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DOI: 10.1055/s-0029-1245986
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Qualitätsindikatoren aus Routinedaten
Quality Indicators out of Routine DataPublication History
Publication Date:
04 April 2011 (online)
Der Begriff Routinedaten wird im Rahmen einer nachgelagerten Nutzung von Daten aus der Versorgung verwendet. Für diese Zweitnutzung müssen die Daten strukturiert und standardisiert vorliegen, also als definierte Merkmale (z. B. Geschlecht) mit vorgegebenen Wertebereichen (z. B. männlich/weiblich). Zusätzlich ist eine vollzählige und vollständige Verfügbarkeit in elektronischer Form zu fordern. Derzeit bestimmen vor allem Finanzierungsregelungen den Merkmalsumfang der Routinedaten. So wird international auch von „administrativen” Daten gesprochen. Diese Interpretation von Routinedaten lässt sich in Deutschland auf die mit der Bundespflegesatzverordnung von 1985 eingeführte Diagnosestatistik mit der ICD-9 zurückverfolgen [1]. Bereits deutlich früher, 1969, wurde aus klinischer Sicht das Potenzial von Routinedaten mit Angaben zu Erkrankungen und diagnostischen wie therapeutischen Maßnahmen erkannt [2]. Thurmayr spricht 1969 in Bezug auf die elektronische Auswertung von Krankengeschichten von einer „Qualitätskontrolle, bei der ein Überschreiten der gewählten Normalbereiche als Alarmsignal zu werten ist” oder von der Auflistung von „Häufigkeiten der wichtigsten Daten ... verbunden mit der jeweiligen Klinikletalität”. Damit ist der Ausgangspunkt für den Einsatz von Qualitätsindikatoren aus Routinedaten beschrieben.
40 Jahre später haben sich Qualitätsindikatoren aus Routinedaten etabliert. Eine aktuelle Übersicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft listet 13 einschlägige Projekte und Internetportale auf [3]. Diese Liste zeigt, dass sich der Anwendungsbereich von Qualitätsindikatoren weit über die noch 2005 von der Fachgesellschaft in den Mittelpunkt gestellte Unterstützung des internen Qualitätsmanagements [4] hinaus entwickelt hat. Qualitätsindikatoren aus Routinedaten sollen Zuweiser und Patienten bei der Wahl des geeigneten Krankenhauses sowie Krankenkassen bei der Vertragsgestaltung mit Leistungserbringern unterstützen, in der Krankenhausplanung eingesetzt werden oder die Vergütung beeinflussen. Mit diesen ambitionierten Zielen hat die methodische Forschung zu Qualitätsindikatoren im Allgemeinen und zu Qualitätsindikatoren mit Routinedaten im Besonderen allerdings nicht Schritt gehalten. Kaum eines der in [3] aufgelisteten Verfahren kann über die Güte der vorgeschlagenen Kennzahlen berichten. Kein Verfahren nutzt wissenschaftlich belegte Methoden zur Einbindung von Qualitätsindikatoren in ein umfassendes Qualitätsmanagement oder in andere Nutzungsszenarien.
Hier setzen die 3 in diesem Schwerpunktheft zusammengefassten Beiträge ein, indem sie verschiedene Fragestellungen zu Qualitätsindikatoren aus Routinedaten wissenschaftlich bearbeiten. Saskia Drösler stellt in ihrem Beitrag die internationale Harmonisierung von Indikatoren zur Patientensicherheit in den Mittelpunkt. Die zugrunde liegenden Patient Safety Indicators (PSI) der Agency for Healthcare Research and Quality können als ein vorbildlich transparentes Indikatorenset gelten. Nicht nur, dass alle relevanten Informationen zu den PSI öffentlich verfügbar sind. Zu jedem Indikator werden zusätzlich wichtige Gütemaße bereitgestellt, die dem Nutzer eine eigene Einschätzung von deren Zuverlässigkeit und Richtigkeit ermöglichen. Bei näherer Betrachtung der Gütemaße wird dann deutlich, wie groß doch der Abstand zwischen einem auffälligen Indikator und einem tatsächlich vorliegenden Qualitätsproblem noch ist. Der Anteil der Unterschiede zwischen Krankenhäusern, der auf Qualitätsaspekte zurückzuführen ist, ist auch bei den PSI begrenzt. Ähnliches zeigt sich in der Arbeit von Saskia Drösler im transnationalen Vergleich. Wenn nicht eine Angleichung, so doch eine Adjustierung für unterschiedliche Dokumentationsstrategien und -kulturen ist vor einem „Benchmarking” verschiedener Länder über Indikatoren der Patientensicherheit zu fordern. Dies kann auch ein Ansatz für den Vergleich von Krankenhäusern sein. Als weiteren wichtigen Aspekt belegt diese Arbeit die Einbindung von Wissenschaftlern aus Deutschland in internationale Projekte. Es ist außerordentlich zu begrüßen, dass entsprechender Sachverstand inzwischen nicht nur in Deutschland vorhanden ist, sondern auch internationale Anerkennung findet.
