Pädiatrie up2date 2011; 6(3): 315-333
DOI: 10.1055/s-0030-1256694
Varia

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zahnfehlstellungen und orofaziale Dysfunktionen

Wichtiges für den PädiaterFranka  Stahl de Castrillon, Rosemarie  Grabowski
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 September 2011 (online)

Einleitung und Problemstellung

In der Kinder- und Jugendmedizin ist die Prävention seit jeher integraler Bestandteil in Wissenschaft und Praxis. Auch in den Spezialrichtungen der Zahnheilkunde hat sich der viel zitierte Paradigmenwechsel hin zur Prävention vollzogen. Allein in der Kieferorthopädie wird derzeit das Schwergewicht therapeutischer Einflussnahme auf sog. Spätbehandlungen gelegt. Darunter versteht man Therapien am Ende der Wechselgebissperiode und im bleibenden Gebiss. Mit den kieferorthopädischen Indikationsgruppen der gesetzlichen Krankenkassen (KIG) wurden Richtlinien des Umfangs von Zahnstellungs- und Okklusionsanomalien erhoben, die es möglich machen sollen, den Schweregrad einer Anomalie metrisch zu erfassen. Damit soll vorgebeugt werden, dass Behandlungen von Bagatellanomalien zulasten der Krankenkassen durchgeführt werden. Da sich aber kieferorthopädische Anomalien mit dem Fortschreiten der Gebissentwicklung und des Wachstums verändern, kommt es darauf an, die Prognose der Anomalie richtig einzuschätzen. Nur dann kann es gelingen, einer Fehlentwicklung frühzeitig zu begegnen. In diesem Sinne ist die Milchgebissperiode die günstige Zeit, um belastende Faktoren zu erkennen. Dass Kinderärzten beim Erreichen dieses Ziels eine Schlüsselposition zukommt, liegt auf der Hand. Der Kinderarzt in seiner Doppelfunktion als Haus- und Facharzt spielt auch bei der Prävention und Früherkennung von Zahn- und Kieferanomalien eine entscheidende Rolle. Das schließt die kieferorthopädische Prävention mit ein.

Merke: Die kieferorthopädischen Indikationsgruppen orientieren sich allein an metrischen Abweichungen der Zahnstellung und der Okklusion. Sie berücksichtigen dabei die Prognose einer Fehlentwicklung wenig oder gar nicht.

Status quo

Das Bemühen, Indizes zu entwickeln, um die kieferorthopädische Behandlungsbedürftigkeit zu definieren, ist nicht neu. In jüngster Zeit hat sich der IOTN-Index (Index of orthodontic Treatment Need) für Bewertungen des Gebissanomalieumfangs durchgesetzt. Doch auch dieser Index ist nicht in der Lage, die noch zu erwartende Entwicklung zu bewerten. Anders verhält es sich mit dem DMF-T- oder dmf-t-Index, der eine klare Aussage über den Gesundheitszustand der Zähne erlaubt. Um bei Kindern das Kariesrisiko vorausschauend zu erkennen, wurde dieser Index altersabhängig definiert. In Anlehnung daran wurde zusätzlich für Gebissanomalien bei Kindern das „kieferorthopädische Risikokind” definiert [1] [2] [3]. Diese Definition berücksichtigt neben der Gebissanomalie zusätzlich vorkommende orofaziale Dysfunktionen der peri- und enoralen Muskulatur, die für die Prognose der Gebissanomalie von entscheidender Bedeutung sein können und dementsprechend einer frühen Behandlung bedürfen. Da kein Kind (schwere syndromale Leiden und Wachstumsstörungen sollen in der hier vorliegenden Betrachtung ausgeschlossen bleiben) mit einer schweren „ausgewachsenen Anomalie” geboren wird, trägt die frühzeitige Diagnose und Therapie von zusätzlichen Fehlfunktionen mit dazu bei, die Entwicklung einer prognostisch ungünstigen Anomalie zu verhindern oder zumindest die Bedingungen für das spätere therapeutische Handeln zu erleichtern und somit das Ergebnis der Therapie durch das Ausschalten des kausalen Faktors „Fehlfunktion” stabiler zu machen.

