Suchttherapie 2009; 10(4): 150-151
DOI: 10.1055/s-0029-1243502
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Interview - Suchtverhalten ohne professionelle Hilfe überwinden

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Publication Date:
02 December 2009 (online)

 

Prof. Linda Sobell hielt auf dem 2. Deutschen Suchtkongress vom 16.–19. September 2009 in Köln einen der Hauptvorträge zu ihrem seit vielen Jahren zentralen Forschungsbereich "Self-Change: Findings and Implications for the Treatment of Addictive Behaviors". Am Rande des Kongresses entstand das folgende Interview. Die Fragen stellte Joachim Körkel.

? Professor Sobell: Sie haben seit 40 Jahren die Suchtforschung und –behandlung in den USA, aber auch in vielen anderen Ländern wesentlich mitgeprägt. Welche 5 von Ihnen verfolgten Themen und Forschungsergebnisse wurden besonders häufig rezipiert?

Am Anfang stand sicherlich der Befund im Rampenlicht, dass ein verhaltenstherapeutisches Programm zum kontrollierten Trinken den Alkoholkonsum nachhaltig senken kann – eben auch bei sogenannten "Gamma-Alkoholikern". Damit einhergehend hat sich die Einführung der Timeline Followback Methode als sehr fruchtbar erwiesen, um Konsumveränderungen in Konsummengen und -häufigkeiten abbilden zu können – jenseits der Dichotomie von "konsumiert – nicht konsumiert". Drittens hat das Modell der abgestuften Hilfe ("stepped care") nicht zuletzt in den USA Anklang gefunden, also der Gedanke, dass nicht jeder Konsument des gleichen Ausmaßes an Hilfe bedarf und, dass es je nach abzuklärendem Hilfebedarf stufenweise von "wenig" bis "viel" gehen kann. Viertens setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass ein Selbstausstieg aus der Sucht möglich ist und es dazu oftmals nur geringer Anstöße bedarf. Und 5. erscheint mir unser noch neuer Nachweis bedeutsam, dass das Motivational Interviewing auch in der Gruppenanwendung wirkt – und wie es wirkt.

? Lassen Sie uns das Thema des Selbstausstiegs aus der Sucht genauer betrachten. Sie beschäftigen sich seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der eigenständigen Überwindung von Suchtverhalten ("self-change from addictive behaviors") [1] . Das klingt weniger spektakulär als Ihr voriges Forschungsgebiet, das des kontrollierten Trinkens.

War es aber in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht. Das damalige Dogma in den USA besagte, dass ein Ausstieg aus der Sucht nur durch eine Behandlung, und diese nach dem Modell der Anonymen Alkoholiker möglich sei. Unsere Forschung war damals ein Tabubruch und nur außerhalb der USA durchführbar.

? Was ist unter "self-change from addictive behaviors“ zu verstehen?

Damit ist gemeint, dass Menschen ein Suchtverhalten ohne professionelle Hilfe überwinden – auch ohne Selbsthilfegruppenbesuche.

? Wie viele schaffen das?

Etwa drei Viertel aller Betroffenen. Ein Beispiel: Dawson et al. (2005)[2] konnten anhand einer Stichprobe von 4422 US-Amerikanern, die in der Vergangenheit mindestens ein Jahr lang gemäß DSM-IV alkoholabhängig gewesen waren, zeigen, dass 74 % ohne Behandlung und ohne Selbsthilfegruppe aus der Sucht "herausgewachsen" sind. 18 % haben zu einem risikoarmen Alkoholkonsum zurückgefunden. Beim Überwinden der Nikotinabhängigkeit – eine der schwersten Süchte – ist es ja weithin bekannt und akzeptiert, dass der Selbstausstieg der Normalfall und nicht die Ausnahme ist.

? Wie funktioniert das? Was ist entscheidend für "self-change"?

Der wichtigste Prozess bei eigenständigen Konsumänderungen ist die abwägende, bewertende Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten ("cognitive appraisal"). Beispielsweise wird bei vielen Problemtrinkern Änderungsbereitschaft mobilisiert, wenn man sie durch einen Zeitungsartikel anregt, ihr Trinkverhalten unter Zuhilfenahme eines einfachen Alkoholselbsttests (z.B. AUDIT)[3] zu überprüfen und gegebenenfalls in einer Entscheidungsmatrix aufzuschreiben, worin sie die guten und die eher ungünstigen Seiten ihres Alkoholkonsums sehen.

? Was kann praktisch getan werden, um möglichst viele Menschen mit Suchtproblemen zu solchen Änderungsprozessen anzuregen?

Eine ganz wichtige Rolle spielen dabei die Medien. Sie sollten die Botschaft verbreiten, dass Änderungen des Suchtverhaltens aus eigener Initiative und ohne Behandlung durchaus möglich sind. Daneben können positiv-ermutigende Einzelfallschilderungen, wie Menschen den Selbstausstieg aus der Sucht geschafft haben, sowie die bereits erwähnten Selbsttests sehr nützlich sein.

? Funktioniert "self-change" auch bei Menschen mit schweren Suchtproblemen?

