Gesundheitswesen 2010; 72(3): 123-124
DOI: 10.1055/s-0030-1247581
Gasteditorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Solidarität der Profession[*]

B.-P. Robra
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 March 2010 (online)

Wenn eine medizinische Fachgesellschaft „Solidaritäten” in den Mittelpunkt ihrer Jahrestagung stellt, liegt die Frage nach Zustand und Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung nahe. Demografie, Finanzierungsprobleme und sogar der medizinische Fortschritt gefährden ihre Funktion und verlangen proaktives, gestaltendes Handeln der Politik, aber auch der Ärzteschaft.

Technisch ist die gesetzliche Krankenversicherung ein versicherungsmathematisch zu kalkulierender Risikopool. Es gilt das eiserne Gesetz der Konnexität von Beitragsaufkommen und Leistungsniveau. Sie ist auch ein Sozialwerk. Erste Aufgabe der sozialen Krankenversicherung ist die Mitwirkung an einer sozialen Sicherung in Würde und Gerechtigkeit. Lohnersatz im Krankheitsfall ist historisch die erste Solidarleistung, nicht die ärztliche Sachleistung.

Wiederholt hat das Bundesverfassungsgericht die Sicherung der Funktionalität und der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als Gemeinwohlaufgabe von hoher Bedeutung definiert, der sich der Gesetzgeber nicht entziehen dürfe[1]. Zur Sicherung einer nachhaltigen Krankenversorgung, eines Systemziels, sind daher weitgehende Eingriffe gerechtfertigt – wie die Regulierung der Berufsausübung, die Eingrenzung des Leistungskatalogs, Qualitätsforderungen und Preiskontrollen. Praktisch allen Interessengruppen im

Gesundheitswesen, auch den Ärzten, hat das Bundesverfassungsgericht schon Einschränkungen ihrer Partikularinteressen aufgegeben, d. h. Solidarität zu üben, damit die GKV funktionsfähig bleibt.

Im Sozialwerk GKV herrscht Knappheit. Mit einem obligatorischen Solidarbeitrag von 6 Stunden pro Woche (das sind 15% einer 40-Stundenwoche) sehen Bürger und Politik anscheinend die Grenze des Zumutbaren als erreicht an. Wichtiger noch, Knappheit folgt aus den Opportunitätskosten jeder Versorgung selbst: Jede Minute und jeder Euro für die Versorgung von Patient A fehlen für die Versorgung von Patient B. Dieses innere Allokationsdilemma lässt sich durch Steuerzuschüsse und Beitragserhöhungen mindern, aber nicht beseitigen. Schon gar nicht, wenn zusätzliches Geld in die Vergütung der Leistungserbringer fließt statt in zusätzliche Leistungen, so notwendig auskömmliche Honorare sind.

Wem gehört in diesem Sozialwerk die Solidarität der Profession? Ich zitiere den Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer und gute Kollegen: „Wenn der Gesetzgeber sich gezwungen sieht, die Mittel für das Gesundheitswesen zu begrenzen, so können sich die Ärzte allenfalls in einen solchen gesetzlich definierten Rahmen fügen, akzeptieren können sie ihn nicht” ([Fuchs et al. 2009]). Niemand braucht zu betonen, dass das Gesetz auch für Ärzte gilt. Die zitierte Aussage ist defensiv, das vorsorgliche Abwehren eines Schwarzen Peters, eine „Pontius-Pilatus-Position”[2]. Aber wenn die ärztliche Profession auf diese Weise die Kontrolle über ihre Leistungsstandards, d. h. ihre Autonomie, weitergibt – ist das nicht eine Deprofessionalisierungs-Strategie, die man aus der Bundesärztekammer am allerwenigsten erwarten sollte?

Auf der Individualebene der Versorgung sind Ärzte die zentralen Allokationsagenten medizinischer Leistungen. Mit dem Vertrauen ihrer Patienten und dem der ganzen Bevölkerung entscheiden sie über den Einsatz der Solidarmittel – in rechtlichen Grenzen und mit unmittelbarer Wirkung gegenüber der Solidargemeinschaft. Aus dieser Stellung beziehen sie einen wesentlichen Teil ihrer Reputation und ihrer Berufszufriedenheit. Auch auf der Mesoebene des Gesundheitswesens wirken Ärzte verantwortlich an der Systemgestaltung mit, z. B. in den KVen und Krankenhausplanungsausschüssen, aber auch im Leitlinienprogramm des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (einer gemeinsamen Einrichtung von BÄK und KBV). Leitlinien sind auch Allokationsempfehlungen, insbesondere Nationale Versorgungsleitlinien der verfassten Ärzteschaft und der medizinischen Fachgesellschaften.

Wer Entscheidungen des Gesetzgebers nicht akzeptieren kann, muss auf der gesellschaftlichen Makroebene bessere Vorschläge machen und helfen, sie politisch durchzusetzen. Programmatisch steht seit fast 100 Jahren im Paragraphen 1 der ärztlichen Berufsordnung: „Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung.” Zumindest die zweite Art des Dienens beinhaltet einen Beratungs- und Advokaturprozess für Gesundheit und Krankenversorgung – und das nicht nur in Zeiten knapper Finanzierung ([Morreim 1991]). Der uneigennützige Rat der Ärzteschaft im Hinblick auf die politische Gestaltung einer wirksamen und notwendig auch einer wirtschaftlichen medizinischen Versorgung ist Loyalitätspflicht und Bringschuld der Profession – im Interesse der nachhaltigen gesellschaftlichen Verträglichkeit der Medizin und im Interesse ihrer Autonomie.

Der Spagat zwischen der Sorge für den einzelnen Patienten und der Sorge um die Funktionsfähigkeit des Versorgungssystems muss auch intraprofessionell ausgehalten werden ([Kliemt 2008]). Er ist schon heute institutionalisiert in einer Arbeitsteilung innerhalb der Ärzteschaft: Wir haben Individualmediziner und Spezialisten für Analysen, Entscheidungen, Erprobungen und Evaluationen auf den Allokationsebenen oberhalb der Individualmedizin. Dafür stehen Ärztinnen und Ärzte des MDK zusammen mit Public Health-Professionals unterschiedlicher Grundausbildungen. Je fundierter die Argumente und je dialogbereiter der Diskurs dieser fachkompetenten Sachwalter, desto konsensfähiger sollten die Ergebnisse innerärztlich und im politischen Prozess sein.

3 Überarbeitete Fassung der Eröffnungsadresse der 45. DGSMP-Jahrestagung „Solidaritäten im Wandel”, Hamburg, 23.09.2009

Literatur

  • 1 Morreim EH. Gaming the system – dodging the rules, ruling the dodgers.  Arch Intern Med. 1991;  151 443-447
  • 2 Fuchs C, Nagel E, Raspe H. Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung – was ist gemeint?.  Dtsch Ärztebl. 2009;  106 A554-A557
  • 3 Kliemt H. Wertewandel in der Medizin.  Arzt und Krankenhaus. 2008;  81 372-375

3 Überarbeitete Fassung der Eröffnungsadresse der 45. DGSMP-Jahrestagung „Solidaritäten im Wandel”, Hamburg, 23.09.2009

1 1 BvR 35/82 vom 31.10.1984, 1 BvR 2260/97 vom 12.07.2000, 1 BvR 866/07 vom 15.05.2007, 1 BvR 1778/05 vom 28.02.2008

2 Matthäus. 27, 24

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. B.-P. Robra

Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie

Otto-von-Guericke-Universität

Magdeburg

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Email: Bernt-Peter.Robra@medizin.uni-magdeburg.de

    >