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DOI: 10.1055/a-2167-8832
Interview mit Professor Dr. Peter Hüttl zu juristischen Fragen aus dem Endoskopiealltag
Ute Pfeifer: Ob in der Klinik oder in der Praxis: vielerorts fehlt Personal, um die medizinische Versorgung sicherzustellen. 2022 verließen 2290 Ärztinnen und Ärzte Deutschland und nahmen einen Job in den USA, in der Schweiz oder in Österreich an [1]. Unzufriedenheit zieht auch jedes Jahr viele Pflegekräfte ins Ausland. Schon der Vergleich Pflegeperson vs. Anzahl der zu pflegenden Patienten ist in Deutschland im Vergleich zum europäischen Ausland am höchsten. Auch hinsichtlich der Anerkennung des Pflegeberufes zieht es Pflegende ins Ausland [2].
Vor diesem Hintergrund ist es eine tägliche Herausforderung, die hohen Qualitätsanforderungen und die Sorgfaltspflicht zu erfüllen und eben nicht aus Zeitmangel oder wegen Personalmangel über Qualitätsstandards hinwegzusehen. In der Hektik können Fehler oder Beinah-Fehler passieren.
Es ist mir eine große Freude, Herrn Professor Dr. Peter Hüttl für dieses Interview gewonnen zu haben.
Herr Professor Hüttl, Sie sind Fachanwalt für Arbeits- und Medizinrecht.
Zudem sind Sie Autor mehrerer Fachbücher und zahlreicher Publikationen in medizinischen und juristischen Fachzeitschriften. Sie sind stellvertretender Leiter einer Schlichtungsstelle und ausgebildeter Mediator. Was macht ein Mediator?
Professor Hüttl: Ein Mediator ist nach der Legaldefinition in § 1 Abs. 2 Mediationsgesetz eine unabhängige und neutrale Person ohne Entscheidungsbefugnis, die die (streitenden) Parteien durch ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren führt, mit dem Ziel, dass die Parteien mithilfe des Mediators freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben (= Mediation, vgl. § 1, Absatz 1, Mediationsgesetz). Zweck der Mediation ist somit, dass die Parteien selbst eine Lösung ihres Konfliktes erarbeiten, der Mediator trifft hingegen keine Entscheidung. Aufgabe des Mediators ist somit die Parteien durch gemeinsame oder auch getrennte Gespräche etc. bei der Konsensfindung und der Erarbeitung einer Lösung zu unterstützen. Ebenso bietet ein Mediator Hilfestellungen dabei, dass die Parteien überhaupt wieder miteinander konstruktiv sprechen können und vermittelt zwischen ihnen. Er vertritt hier auch nicht wie ein Rechtsanwalt einseitig die Interessen nur einer Partei, sondern hat vielmehr die Interessen beider Parteien im Blick, indem er auf Fairness und eine Lösungsfindung achtet, die nicht zum alleinigen oder überwiegenden Vorteil nur einer Partei ist.
Ute Pfeifer: Ich habe für das Interview mit Ihnen vier Aspekte aus dem Alltag ausgewählt. Arbeitnehmerhaftung, telefonische Anordnung von Bedarfsmedikation, Patient missachtet postendoskopische Verhaltensvorgabe und die elektronische Patientenaufklärung.
Aus Ihrer anwaltlichen Praxis sind Ihnen sicher viele Beispiele für Fehler in der Behandlung von Patienten bekannt. Wie sieht es haftungsrechtlich im folgenden Fall aus:
In einem Endoskopieraum wird nach einer beendeten endoskopischen Intervention in Narkose, wieder der „Regelbetrieb“ aufgenommen und der nächste Patient wird in Analgosedierung, die der Anästhesist durchführt und überwacht, endoskopiert. Dabei kommt es zu einem Sauerstoffsättigungsabfall, obwohl dem Patienten von Anfang an die Sauerstoff-Nasensonde angelegt wurde. Ursache war, dass der Verbindungsschlauch nicht wieder in den zentralen Sauerstoff-Gasanschluss eingesteckt war. Das vorherige Narkoseteam hatte diesen Wandanschluss für ihr Narkosegerät verwendet und nach Ende der Narkose ihren Verbindungsschlauch und das Narkosegerät aus dem Endoskopieraum entfernt, ohne die ursprüngliche O2-Versorgungssituation für die Endoskopie wieder herzustellen.
