Neonatologie Scan 2024; 13(02): 89-90
DOI: 10.1055/a-2249-9771
Editorial

Die Abnabelungszeit im Lauf der Zeit

Axel Hübler
,
Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

auf den kommenden Seiten erwarten Sie wieder spannende aktuelle Beiträge zu klinischen Studien sowie Weiterbildungsartikel, für deren Erstellung wir allen Beteiligten sehr dankbar sind. Doch zunächst möchten wir mit Ihnen gemeinsam einen kurzen Blick zurück auf medizinhistorische Quellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur Frage der Abnabelungszeit werfen:

1886 schrieb Dr. N. Th. Miller, Hauptarzt des Moskauer Findelhauses, in seinem Artikel „Die Frühgeborenen und die Eigenthümlichkeiten ihrer Krankheiten“: „Wir wollen hier noch erwähnen, dass das spätere Abnabeln der Erhaltung des Frühgeborenen einen ausserordentlich wichtigen Dienst erweisen kann, da dann aus dem Mutterkuchen die natürliche physiologische Transfusion in den Körper des Neugeborenen fortdauert und der letztere auf diese Weise eine sehr beträchtliche Quantität Blut (die sogar ¼ seines ganzen Blutreichthums gleichkommen kann) und mit demselben auch eine grössere Menge Blutkörperchen und Hämoglobin erhalten kann, wodurch natürlich seine Lebensfähigkeiten bedeutend gehoben wird.“ [1].

Insgesamt 66 Seiten umfassen zwei Schriften „Neue Beiträge zur Hämatologie des Neugeborenen mit besonderer Rücksicht auf die Abnabelungszeit“ von Dr. Dr. Ernst Schiff, Kinderarzt in Nagy-Várad (Grossswardein), im Jahrbuch der Kinderheilkunde von 1892. Zur Probengewinnung wurde geschrieben: „Unmittelbar im Moment der Geburt liess ich die Nabenschnur durch die Hebamme comprimiren, nahm selber vermöge eines Nadelstiches aus einer grossen Zehe einen Tropfen Blut … Hierauf wurde die Nabelschnur freigelassen, damit das Blut aus der Placenta dem Neugeborenen zuströmen könne, und nach 10 Minuten liess ich die Unterbindung vollziehen. In dem Momente, als dies geschah, nahm ich einen zweiten Blutstropfen …“. Der seinerzeitige wissenschaftliche Diskurs schien nicht ganz frei von Eitelkeit und Kollegenschmäh gewesen zu sein: „Schücking, Zweifel, Hofmeier, Mayring und Ribemont glauben, dass die späte Abnabelung die Gewichtsverhältnisse der ersten Lebenstage begünstige, Proak, Anjrejew, Violet und Steinmann sind entgegengesetzter Meinung, während Meyer, Engel und Arémieff überhaupt jede Bedeutung derselben läugnen … In drei Fällen der späten Abnabelung, wo mittlerweile Icterus auftrat, entsprachen die hämatologischen Verhältnisse den hier erörterten gar nicht. Wenn ich mich in die Auseinandersetzung dieser Verhältnisse – die vielleicht mit Rücksicht auf die Pathogenie des Icterus neonatorum von Bedeutung wären – hier nicht einlasse, so geschieht dies nur aus dem Grunde, weil ich auch über dieses Gebiet arbeite und die diesbezüglichen Untersuchungsresultate gelegentlich selbstständig zu bearbeiten gedenke.“ Ernst Schiff fasst zusammen, „… wenn auch die durch die späte Abnabelung dem Kinde zugeführte Blutmenge schon im Laufe der allerersten Tage zur Ausscheidung gelangt, so kann doch die überschüssige Blutkörperchenmenge selbst insofern demselben zuträglich sein, als dieselbe in Anbetracht des gesteigerten Stoffverbrauches der ersten Lebenstage möglicherweise als Ersatzmaterial dienen kann.“ [2]

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  Gang der Blutkörperzahl während der ersten 14 Lebenstage graphisch dargestellt. (Anmerkung A.H.: Die Gruppeneinteilungen A–C der spät abgenabelten Fälle erfolgten aufgrund der unterschiedlichen Ausgangswerte.). Quelle: [2]

1914 schrieb Dr. August Ritter von Reuss, seinerzeit Leiter der Neugeborenen-Station der I. Universitätsfrauenklinik zu Wien, in seinem Buch „Die Krankheiten des Neugeborenen“: „Die Frage, ob ein asphyktisches Kind früh oder spät abgenabelt werden soll, erfährt eine verschiedene Beantwortung. Die Forderung einer späten Abnabelung wird dadurch motiviert, dass bei noch pulsierender Nabelschnur die Möglichkeit gegeben sei, dass dem Kind immerhin noch O-reiches Plazentarblut zugeführt werde, während von anderer Seite das späte Abnabeln als völlig nutzlos bezeichnet wird.“ [3] und an anderer Stelle „Über den passenden Zeitpunkt der Abnabelung wurde früher viel debattiert. Es hat sich jedoch herausgestellt, daß das bei später Abnabelung noch überströmende sog. Reserveblut für das Kind kaum von wesentlicher Bedeutung ist (Runge). Nach Czerny-Keller finden wir nur wenig glaubwürdige Angaben, die dafür sprechen, dass der Zeitpunkt der Abnabelung einen bestimmten gleichbleibenden Einfluss auf Ernährung und Stoffwechsel oder überhaupt auf das Gedeihen des Neugeborenen hat.“ [4].

Die Diskussion um den Zeitpunkt der Abnabelung (und das Ausstreichen der Nabelschnur) endete jedoch nicht vor mehr als einhundert Jahren mit Dr. August Ritter von Reussʼ Einschätzung, wie Sie neben weiteren spannenden Beiträgen auf den kommenden Seiten erfahren können.

Ihre Herausgeber
PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg



Publication History

Article published online:
17 May 2024

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  • Literatur

  • 1 Millner NTh. Die Frühgeborenen und die Eigenthümlichkeiten ihrer Krankheiten. In: Jahrbuch der Kinderheilkunde. XXV. Band. Leipzig: Druck und Verlag von B.G. Teubner; 1886: 179-194
  • 2 Schiff E. „Neue Beiträge zur Hämatologie des Neugeborenen mit besonderer Rücksicht auf die Abnabelungszeit“. In: Jahrbuch der Kinderheilkunde. XXXIV. Band. Leipzig: Druck und Verlag von B.G. Teubner; 1892. 4. Heft: 159–201 und 459–481
  • 3 von Reuss A. Nabelpflege. In: Die Krankheiten des Neugeborenen. Berlin: Verlag von Julius Springer; 1914: 254
  • 4 von Reuss A. Diagnose und klinische Symptome der Asphyxie. In: Die Krankheiten des Neugeborenen. Berlin: Verlag von Julius Springer; 1914: 375