Literatur

  • 1 Grabowski R, Stahl F, Gaebel M et al. Relationship between occlusal findings and orofacial myofunctional status in primary and mixed dentition. Part I: Prevalence of malocclusions.  J Orofac Orthop. 2007;  68 26-37
  • 2 Stahl F, Grabowski R, Gaebel M et al. Relationship between occlusal findings and orofacial myofunctional status in primary and mixed dentition. Part II: Prevalence of orofacial dysfunctions.  J Orofac Orthop. 2007;  68 74-90
  • 3 Grabowski R, Kundt G, Stahl F. Relationship between occlusal findings and orofacial myofunctional status in primary and mixed dentition. Part III: Interrelation between malocclusions and orofacial dysfunctions.  J Orofac Orthop. 2007;  68 462-476
  • 4 Müßig D, Zschiesche S. Aspekte der prä- und postnatalen Entwicklung des orofazialen Systems.. Mainz: Kirchheim; 1988: 332-339
  • 5 Fränkel R, Fränkel C. Clinical implication of Roux's concept in orofacial orthopedics.  J Orofac Orthop. 2001;  62 1-21
  • 6 Melsen B, Stensgaard K, Pedersen J. Sucking habits and their influence on swallowing pattern and prevalence of malocclusion.  Eur J Orthop. 1997;  1 271-280
  • 7 Grabowski R, Stahl de Castrillon F. Gebissentwicklung und Funktionsstörungen.. In: Grabowski R, Hinz R, Stahl de Castrillon F, Hrsg Das kieferorthopädische Risikokind.. Herne: Zahnärztlicher Fachverlag; 2009: 14-43
  • 8 Aznar T, Galan A F, Marin J et al. Dental arch diameters and relationship to oral habits.  Angle Orthod. 2006;  76 441-445
  • 9 Warren J J, Bishara S E. Duration of nutritive and nonnutritive sucking behaviors and their effect on the dental arches in the primary dentition.  Am J Orthod Dentofacial Orthoped. 2002;  121 347-356
  • 10 Grabowski R. Lutschgewohnheiten und Lutschfolgen.. In: Splieth C H, Grabowski R, Gedrange T, Fanghänel J, Hrsg Kieferorthopädische Frühbehandlung in der Praxis.. Balingen: Spitta; 2007: 77-119
  • 11 Stahl de Castrillon F. Gebissentwicklung und funktioneller Status.. In: Grabowski R, Hinz R, Stahl de Castrillon F, Hrsg Das kieferorthopädische Risikokind.. Herne: Zahnärztlicher Fachverlag; 2009: 79-88
  • 12 Kellum G D, Gross A M, Hale S T et al. Thumsucking as related to placement and acoustic aspeckts of s/z and lingual resting posture.  Int J Orofacial Myology. 1994;  20 4-9
  • 13 Melson B, Attina L, Santuari M et al. Relationship between swallowing pattern, mode of respiration and development of malocclusion.  Angle Orthod. 1987;  57 113-120
  • 14 Fränkel R. Luftdruck, Atmung und die orofazialen Weichteile.  Dtsch Zahn Mund Kieferheilkd Zentralbl. 1964;  43 367-374
  • 15 Mattar S E, Anselmo-Lima W T, Valera F CP et al. Skeletal and occlusal characteristics in mouth-breathing preschool children.  J Clin Pediatr Dent. 2004;  28 315-318
  • 16 Grabowski R, Stahl F. Open mouth posture in children – frequency and effects.  Inf Orth Kieferorthop. 2008;  40 101-109
  • 17 Hale S T, Kellum G D, Richardson J F et al. Oral motor control, posturing and myofunctional variables in 8-year-olds.  J Speech Hearing Res. 1992;  35 63-82
  • 18 Nanda R, Khan I, Anand R. Effect of oral habits on the occlusion in preschool children.  ASDC J Dent Child. 1972;  39 449-452
  • 19 Stahl de Castrillon F, Grabowski R. Orthodontic findings in the deciduous and early mixed dentition – interferences for a preventive strategy.  J Orofac Orthop. 2003;  64 401-416
  • 20 Carvalho J C, Vinker F, Declerck D. Malocclusion, dental injuries and dental anomalies in the primary dentition.  Int Paediatr Dent. 1998;  8 137-141
  • 21 Wadsworth S D, Maul C A, Stevens E J. The prevalence of orofacial myofunctional disorders among children identified with speech und language disorders in grades Kindergarten through six.  Int J Orofacial Myologie. 1998;  24 1-9
  • 22 Fischer-Voosholz M, Splenthof U. Orofaziale Muskelfunktionsstörungen. Klinik – Diagnostik – Ganzheitliche Therapie.. In: Thiel M M, Hrsg Praxiswissen Logopädie.. Stuttgart: Springer; 2002. 4-11 15-19 21-24
  • 23 Modeer T, Odenrick L, Lindner A. Sucking habits and their relation to posterior crossbite in 4-year-old children.  Scand J Dent Res. 1982;  90 323-328
  • 24 Garetto A L. Orofacial myofunctional disorders related to malocclusion.  Int J Orofacial Myology. 2001;  27 44-54
  • 25 Zardetto C G, Rodrigues C, Stefani F M. Effect of different pacifiers on the primary dentition and oral myofunctional structures of preschool children.  Pediatr Dent. 2002;  24 552-560
  • 26 Grabowski R, Hinz R. Die kieferorthopädische Prävention und interzeptive Behandlung.. In: Grabowski R, Hinz R, Stahl de Castrillon F, Hrsg Das kieferorthopädische Risikokind.. Herne: Zahnärztlicher Fachverlag; 2009: 92-112
  • 27 Stahl de Castrillon F, Seemann J, Kundt G et al. Orofaziale Dysfunktionen und ihre Auswirkungen auf Platzverhältnisse im Milch- und Wechselgebiss.  Orofac Orthop. 2011;  72 21-32

Prof. Dr. Franka Stahl de Castrillon

Poliklinik für Kieferorthopädie
an der Klinik und den Polikliniken
für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde „Hans Moral”

Strempelstr. 13

18057 Rostock

Phone: 0381/4946558

Fax: 0381/4946652

Email: Franka.Castrillon@uni-rostock.de