Käme es in so einem Fall zu einem Schaden für den Patienten, wer würde zur Verantwortung gezogen werden?
Professor Hüttl: Vorliegend handelt es sich um ein arbeitsteiliges Zusammenwirken zwischen dem die Endoskopie durchführenden Arzt und dem die Analgosedierung durchführenden Anästhesisten im Rahmen sog. horizontaler Arbeitsteilung. Horizontale Arbeitsteilung liegt vor, wenn die Behandlung durch unterschiedlichen Fachgebieten angehörenden Ärzte erfolgt. Diese werden in je eigener fachlicher Verantwortung tätig. Hierbei gilt regelmäßig der Vertrauensgrundsatz, d. h. jeder Arzt hat denjenigen Gefahren zu begegnen, die in seinem Aufgabenbereich entstehen, und solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen des anderen Arztes erkennbar werden, darf man sich darauf verlassen, dass auch der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt, ohne dass insoweit eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht.
Nach der Rechtsprechung gehören im Rahmen einer Operation u. a. zum alleinigen Verantwortungsbereich des Anästhesisten die Vorbereitung und Durchführung der Narkose, die Erkennung und Behandlung spezifischer Anästhesiekomplikationen sowie eine gefahrenvorbeugende Kontrolle in der operativen Phase. Meiner Auffassung nach ist somit grundsätzlich allein der Anästhesist dafür verantwortlich sicherzustellen, dass die Analgosedierung ordnungsgemäß vorbereitet wird und die für ihre ordnungsgemäße Durchführung erforderlichen instrumentellen/gerätetechnischen Voraussetzungen vorliegen. Auch die Überwachung der Vitalfunktionen, sowie das Erkennen und die Behandlung spezifischer Anästhesiekomplikationen obliegt allein dem Anästhesisten.
Der Vertrauensgrundsatz gilt allerdings zum einen nur, solange keine konkreten Anhaltspunkte für ernsthafte Zweifel an der sorgfältigen Tätigkeit des fachfremden Arztes bestehen. Dies bedeutet, dass der endoskopierende Arzt bei sich aufdrängenden Fehlern des Anästhesisten, wie z. B. einer unterlassenen Überwachung des Patienten, verpflichtet ist, diesen entgegenzuwirken.
Zum anderen gilt der Vertrauensgrundsatz nicht bei Koordinationsmängeln und Organisationsfehlern bei der Zusammenarbeit. Denn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bedarf es hier zum Schutz des Patienten einer Koordination der beabsichtigten Maßnahmen, um Risiken auszuschließen, die sich aus der Unverträglichkeit der von den beteiligten Fachrichtungen vorgesehenen Methoden oder Instrumente ergeben könnten (vgl. BGH, Urteil vom 26.01.1999 – VI ZR 376/97).
Eine Haftung des die Endoskopie durchführenden Arztes käme aus meiner Sicht somit nur dann in Betracht, wenn eine Berufung auf den Vertrauensgrundsatz ausscheidet.
Ute Pfeifer: Es kommt im Alltag häufig telefonisch zu ärztlichen Anordnungen von Bedarfsmedikamenten oder zur Anordnung eines Antibiotikums.
Wenn die Pflegeperson mit entsprechend abgeschlossener Ausbildung – aus verschiedenen Gründen – die Anordnung missversteht und es dadurch zu einem Schaden kommt, beispielsweise zu einem allergischen Schock, wie würde hier haftungsrechtlich entschieden werden?
