Suchttherapie 2008; 9(4): 150-160
DOI: 10.1055/s-0028-1102938
Schwerpunktthema

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was kann Ethik in der Suchtarbeit leisten?

What can be Achieved in Addiction Treatment by Ethics?S. Scharrer 1
  • 1Evangelische Fachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen
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Publication Date:
12 December 2008 (online)

Zusammenfassung

Anhand eines Falls aus der Suchtarbeit wird in analytischer Weise in die moderne Ethik eingeführt. Zunächst werden spontane Reaktionen auf einen Fall und deren mögliche Begründungen aufgezeigt. Dann werden die zentralen methodischen Schritte einer wissenschaftlich-ethischen Untersuchung entfaltet. Es werden Moral und Ethik sowie deskriptive von präskriptiven Sätzen unterschieden. Sodann wird der ,naturalistische Fehlschluss‘ erläutert und die beiden Hauptrichtungen der normativen Ethik erörtert, die deontologische und die teleologische Ethik. Die Überlegungen schließen mit der Entfaltung der Forderung der Universalisierung. Dabei werden auch als Beispiele inhaltliche Ansätze des utilitaristischen Menschenbildes, des Menschenbildes von I. Kant und des christlichen Menschenbildes erörtert. In den Schritten einer ethischen Entscheidungstheorie unter Risiko werden dann die verschiedenen Aspekte gebündelt. Ferner werden in einem systematischen Teil zentrale Probleme der aktuellen Suchtarbeit diskutiert. So wird das Verhältnis von Markt und Ethik in der Suchtarbeit problematisiert. Das Nichtschadensprinzip und das Problem der Selbstschädigung werden erörtert. Schließlich wird auf den Schutz der Menschen, die noch nicht oder nicht mehr ihre volle Autonomie wahrnehmen können, hingewiesen. Ziel der Überlegungen ist es, die Probleme in der Suchtarbeit in präziser Weise ethisch reflektieren zu können.

Abstract

Starting from a case description about the professional treatment of addiction, we will introduce step by step into modern ethics in an analytical way. First, spontaneous reactions to a case and its possible justifications will be described. Then the central methodical steps of a scientific ethical investigation will be unfolded in detail. Morals and ethics are differentiated, then descriptive and prescriptive sentences. Then the naturalistic fallacy and the two main directions of normative ethics, deontological and teleological ethics, will be explained. Finally the claim for universalizability will be unfolded. This includes the exemplary discussion of main subjects of moral concepts of man (the utilitarian as well as I. Kant's and the christian). The various aspects are focussed in the steps of an ethical theory of decision-making under risk. Moreover, central problems of current addiction treatment are discussed in a systematic part: the relationship between market and ethics in the addiction treatment; the principle of ‘nonmaleficience’ and the problem of ‘self-injury’. Finally, protection of people who are not yet or no longer able to fully exercise autonomy is explicitly noted. The aim of the considerations is to reflect the problems of professional addiction work ethically in a precise way.

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1 Vgl. grundlegend [1] [2] [3] [4].

2 Nur J. Habermas spricht von ,Wahrheitsfähigkeit‘ vgl. [5], später von wahrheitsanalogem Geltungsanspruch vgl. [6].

3 Zu dem Problem der sogenannten Wertfreiheit vgl. [7] [8].

4 Später werden wir ein zentrales zweites Element kennenlernen.

5 Vgl. unten [Abb. 3].

6 ‚Sein-Sollens-Fehlschluss’ nach Hume, ‚naturalistic fallacy’ nach Moore, in der Literatur oft beides mit ‚naturalistischer Fehlschluss’ bezeichnet.

7 Beachte allerdings Benthams Präzisierung: „Dies ist eine Kurzformulierung, an deren Stelle man ausführlich sagen müßte: Jenes Prinzip, das das größte Glück all derer festsetzt, deren Interesse als das richtige und angemessene, und zwar als das einzig richtige und angemessene und schlechthin wünschenswerte Ziel menschlichen Handelns in Frage steht”. In: [13].

8 Bei Vanberg [15] deskriptiv formuliert „Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens werden in dem gesehen, was Homans ,opportunity-taking behavior‘ nennt, im Streben des Menschen nach Verbesserung seinen eigenen Lage”.

9 Vgl. zu [16] auch [17].

10 Vgl. z. B. die Diskussion in der FAZ um die Äußerungen von J. Nida-Rümelin (Keine Verletzung der Menschenwürde, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 4. Januar 2001; 3).

11 Rn 28, 1958 in seinem Kommentar zum Artikel 1 des Grundgesetzes, vgl. Münch v. I. [19].

12 Dieses Kriterium wird in unserem Vorschlag präskriptiv (moralisch/sittlich) gefüllt.

13 Ich übernehme dabei die Methode der von mir entwickelten Wertetafel.

14 Etzioni ist der Hauptvertreter der vielfältig diskutierten Richtung des sogenannten Kommunitarismus.

15 Vgl. dazu [35] als wichtige umfangreiche Informationsgrundlage verschiedener Erfahrungen und Bewertungen.

16 Vgl. die Unterscheidung von D. Mieth [36] konkretes und abstraktes Individuum.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. S. Scharrer

Evangelische Fachhochschule Nürnberg

Bärenschanzstraße 4

90429 Nürnberg

Email: siegfried.scharrer@evfh-nuernberg.de