PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(1): 93-95
DOI: 10.1055/s-0029-1223494
Résumé

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Oberflächenströmung oder / und Unterströmung?

Wolfgang  Senf, Jochen  Schweitzer, Michael  Broda
Further Information

Publication History

Publication Date:
08 March 2010 (online)

Ambivalenz gegen wissenschaftliche Neugier

Jedes seriöse Therapieverfahren unterliegt der Veränderung durch wissenschaftlichen Fortschritt. Das gilt uneingeschränkt auch für die Psychotherapie. Lauscht man aufmerksam den Diskussionen zur Veränderung durch wissenschaftlichen Fortschritt in der psychotherapeutischen Zunft, wird Ambivalenz erkennbar. Maria Borcsa hat das einleitend in der Diskussion zum Stand der Integration in der Psychotherapie((Standpunkte) mit dem Hinweis auf eine Oberflächenströmung mit Schulenreinheit und einer Unterströmung mit pragmatischem Methodenmix auf den Punkt gebracht. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der Bewertung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Psychotherapie in unserem Gesundheitssystem, die, was zu häufig übersehen wird, mit der dazugehörigen Finanzierungsgrundlage weltweit einmalig sind: Die Polarisierungen reichen von dem Argument einerseits, dass nur die strenge Richtlinie Garantie sei für wissenschaftlich seriöse Psychotherapie, hin zum Vorwurf andererseits, dass mit diesen strengen Richtlinien jeder Fortschritt verhindert werde.

In dieser Ambivalenz wird schlicht übersehen oder verleugnet, dass die Psychotherapie in dem vergangenen Jahrhundert (auch bei uns) eine eindrucksvolle wissenschaftliche Entwicklung genommen hat. Dazu haben sowohl die Oberflächenströmung der „Bewahrung” wie die Unterströmung mit „mutigen Experimenten” beigetragen.

Der Beitrag von Wolfgang Lutz und André Bittermann belegt nicht nur diese Tatsache, sondern auch die Wissenschaftlichkeit integrativer Ansätze. Wenn sie eingangs Goldfried zitieren, dann zeigen sie uns damit auf, dass diese ungelöste Ambivalenz zwischen Ober- und Unterströmung vielleicht vor allem eine deutsche Attitüde ist im Spagat zwischen den Polen Schulenreinheit versus pragmatischer Methodenmix, so als würde es nichts dazwischen geben.

Übrigens: Wer von unseren Lesern weiß, dass sich mit dem Namen Goldfried die SEPI verbindet? Und wer kennt die SEPI, die altwürdige Society for the Exploration of Psychotherapy Integration, eine interdisziplinäre Organisation für professionelle Psychotherapeuten, die an einer Psychotherapie interessiert sind, die nicht durch eine einzige Orientierung begrenzt ist (www.cyberpsych.org/sepi). Dort finden sich ehrenhafte Namen der internationalen Psychotherapieszene.

Doch auch bei uns gibt es mehr Unterströmung als es eigentlich offiziell erlaubt ist. So stellt Jürgen Kriz in seinem Beitrag wachsende gegenseitige Wahrnehmung, Achtung und Diskussionsbereitschaft zwischen den „Schulen” fest. Sein Hinweis auf die empirisch erwiesene Faktizität „integrativer” psychotherapeutischer Alltagspraxis legt die Auffassung nahe, dass die Unterströmung eines „learning from many masters” in der Alltagsrealität schon lange die vor allem auf den Funktionärsebenen hochgehaltene Oberflächenströmung überholt hat.

Mit ihrem Verweis auf die Entwicklungen in der stationären Psychotherapie erinnern Volker Köllner und Wolfgang Senf wieder einmal daran, dass Integration in der Psychotherapie seit den Bemühungen des Integrationspioniers Simmel auch bei uns schon fast ein Jahrhundert Realität ist, zum großen Nutzen für unsere PatienInnen.

Warum dann immer wieder diese Ambivalenz bei uns?

Ist sie, wie bei Alf Gerlach, von der Sorge getragen, „Identität” zu verlieren? Er reklamiert dabei innere Haltung exklusiv für die psychoanalytische Methode, was mit anderen Methoden nicht kompatibel sei. Mit Bezug auf das Grundanliegen jeder wissenschaftlich begründeten Psychotherapie, eben die therapeutische Beziehung, wäre ein „Schulen”-übergreifender Dialog über „innere Haltung” im Sinne von „ständiger Selbstreflexion innerpsychischer Vorgänge” wissenschaftlich interessant, dann aber ohne ideologische Ausgrenzungen und unter Einbezug empirisch-wissenschaftlicher Grundlagen zum Konzept „Gegenübertragung” im Rahmen der therapeutischen Beziehung.

Für Jochen Sturm nun wieder ist, seitdem der Therapieforscher Klaus Grawe mit dem „Denken in konventionellen Psychotherapieschulen” wissenschaftlich gründlich aufgeräumt hat, der Streit zwischen „Therapieschulen” zwar „anachronistisch”, gleichzeitig klagt er darüber, dass für die Wirksamkeit schulenübergreifender oder integrativer Behandlungskonzepte wissenschaftliche Daten fehlen würden.

Warum werden in unserem Land solche Daten nicht gesammelt? Stehen Oberflächen- und Unterströmung doch zu stark gegeneinander und schließen sich aus?

Die Lektüre des Beitrages von Franz Caspar bestätigt nicht nur die Anachronismus-Diagnose sondern auch diese Vermutung. Dieser Beitrag macht offensichtlich, dass es bei der Integrationsfrage zuerst einmal um ein neues Leitbild geht.

Und was ist gegen ein Leitbild für eine wissenschaftlich begründete psychotherapeutische Praxis einzuwenden, „in der alle bewährten therapeutischen Möglichkeiten genutzt werden, um im Einzelnen Fall das bestmögliche Behandlungsergebnis zu erzielen”? Dieses Leitbild grenzt ja nicht aus, aber ermahnt uns, zum besten Nutzen der uns anvertrauten Patienten alle Möglichkeiten auszuschöpfen, denn: „Verletzt wird das Leitbild immer dann, wenn eigentlich vorhandene Behandlungsmöglichkeiten, die sich empirisch bewährt haben, aufgrund der theoretischen Auffassungen des Therapeuten nicht genutzt werden. Die einzelnen Therapieformen erhalten die Einheit, welche die Grundlage ihrer Identität ausmacht, auf Kosten der Vielfalt. Die vielfältigen Möglichkeiten der Psychotherapie werden zulasten der behandelten Patienten nicht ausgeschöpft.” (Grawe 1999, zitiert im Beitrag von Franz Caspar)

Wenn wir in unserem Bild bleiben: Ist die Oberflächenströmung nur noch eine mehr oder weniger überspannte Hülle, die schon lange nicht mehr geeignet ist, die Unterströmungen zu bändigen?

    >