Professor Hüttl: Im Verhältnis Arzt zu Krankenpflegepersonal liegt aufgrund des Über-Unterordnungs-Verhältnisses eine sog. vertikale Arbeitsteilung vor. Für die Frage der Haftung kommt es somit darauf an, ob die Delegation der Leistung an die nichtärztlichen Mitarbeiter zulässig war. Dabei kommt es darauf an, ob der Arzt diese Aufgabe auf das Pflegepersonal übertragen darf, in welchem Umfang Kontrollen durch den Arzt erforderlichen sind und inwieweit sich das Pflegepersonal auf die Anordnungen des vorgesetzten Arztes verlassen kann.
Hinsichtlich der rechtlich zulässigen Delegation ärztlicher Tätigkeiten an nichtärztliche Mitarbeiter gilt grundsätzlich, dass eine Delegation an nichtärztliche Mitarbeiter nur für solche Leistungen zulässig ist, die der Arzt wegen ihrer Art oder der mit ihnen verbundenen besonderen Gefährlichkeit für den Patienten oder wegen der Umstände ihrer Erbringung nicht höchstpersönlich erbringen muss. Diese Beurteilung obliegt somit stets einer rein medizinischen Entscheidung des Arztes und nicht einer juristischen.
Folglich muss zunächst danach gefragt werden, ob Injektionen und Infusionen überhaupt an nichtärztliches Personal delegiert werden dürfen, was jedoch in Rechtsprechung und Literatur bislang nicht ganz einheitlich beurteilt wird.
Subkutane, intravenöse und intramuskuläre Injektionen und Infusionen können an entsprechend qualifiziertes, d. h. die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen aufweisendes, Krankenpflegepersonal delegiert werden, wenn nicht im Einzelfall wegen besonderer Schwierigkeiten oder bestehender Gefahren für den Patienten die Durchführung durch den Arzt erforderlich ist.
Handelt es sich hingegen um die intravenöse Erstapplikation von Medikamenten, so soll diese nach Auffassung der Bundesärztekammer nicht delegationsfähig sein, sondern muss durch den Arzt vorgenommen werden. Auch die Zulässigkeit einer Delegation der Applikation von Medikamenten oder Infusionen über einen Port ist aus Sicht der Bundesärztekammer abhängig von der applizierten Substanz und der Qualifikation und Erfahrung des nichtärztlichen Mitarbeiters (vgl. [2], S. 8).
Ob und an wen der Arzt eine Leistung delegiert, ob er den betreffenden Mitarbeiter besonders anzuleiten und wie er ihn zu überwachen hat, muss der Arzt von der jeweiligen Qualifikation des Mitarbeiters abhängig machen.
Liegt eine delegationsfähige Leistung vor und wird an einen Mitarbeiter delegiert, der – wie in Ihrem Beispiel – über eine abgeschlossene, ihn dazu befähigende Ausbildung in einem Fachberuf im Gesundheitswesen verfügt, kann der Arzt sich in der Regel darauf beschränken, die formale Qualifikation des Mitarbeiters anhand von Zeugnissen festzustellen und sich zu Beginn davon zu überzeugen, dass dessen Leistungen auch die hiernach entsprechende Qualität aufweisen. Gegebenenfalls hat er ihn bei nicht ausreichender Qualität nachzuschulen, eingehender zu überwachen oder letztendlich bei Nichterfüllung der Anforderungen von einer Delegation abzusehen (vgl. [2], S. 4).
Stets gilt jedoch, dass bei der Erbringung delegierter Leistungen durch nichtärztliche Mitarbeiter der Arzt verpflichtet ist, sich grundsätzlich in unmittelbarer Nähe (Rufweite) aufzuhalten.
