Psychiatr Prax 2024; 51(02): 66-69
DOI: 10.1055/a-2206-4157
Debatte

Eine ambulante Behandlungsweisung wäre hilfreich für die Behandlung und Deliktprävention bei Menschen mit Psychosen – Kontra

Thomas Bock
,
Gwen Schulz
 

Die Strukturen sind das Problem, nicht die Patientinnen und Patienten: Hinsichtlich stationärer Zwangsunterbringung und -behandlung hat Deutschland schon jetzt eine im europäischen Vergleich relativ hohe Quote [1] – mit erheblichen regionalen Unterschieden zwischen 0,3 und 17% der aufgenommenen Patientinnen und Patienten [2]. Viele Analysen verweisen auf institutionelle Faktoren: „Institutionelle Bedingungen in den Kliniken haben erheblichen Einfluss auf den Einsatz von Zwangsmaßnahmen, z.T. vermutlich sogar stärker als der Krankheitszustand der Patienten“ [3].


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Anstatt die institutionellen Bedingungen zu hinterfragen, Benachteiligungen abzubauen und die regionalen Unterschiede auszugleichen, wird über „ambulante Weisungen“ nachgedacht – kein sofortiger Zwang, aber die Drohung damit: Wer nicht gehorsam ist, wird wieder eingewiesen. Begründet wird diese neue Machtverteilung doppelt – mit Patienten- und Opferschutz. Nach einigen dramatischen Vorfällen und entsprechenden Berichten soll die Psychiatrie aufrüsten. Eine wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von ambulanten Zwangsbehandlungen gibt es bisher nicht; sie reduzieren nicht stationäre Aufnahmen, Aufenthaltsdauer in Kliniken, Symptome, und verbessern nicht das soziale Funktionsniveau [4].

Neuroleptika: Weisungs-wert?

Was soll wem gewiesen werden? Überall schimmert durch: Patienten sollen Medikamente nehmen müssen – nicht nur stationär, wo das mit Richterentscheidung längst möglich ist. Was ist mit der allgegenwärtigen Ernüchterung bzgl. Neuroleptika: Sie wirken nicht bei allen (Non-Responder). Sie haben oft dramatische und für die Betroffenen qualvolle Nebenwirkungen. Sie führen, hoch dosiert und jahrelang eingenommen, häufig zu einem früheren Tod. Sie bedeuten für die meisten Betroffenen in den üblich hohen Dosierungen eine erhebliche Beeinträchtigung, werden oft als Bestrafung erlebt. Sie können die fehlende tragende Beziehung nicht ersetzen. Sehr oft sind in der Klinik bis zur Entlassung Dosierungen üblich, bei denen das spätere Absetzen vorprogrammiert ist. Es wird ärztlich nicht begleitet und führt häufig zum Drehtüreffekt.


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Wir fordern eine (politische) Weisung an die Psychiatrie

Das freie Spiel der Kräfte geht auf Kosten der Menschen, die am meisten auf Behandlung angewiesen sind. Der sog. Fachkräftemangel benachteiligt erst recht die Menschen mit komplexen Störungen bzw. Bedarfen. Die Politik ist gefordert. Bevor wir nicht alles umgesetzt haben, von dem wir wissen, dass es dem Aufbau von Beziehung gerade zu den „Schwierigen“ und der Reduktion von Zwang dient, darf weitere Hochrüstung keine Option sein. Weisung ja – aber für die (Kosten-) Träger der Versorgung:

  1. Kliniken mit regionaler Versorgungsverpflichtung werden angewiesen, die Notfallversorgung um multiprofessionelle ambulante Teams zu erweitern; deren Finanzierung wird vereinfacht, entbürokratisiert und verpflichtend.