„Qualitätsindikatoren für Kirchliche Krankenhäuser” (QKK) wird als einschlägiges Projekt von Stausberg et al. vorgestellt und über eine Evaluation von existierenden Indikatorensets berichtet. Neben den fachlichen Ergebnissen zeigt diese Arbeit auch die Bedeutung, die Routinedaten inzwischen für die Versorgungsforschung gewonnen haben. Mit Routinedaten erschließt sich ein nahezu unerschöpflicher Zugang zu allen Sektoren. Die Hürde der Datengewinnung wird für die Versorgungsforschung daher zukünftig eine geringere Rolle spielen. Hingegen gewinnt die Festlegung einer relevanten Fragestellung an Bedeutung, für die ähnlich wie beim Health Technology Assessment formale Priorisierungsverfahren denkbar sind. Die Arbeit von Stausberg et al. ergänzt das Management von Qualitätsindikatoren um einen empirischen Ansatz. Die Identifikation von geeigneten Kennzahlen wird allgemein als individuelle Leistung von Experten betrachtet. Für deren Prüfung werden vielfältige Kriterien vorgeschlagen und in Verfahren wie QUALIFY [5] zusammengefasst. Die Bewertung der Kennzahlen erfolgt dabei meistens einem qualitativen Ansatz. Bei QKK wurde nun eine quantitative Überprüfung der Eignung etablierter Indikatoren für eine Gruppe von Krankenhäusern durchgeführt. Es ist zu hoffen, dass dieser Ansatz Eingang in das Methodeninventar zu Qualitätsindikatoren findet.
Interventionen zur Qualitätsmessung und Qualitätslenkung in Ausschnitten der Versorgung sind mit Unsicherheiten hinsichtlich unerwünschter Effekte in nicht betrachteten Bereichen verbunden. Angesichts begrenzter Ressourcen ist diese Unsicherheit durchaus nachzuvollziehen, muss doch häufig Mehraufwand in interessierenden Handlungsfeldern ohne Gegenfinanzierung kompensiert werden. Qualität kostet: Eine Verbesserung der Behandlungsqualität in einem Leistungsbereich könnte aufgrund der Umschichtung von Ressourcen zu einer Verschlechterung der Behandlungsqualität in einem anderen Leistungsbereich führen. Zur Abschätzung entsprechender Effekte sind Globalmaße sinnvoll, wie sie Bobrowski et al. mit der Gesamtsterblichkeit im Krankenhaus untersuchen. Auch hier ist es äußerst erfreulich, dass eine Arbeitsgruppe aus Deutschland das Potenzial der hiesigen Routinedaten nutzt, um einen Beitrag zu einer international sehr emotional geführten Debatte um das standardisierte Sterblichkeitsverhältnis im Krankenhaus (z. B. in [6]) zu leisten. Es verwundert nicht, dass diese Studie Anlass zu einer kritischen Würdigung solcher Globalmaße gibt. Warum sollten Globalmaße besser zur Qualitätsbewertung geeignet sein als spezifische Kennzahlen?
Qualitätsindikatoren aus Routinedaten sind in der Öffentlichkeit angekommen. Ebenso wie bei den Kennzahlen der externen vergleichenden Qualitätssicherung in den strukturierten Qualitätsberichten nach § 137 Sozialgesetzbuch V haben Bürger, Patienten und Fachkreise einen Anspruch auf zuverlässige und richtige Informationen. Einen Beleg hierfür bleiben sowohl Qualitätsindikatoren aus Routinedaten als auch Qualitätsindikatoren aus zusätzlich erhobenen Daten – noch – schuldig. Es besteht daher großer Bedarf an entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten. Ich freue mich sehr, dass in diesem Sonderheft 3 Beiträge eines Symposiums der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. zusammengefasst sind, die sich mit wichtigen Aspekten von Qualitätsindikatoren auseinandersetzen. Die Leser lade ich sehr herzlich zu einem kritischen Diskurs über die Arbeiten und über Qualitätsindikatoren aus Routinedaten ein. Nur der kritische Diskurs wird die Nutzung von Qualitätsindikatoren auf eine auch wissenschaftlich gefestigte Basis stellen, die die derzeit hohe politische Aufmerksamkeit ergänzt.
Literatur
- 1 Mansky T, Scriba P C, Fassl H et al. Diagnose-Verschlüsselung: wie und wozu?. DMW. 1986; 111 1707-1708
- 2 Thurmayr R. Elektronische Auswertung von Krankengeschichten mit Datenverarbeitungsanlagen. Der Chirurg. 1969; 40 251-258
- 3 Emmerich van C, Metzinger B. Qualitätssicherung mit Routinedaten aus Sicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft. das Krankenhaus. 2010; 102 1177-1182
- 4 Sens B, Fischer B, Bastek A et al. Begriffe und Konzepte des Qualitätsmanagements – 3. Auflage. GMS Med Inform Biom Epidemiol. 2007; 3 Doc05
- 5 Reiter A, Fischer B, Kötting J et al. QUALIFY: Ein Instrument zur Bewertung von Qualitätsindikatoren. Z ärztl Fortbild Qual Gesundhwes. 2008; 101 683-688
- 6 Lilford R, Pronovost P. Using hospital mortality rates to judge hospital performance: a bad idea that just won’t go away. BMJ. 2010; 340 955-957
Prof. Dr. med. Jürgen Stausberg
Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE), Ludwig-Maximilians-Universität München
Marchioninistraße 15
81377 München
Email: juergen.stausberg@ibe.med.uni-muenchen.de