Da die Anordnung und Überwachung der Leistung in der Pflicht des Arztes liegen, wird ihm unabhängig von der Delegation diese Leistungen weiterhin zugerechnet. Den Arzt trifft deshalb bei grundsätzlich zulässiger telefonischer Medikamentenanordnung das Anordnungs- und/oder Überwachungsverschulden. Der Arzt ist im Rahmen der vertikalen Arbeitsteilung verpflichtet, gegen die damit verbundenen besonderen Gefahrenquellen, wie Informationslücken oder Missverständnisse, vorzusorgen. Er ist und bleibt für die Leistung vollumfänglich verantwortlich, sodass er im Falle eines Fehlers haftet. Das nichtärztliche Krankenpflegepersonal haftet immer bei einem eigenen Fehler, also wenn ihm eigenes Verschulden vorgeworfen werden kann, beispielsweise wenn es die Anordnung des Arztes nicht sorgfältig ausführt oder wenn es die Fehlerhaftigkeit der Anordnung erkennt bzw. diese offensichtlich ist und sie trotzdem ausführt.
Ute Pfeifer: Selbst wenn es z. B. das richtige Antibiotikum oder Schmerzmittel ist, kann sich die Pflegeperson eigentlich darauf verlassen, dass die anordnende Ärztin/der anordnende Arzt die Verträglichkeit geprüft hat? Oder ist die ausführende Pflegeperson dazu verpflichtet?
Professor Hüttl: Meiner Auffassung nach gehört das Fragen nach Medikamentenunverträglichkeiten zur Anamnese. Die Anamnese steht unter dem Arztvorbehalt, sodass diese Aufgabe des Arztes ist und nicht an nichtärztliches Personal delegiert werden darf. Im Rahmen der vertikalen Arbeitsteilung darf sich das Pflegepersonal somit auf die ordnungsgemäße Anordnung bzw. Leistungserbringung durch den Arzt verlassen, es sei denn, es bestehen Anhaltspunkte bzw. begründete Zweifel hieran. Selbstverständlich ist die Pflegeperson aber nach Medikamentengabe verpflichtet, auf etwaige Medikamentenunverträglichen zu achten und diese dem Arzt unverzüglich mitzuteilen.
Ute Pfeifer: Viele Patienten kommen ambulant zu einer Endoskopie und hin und wieder ist dem Patienten nicht klar, oder er/sie hat es vergessen, dass man nach einer Endoskopie mit Sedierung nicht sofort wieder Auto fahren darf. Können Sie kurz die haftungsrechtliche Aufarbeitung schildern, wenn ein Patient nach Endoskopie mit Sedierung sagt, dass er mit dem Auto nach Hause fahren wird und in der Folge eine Radfahrerin übersieht. Die Radfahrerin wird bei dem Unfall verletzt. Kommt eine Haftung des Arztes bzw. des Klinikpersonals in Betracht?
Professor Hüttl: Der Bundesgerichtshof hat bereits mit seinem Urteil vom 08.04.2003 – VI ZR 265/02 entschieden, dass der Arzt bei einer ambulanten OP durch die Sedierung oder Anästhesie den Patienten in eine Art Gefahrenlage setzt und er deshalb dafür verantwortlich ist, dass der Patient ordnungsgemäß überwacht wird, um zu gewährleisten, dass der Patient nicht zu Schaden kommt, wodurch eine gesteigerte Überwachungspflicht für den Arzt nach der ambulanten OP begründet wird. Der Arzt muss somit nach der BGH-Entscheidung aufgrund der ihm bekannten und von ihm geschaffenen gefahrerhöhenden Umstände und der hierdurch ihm obliegenden Fürsorgepflicht, dafür sorgen, dass der Patient sich nicht selbst in Gefahr bringen kann.
Ist also insbesondere die Tauglichkeit für den Straßenverkehr für einen längeren Zeitraum erheblich eingeschränkt, ist durch den Arzt anhand geeigneter Maßnahmen sicherzustellen, dass sich der Patient nach der durchgeführten Behandlung nicht unbemerkt entfernt und sich dadurch der Gefahr einer Selbstschädigung aussetzt. Damit ein Patient ohne Begleitung entlassen werden kann, muss er also aus Sicht des BGH sog. „street ready“ sein.