  2. Die Finanzierung wird von der Belohnung belegter Betten (Pflegesätze) auf ein Globalbudget (wie in bisherigen Modellregionen und neuerdings vom Bundesministerium für Gesundheit empfohlen), mindestens aber auf ein persönliches Jahresbudget für wiederholt aufgenommene Patienten umgestellt. Die so mögliche integrierte sektorübergreifende Versorgung reduzierte den Anteil von Zwangsunterbringungen in Hamburg alleine schon von 34,8 auf 7,8% [5].

  3. Gegenseitige Ausschlusskriterien (z. B. zwischen psychotherapeutischen Praxen und psychiatrischen Institutsambulanzen) entfallen. Entsprechend den Leitlinien wird das Recht auf Psychotherapie umgesetzt. Viele Patientinnen und Patienten haben bisher keine Wahl: Medikation soll die Antwort auf alles sein.

  4. Kliniken mit Pflichtversorgung nach PsychKG/PsychKHG werden zu milieutherapeutischen Maßnahmen verpflichtet (SOTERIA-Elemente, Behandlungsvereinbarungen/Nachbesprechungen, Peer-Support). Die Dokumentation und systematische Reduktion von Zwangsmaßnahmen wird Pflicht.

  5. Die sozialpsychiatrischen Einrichtungen eines Sektors werden in eine verpflichtende Kooperation (Gemeindepsychiatrischer Verbund) einbezogen. Insbesondere für „Problempatientinnen“ wird eine gemeinsame Verantwortung etabliert [6].

  6. Das gilt auch für die wohnungslosen psychisch Kranken, die im Einzugsbereich eines Wohnangebots / ambulanten Trägers „Platte machen“. Das Prinzip „Housing first“, das in Kanada und Finnland vorbildlich wurde, wird flächendeckend umgesetzt [7].

  7. Ziel ist eine andere (psychotherapeutische) Haltung: Auch Menschen z. B. mit Psychosen haben eine Biographie und für ihr Geworden-sein gute Gründe; sie sind nie nur krank und haben damit ein grundsätzliches Recht auf Selbstbestimmung. Behandlung muss mit ihnen besprochen werden und darf nur in sorgfältig selbstkritisch zu überprüfenden und nachzubesprechenden Ausnahmefällen gegen ihren Willen durchgeführt werden.

Wir befürchten: Die Ausweitung der Möglichkeit von Zwang würde die anstehenden strukturellen Bemühungen torpedieren und sie unterlaufen; zugleich würden sie den vorsichtigen Fortschritten in Richtung Partizipation entgegenwirken, aufgebautes Vertrauen zerstören, Behandlungsängste massiv steigern und mögliche Verweigerung provozieren. Wer sich durch Zwang in seiner Selbstbestimmung bedroht sieht, wird Behandlung verweigern, um sein Eigensein zu schützen, und die Chance, die darin liegt, nicht nutzen. Schon bei stationären Zwangsmaßnahmen gib es eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was die Betroffenen sich als Alternative wünschen und was verwirklicht wird [8]. Überhaupt erscheinen stationäre Zwangsmaßnahmen als Ausdruck misslungener Kommunikation [9]. Dies gilt es aufzuarbeiten und nicht auszuweiten. Für eine solche Kehrtwende in der Versorgung brauchen wir einen breiten Diskurs, einen trialogischen Konsens und die Beteiligung der Politik [10].


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Autorinnen/Autoren

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Thomas Bock
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Gwen Schulz

