manuelletherapie 2010; 14(5): 193-194
DOI: 10.1055/s-0029-1245919
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K. Lüdtke1
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Publication Date:
10 January 2011 (online)

Montagmorgen, ein 23-jähriger Patient kommt zu seiner 1. Behandlung in eine physiotherapeutische Praxis. Die Diagnose lautet Lumbalgie, und tatsächlich berichtet der Patient über Beschwerden im unteren Rücken. Er führt die Beschwerden auf den neuen Arbeitsplatz zurück. Zudem meint er, er müsse sich bald eine neue Matratze kaufen, da er immer in den frühen Morgenstunden aufwache, weil seine Beschwerden so unangenehm werden, dass er keine bequeme Position mehr finden kann. Nach der morgendlichen Dusche dauert es noch eine ganze Weile, oft mehrere Stunden, bis sich der Rückenschmerz langsam beruhigt. Aufgrund der anspruchsvollen neuen Tätigkeit ist er im Moment ziemlich ausgelaugt, kann es sich aber nicht erlauben zu fehlen.

Muster erkannt? Der Patient beschreibt klassische Beschwerden eines M. Bechterew! Der überweisende Arzt hatte leider nur wenige Minuten für die Untersuchung des jungen Patienten, und da dieser so überzeugt von den Anforderungen der neuen Arbeit berichtet hatte, waren die Warnsignale (Red Flags) nicht sofort offensichtlich. In der physiotherapeutischen Behandlung ist der Zeitdruck mit z. B. 6-mal 20 Minuten zwar hoch, aber im Vergleich zur Kontaktzeit mit dem Arzt ist er fast luxuriös. Eventuell war der Patient in Anwesenheit des Arztes und dessen offensichtlich vollem Wartezimmers auch eingeschüchtert und hat nicht wahrheitsgetreu alle Symptome berichtet, die ihm in der letzten Zeit aufgefallen waren?

Eine weitere Situation: Eine Patientin, 52 Jahre, ist mit Nackenschmerzen in physiotherapeutischer Behandlung. Seit einigen Wochen klagt sie außerdem über lumbale Beschwerden und bittet ihren Therapeuten, sich diese einmal anzusehen. Hand aufs Herz: Wer würde das nicht tun? Eine klassische Erstkontaktsituation!

Diese beiden Beispiele sind nicht exotisch, sondern typische Situationen aus dem therapeutischen Alltag einer physiotherapeutischen Praxis. Sie verdeutlichen, dass unabhängig von politischen Entscheidungen, dem „Heilpraktiker beschränkt auf den Bereich der Physiotherapie” und anderen Sondersituationen, eine Form des Erstkontakts fast täglich in unserem Arbeitsalltag vorkommt. Physiotherapeuten müssen Entscheidungen fällen, auf die sie in ihrer Berufsausbildung – in der Regel – nicht vorbereitet werden. Oft beruht die Entscheidung, einen Patienten zum behandelnden Arzt zurückzuschicken auf einem „komischen Gefühl” und nicht auf dem Erkennen klarer Muster und damit assoziierten Red Flags. Aber wie kommuniziert man ein „komisches Gefühl” am Telefon mit dem behandelnden Arzt, der eigentlich gar keine Zeit hat und ungeduldig auf „schlagende Argumente” für eine weiterführende Diagnostik wartet?

Hier bedarf es einer gemeinsamen Sprache, einer Schematik, die von allen Berufsgruppen verstanden wird. Die Red Flags sind so eine gemeinsame Sprache, allerdings nur für lumbale und zervikale Beschwerden klar definiert. Aber auch grobe Muster, z. B. für Tumorerkrankungen, Infektionen bzw. entzündliche Erkrankungen, viszerale Symptome, Frakturen oder systemische Erkrankungen sind in der Kommunikation zwischen den Berufsgruppen hilfreich.

Physiotherapeuten sollten demnach nicht die ärztliche Diagnostik ersetzen, dies ist auch gar nicht möglich, da der diagnostische Prozess in vielen Situationen z. B. Bildgebung und dessen Interpretation sowie Laboruntersuchungen erfordert. Dabei handelt es sich um Bereiche, für die eine andere Expertise und auch technisches Gerät notwendig ist. Vielmehr müssen Physiotherapeuten in die Lage versetzt werden, eine Entscheidung zu fällen, (1) ob der Patient tatsächlich physiotherapeutisch behandelbar ist, (2) behandelt werden kann, aber zusätzlich weiter diagnostiziert werden sollte oder (3) umgehend ohne Behandlung zum Arzt zurückgeschickt werden sollte. Gerade diese Unterscheidung zwischen „physiotherapeutischem Screening” und „Differenzialdiagnose” trennt die beiden Berufsgruppen und legt klar die Grenzen unserer Kapazität als Physiotherapeuten fest. Es geht also nicht darum, eine Rivalität zwischen Physiotherapeuten und Medizinern zu schüren, sondern ganz im Gegenteil, eine effiziente Zusammenarbeit im Sinne des Patienten zu fördern, der auf diese Weise schnell zu einer Diagnose und wirkungsvollen Therapie geleitet wird.

Ein strukturiertes, leicht erlernbares und umfassendes Konzept für physiotherapeutisches Screening wurde von William Boissonnault aus den USA zusammengetragen und in seinen Büchern Primary Care for the Physical Therapist: Examination and Triage [2] und Examination in Physical Therapy Practice: Screening for Medical Disease [1]. Weiterhin wirkte er als Koautor an dem Buch von Goodman und Fuller Pathology: Implications for the Physical Therapist [3] mit. Diese Bücher sprechen auch ein weiteres Thema an: Wie handelt man als Physiotherapeut, wenn man bei einem Patienten, den man in Bauchlage behandelt, eine Hautveränderung auf dem Rücken entdeckt, die ihm eventuell nicht selbst aufgefallen wäre? Oder anders gefragt: Wären wir als Patienten nicht sehr dankbar, wenn ein Melanom bei uns frühzeitig diagnostiziert würde? In Deutschland, wo Klagen im Gesundheitswesen noch selten vorkommen, ist dies eher eine ethische Frage, aber eine, die Leben retten kann!

Solange es in Deutschland keinen „offiziellen” Erstkontakt für Physiotherapeuten gibt, sind möglicherweise viele der oben genannten Entscheidungen eher ethischer Art, denn rein rechtlich können wir uns hinter der Verordnung „verstecken”. Es ist die Aufgabe des Arztes, schwerwiegende Pathologien zu diagnostizieren. Aber müssen wir uns verstecken? Ist es nicht an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen? Sollten wir nicht auch Entscheidungen fällen und für diese „geradestehen”? Sind wir bereit für den Erstkontakt?

Kurse von William Boissonnault in Sienna: www.idioscuri.com, in Deutschland von Kerstin Lüdtke und Lucia Grauel: www.fobize.de.

Literatur

  • 1 Boissonnault W. Examination in Physical Therapy Practice: Screening for Medical Disease. Oxford: Churchill Livingstone; 1995 2nd ed
  • 2 Boissonnault W. Primary Care for the Physical Therapist: Examination and Triage. Philadelphia: Saunders; 2010 2nd ed
  • 3 Goodman C C, Fuller K S. Pathology: Implications for the Physical Therapist. Philadelphia: Saunders; 2002

Kerstin Lüdtke

MSc, Rückenzentrum am Michel Prävention GmbH

Ludwig-Erhard-Str. 18

20459 Hamburg

Email: kerstin_luedtke@hotmail.com

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