung möglich machte, zurück. Es sei ihr gelungen, ein gültiges "Narrativ" zu erarbeiten, worunter die Autorin die Verbesserung in der Entwicklung ihres Klienten verkümmerten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten versteht. Nach 2 Jahren habe man die Therapie ordnungsgemäß abschließen können, wobei der Klient die Autorin auch weiterhin in größeren Abständen aufsuche.
Zum Abschluss lässt die Autorin ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs zu Wort kommen, welche durch die mangelnde Kommunikation in ihrer Familie in die Prostitution getrieben worden ist und demonstriert anhand eines kurzen, in einer Kleinfamilie spielenden Theaterstückes, wie interfamiliäre Kommunikation bezüglich heikler Themen wie sexuellem Missbrauch i.S. der Vermittlung von "Resilienz" zu laufen hätte.
Wie es sich für eine gelungene Kasuistik gehört, vermittelt das Büchlein einen interessanten Einblick in den Alltag einer forensisch-psychiatrisch tätigen Therapeutin und macht den interessierten Leser mit weiterführenden Aspekten wie der Epidemiologie der Internetpornografie und der modernen forensisch-psychiatrischen Risikokalkulation vertraut.
Andreas Frei, Luzern
Email: Andreas.frei@lups.ch
Wyler van Laak C. Was hat L. mit uns zu tun? Therapie eines Sexualstraftäters und was das mit uns zu tun hat. Frankfurt a.M.: Rita G. Fischer, 2010. 159 Seiten. 9,80 €. 17,90 SFr. ISBN 978-3-8301-1302-7