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Dreßing H, Salize HJ. Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker in den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Psychiat Prax 2004; 31: 34-39
  • 2 Flammer E, Hirsch S, Thilo N, Steinert T. “Our Patients Are Different”: Predictors of Seclusion and Restraint in 31 Psychiatric Hospitals. Front Psychiatry 2022; 13: 791333
  • 3 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Stellungnahme zur Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen. Dt. Ärztebl 2013; 110: 1334-1338
  • 4 Kisely S, Hall K. An updated meta-analysis of randomized controlled evidence for the effectiveness of community treatment orders. Can J Psychiatry 2014; 59: 561-564
  • 5 Schöttle D, Schimmelmann BG, Karow A. et al. Effectiveness of integrated care including therapeutic assertive community treatment in severe schizophrenia spectrum and bipolar I disorders: the 24-month follow-up ACCESS II study. J Clin Psychiatry 2014; 75: 1371-1379
  • 6 Rosemann M. Engagierte Leistungserbringer übernehmen regionale Verantwortung: Qualitätssicherung im Gemeindepsychiatrischen Verbund. In: Aktion Psychisch Kranke (APK) (Hrsg). Kooperation und Verantwortung in der Gemeindepsychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2008: 84-93 https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/66428
  • 7 Hwang SW, Stergiopoulos V, O’Campo P. et al. Ending homelessness among people with mental illness: the At Home/Chez Soi randomized trial of a Housing First intervention in Toronto. BMC Public Health 2012; 12: 787
  • 8 Heumann K, Stückle L, Jung A. et al. Wählen wir die richtigen Mittel zur Zwangsvermeidung – eine Befragung von psychiatrischen Patienten mit Zwangserfahrung zur potenziellen Nützlichkeit milderer Mittel. Psychiat Prax 2021; 48: 301-308
  • 9 Radovic M, Debus S. Zur Kommunikationsstruktur von Gefährdungssituationen – PART II: „Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie“ (SRZP). Psychiat Prax 2019; 46: S21-S28
  • 10 Bock auf Dialog? “Mit den Schwächsten beginnen?!” https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/67651 „Vermeidung von Zwang“ https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/66950

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Bock
Zentrum für Psychosoziale Medizin,Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistr. 52
20251 HamburgDeutschland
Email: bock@uke.de

Publication History

Article published online:
05 March 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Dreßing H, Salize HJ. Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker in den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Psychiat Prax 2004; 31: 34-39
  • 2 Flammer E, Hirsch S, Thilo N, Steinert T. “Our Patients Are Different”: Predictors of Seclusion and Restraint in 31 Psychiatric Hospitals. Front Psychiatry 2022; 13: 791333
  • 3 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Stellungnahme zur Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen. Dt. Ärztebl 2013; 110: 1334-1338
  • 4 Kisely S, Hall K. An updated meta-analysis of randomized controlled evidence for the effectiveness of community treatment orders. Can J Psychiatry 2014; 59: 561-564
  • 5 Schöttle D, Schimmelmann BG, Karow A. et al. Effectiveness of integrated care including therapeutic assertive community treatment in severe schizophrenia spectrum and bipolar I disorders: the 24-month follow-up ACCESS II study. J Clin Psychiatry 2014; 75: 1371-1379
  • 6 Rosemann M. Engagierte Leistungserbringer übernehmen regionale Verantwortung: Qualitätssicherung im Gemeindepsychiatrischen Verbund. In: Aktion Psychisch Kranke (APK) (Hrsg). Kooperation und Verantwortung in der Gemeindepsychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2008: 84-93 https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/66428
  • 7 Hwang SW, Stergiopoulos V, O’Campo P. et al. Ending homelessness among people with mental illness: the At Home/Chez Soi randomized trial of a Housing First intervention in Toronto. BMC Public Health 2012; 12: 787
  • 8 Heumann K, Stückle L, Jung A. et al. Wählen wir die richtigen Mittel zur Zwangsvermeidung – eine Befragung von psychiatrischen Patienten mit Zwangserfahrung zur potenziellen Nützlichkeit milderer Mittel. Psychiat Prax 2021; 48: 301-308
  • 9 Radovic M, Debus S. Zur Kommunikationsstruktur von Gefährdungssituationen – PART II: „Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie“ (SRZP). Psychiat Prax 2019; 46: S21-S28
  • 10 Bock auf Dialog? “Mit den Schwächsten beginnen?!” https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/67651 „Vermeidung von Zwang“ https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/66950

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