Nach obiger Rechtsprechung sind jedenfalls an die Überwachung sedierter/anästhesierter Patienten bei ambulanter Behandlung meiner Auffassung nach die Anforderungen zu stellen, dass zum einen die Überwachung des Patienten in einem gesonderten Aufwachraum sichergestellt wird, um dessen ständige Beobachtung zu gewährleisten und um ihn erinnern zu können, dass er die Praxis nicht eigenmächtig verlassen darf.
Zum anderen ist immer sicherzustellen, dass der Patient nicht allein nach Hause geht oder fährt, weshalb die Inobhutnahme des Patienten durch Übergabe an eine Betreuungsperson geboten ist.
Deshalb ist aus juristischer Sicht zwingend anzuraten, dass bereits vor dem Eingriff überprüft wird, ob der Heimtransport begleitet wird und sodann eine 24-Stunden-Überwachung gewährleistet ist. Wie gesagt, die Überwachung in einem Aufwachraum und die Übergabe des Patienten in die Obhut einer Begleitperson sind meiner Auffassung nach stets dringlich geboten. Sowohl der Patient als auch die Begleit- und/oder Betreuungsperson müssen im Rahmen der Sicherungsaufklärung über das Verhalten nach dem Eingriff aufgeklärt werden. Eine schriftliche Bestätigung der Begleit-/Betreuungsperson über den Erhalt der entsprechenden Anweisungen sowie die Übernahme der Betreuung für 24 Stunden sollte ebenfalls eingeholt werden.
Wird vor dem Eingriff festgestellt, dass entgegen der Vereinbarung keine Begleitperson den Patienten abholt oder die 24-stündige Überwachung nicht sichergestellt ist, so ist aus juristischer Sicht zwingend zu raten, den Eingriff nicht an diesem Tag durchzuführen. Ansonsten kann im Schadensfall eine Haftung des Arztes bzw. des Klinikpersonals wegen Verletzung der Überwachungspflicht zumindest aus Deliktsrecht drohen. Sollte es sich um einen Notfall handeln, so müsste dieser dann stationär durchgeführt werden.
Stellt sich die Situation so dar, dass der Patient niemanden hat, der ihn nach Hause begleitet, sondern er mit dem Taxi nach Hause gebracht werden muss, zu Hause aber eine Betreuungsperson anwesend ist, so muss meiner Ansicht nach dann jedenfalls die Anweisung an den Taxifahrer ergehen, dass er zum einen den Patienten bis zur Wohnungstür begleiten muss und zum anderen er der zu Hause wartenden Betreuungsperson die ihm mitzugebenden schriftlichen Instruktionen auszuhändigen hat.
Eine sorgfältige Dokumentation dieser Maßnahmen zur Sicherstellung der Fürsorgepflicht wird aus Gründen der Beweissicherung unbedingt angeraten.
Ute Pfeifer: Monat für Monat müssen kartonweise Aufklärungsbögen bestellt und gelagert werden. Bestenfalls auch noch in verschiedenen Sprachen, da der Anteil nicht deutschsprechender Patienten stark zugenommen hat. Hinzu kommt nach dem Patientenrechtegesetz das Kopieren von unterschriebenen Dokumenten zur Rückgabe an den Patienten. Ist die elektronische Patientenaufklärung die Lösung? Was ist bei der digitalen Aufklärung zu beachten?
Professor Hüttl: Durch eine digitale Patientenaufklärung kann sicherlich der Papieranfall erheblich reduziert werden. Allerdings sind meiner Einschätzung nach jedenfalls drei wichtige Punkte zu berücksichtigen:
Stets zu beachten ist zum einen, dass sowohl nach dem Gesetz (§ 30e, Absatz 2, Satz 1 Nr. 1, BGB) als auch nach der ständigen Rechtsprechung allein ein mündliches Aufklärungsgespräch zwingende Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Aufklärung ist. Eine bloße Formularaufklärung anhand von Aufklärungsbögen, sei es in Papier- oder digitaler Form, kann das mündliche Aufklärungsgespräch nicht ersetzen und wird in keinem Fall von der Rechtsprechung und dem Gesetz als ausreichend angesehen. Ein Aufklärungsbogen mit schriftlicher Einwilligung wird von der Rechtsprechung zwar als Indiz dafür angesehen, dass ein Aufklärungsgespräch stattgefunden hat. Dennoch ist stets ein mündliches, ausführliches Aufklärungsgespräch notwendig, dass auch die Person des Patienten beim Aufklärungsgespräch berücksichtigt, damit eine wirksame Aufklärung vorliegt. Allein entscheidend ist damit, dass der Arzt die mündliche Aufklärung ordnungsgemäß durchführt. Selbstverständlich kann er sich bei der Durchführung der Aufklärung an einem digitalen Aufklärungsbogen orientieren. Weder schriftliche noch digitale Aufklärungsbögen sind aber eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Aufklärung, sondern dienen lediglich Beweiszwecken bezüglich des Ob und des Inhalts des Aufklärungsgesprächs.