Bei einigen. Allerdings ist bei Menschen mit chronifizierten Suchtproblemen häufig eine weitergehende Behandlung vonnöten. Der Antritt einer Behandlung kann aber wiederum durch die Aktivierung des Selbstveränderungspotentials gefördert werden. Auch hier ist also "self-change" sehr wichtig.

? Ich kenne Sie als exzellente Ausbilderin in Motivational Interviewing (MI). Sie wenden in der praktischen Arbeit in Ihrer Guided Self-Change Clinic MI auch in Gruppen an – ein Anwendungsfeld, in dem nach bisherigen Studien MI nicht sonderlich zu wirken scheint. Sie sind da anderer Auffassung?

Durchaus. In einer gerade abgeschlossenen Interventionsstudie, in der wir MI in der Einzel- und Gruppenanwendung verglichen haben, konnten wir zeigen, dass MI in Gruppen sehr wohl wirksam sein kann[4]. Das entspricht auch unserer jahrelangen klinischen Erfahrung.

? Auf was kommt es an, damit MI im Gruppenkontext wirkt?

Entscheidend ist es, als Gruppenleitung nicht MI abwechselnd bei einzelnen Gruppenmitgliedern anzuwenden ("Einzeltherapie in der Gruppe"), sondern die Gruppenmitglieder im Geiste des MI miteinander ins Gespräch zu bringen und sie in die Lage zu versetzen, sich untereinander mit Empathie zu begegnen, sich auf die gegenseitigen Fortschritte zu konzentrieren ("change talk") und diese zu würdigen – und auf diese Weise wiederum die Gruppenkohäsion zu erhöhen. In einem demnächst erscheinenden Buch stellen wir unser Vorgehen der Umsetzung von MI in Gruppen detailliert dar[5].

? Warum ist der Ansatz der Anonymen Alkoholiker (AA) in den USA weiterhin so populär, wo er doch derjenige ist, der durch randomisierte Studien praktisch nicht abgesichert ist?

Erstens war der AA-Ansatz bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts der einzige, den es in nennenswerter Verbreitung überhaupt gab. Er ist im allgemeinen Denken in den USA weiterhin sehr populär. Eine solche Historie trotzt Veränderungen.Zweitens werden der AA-Ansatz und die dazugehörigen Behandlungsprogramme von vielen politischen Entscheidungsträgern gestützt. Und 3. lassen sich Studien über die (Un-)Wirksamkeit von AA nur schwer durchführen – und damit Wirksamkeitszweifel nicht empirisch belegen.

Gleichwohl: Man sollte bedenken, dass AA einen wichtigen und wertvollen Bestandteil der US-amerikanischen Behandlungspalette darstellt. Das Bedauerliche: Viele AA-Zugehörige können Behandlungsansätze, die von anderen Menschenbildern, Zielen und Methoden getragen werden, nur schwer akzeptieren.

? Was sind aus Ihrer Sicht die größten Mythen im herkömmlichen Denken über Sucht?

Erstens die Vorstellung, dass ein Suchtkranker, der nach einer Abstinenzphase erneut "sein" Suchtmittel konsumiert, unweigerlich, quasi naturgesetzartig, "abstürzen" müsse (z.B. "first drink then drunk"). Und zweitens die bereits erwähnte Überzeugung, dass jeder Mensch mit einem Suchtproblem zur Veränderung einer Behandlung bedürfte.

? Welche 3 Fachbücher halten Sie für die wichtigsten, die in den letzten 40 Jahren im Suchtbereich erschienen sind?

Calahan D. (1970). Problem drinkers: A national survey. San Francisco: Jossey-Bass, 1970. Miller WR, Rollnick S. Motivational Interviewing. Preparing people for change (2nd ed.). New York: Guilford Press, 2002. Marlatt GA, Donovan DM (Eds.) Relapse prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors (2nd ed.). New York: Guilford Press, 2007.

? Mit welchem Thema werden Sie sich in Zukunft am meisten beschäftigen?

Für den Rest meines Forscherlebens wird es beim Thema der Überwindung von Suchtproblemen ohne professionelle Hilfe bleiben – mit dem Schwerpunkt, die Prozesse, die den Selbstausstieg ermöglichen, genauer zu verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

01 Buchpublikation mit Überblick über alle Forschungsergebnisse und praktischen Implikationen von "self-change": Klingemann H, Sobell L (Eds.). Promoting self-change from addictive behaviors. Practical implications for policy, prevention, and treatment. New York: Springer Science and Business Media 2007.

02 Dawson DA, Grant BF, Stinson FS et al. Recovery from DSM-IV alcohol dependence: United States, 2001-2002. Addiction 2005; 100: 281-292.

03 Der Alcohol Use Identification Disorders Test der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist im Internet auf vielen Webseiten kostenlos zugänglich.

04 Sobell LC, Sobell MB, Agrawal S. Randomized Controlled Trial of a Cognitive–Behavioral Motivational Intervention in a group versus individual format for substance use disorders. Psychology of Addictive Behaviors (in press).

05 Sobell LC, Sobell MB. Conducting group therapy using a Guided Self-Change Cognitive-Behavioral Motivational Intervention. New York: Guilford Press (in press).

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