Zum anderen ist zu beachten, dass durch das 2013 eingeführte Patientenrechtegesetz in § 630f Absatz 1 Sätze 2 und 3 BGB ausdrücklich normiert und klargestellt wurde, dass die Patientenakte zwar auch elektronisch geführt werden kann, allerdings nachträgliche Berichtigungen und Änderungen nur zulässig sind, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen wurden. Insbesondere aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass dies durch den Einsatz einer Software sicherzustellen ist, die nachträgliche Änderungen automatisch kenntlich machen muss (sog. revisionssichere Software).
Der BGH hat nunmehr mit aktuellem Urteil vom 27.04.2021 – VI ZR 84/19 verdeutlicht und abschließend entschieden, dass einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Absatz 1 Satz 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, also nicht revisionssicher ist, gerade keine positive Indizwirkung dahingehend zukommt, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist. Eine automatische Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes hat der BGH zwar glücklicherweise abgelehnt. Jedoch hat er ausdrücklich festgehalten, dass einer solchen Dokumentation die abstrakte Beweiskraft fehlt (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 28, 29).
In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass auch berufsrechtlich bereits seit Jahren die Pflicht besteht, dass Aufzeichnungen auf elektronischen Datenträgern oder anderen Speichermedien besonderer Sicherungs- und Schutzmaßnahmen bedürfen, um deren Veränderung, Vernichtung oder unrechtmäßige Verwendung zu verhindern. Hierbei sind die Empfehlungen der jeweils zuständigen Ärztekammer zu beachten (vgl. § 10, Absatz 5, M-BO sowie die entsprechenden Übernahmen in den Berufsordnungen der Länder).
Insofern ist aus meiner juristischen Sicht somit zwingend anzuraten, auf die Verwendung einer revisionssicheren Software bei elektronisch geführter Patientenakte zu achten, da dies eine gesetzliche und berufsrechtliche Pflicht ist. Für die Revisionssicherheit ist jedenfalls zu gewährleisten, dass neben dem Inhalt der nachträglichen Änderung auch der ursprünglich dokumentierte Inhalt sowie der Zeitpunkt der Änderung erkennbar sein muss.
Zu guter Letzt muss man das Augenmerk auf den Beweiswert der digitalen Aufklärungsbögen legen.
Im Rahmen eines Zivilprozesses, beispielsweise wegen eines Behandlungs- oder Aufklärungsfehlers, gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Hierbei trifft das Gericht seine Entscheidung aufgrund der Berücksichtigung des gesamten Sachvortrags sowie aller Beweise nach freier Überzeugung. Der Urkundenbeweis gilt dabei grundsätzlich als starkes Beweismittel. Die Patientendokumentation, und damit insbesondere auch auf Aufklärungsbögen unterschriebene Einwilligungserklärungen, gehören i.d.R. zu den Privaturkunden, die den vollen Beweis dafür begründen, dass die in ihnen enthaltenen Erklärungen von dem Aussteller abgegeben sind. Der Beweiswert einer solchen Urkunde ist jedoch an die strengen Voraussetzungen der Authentizität sowie der Integrität geknüpft. Authentizität bedeutet, dass die Urkunde ihren Aussteller erkennen lassen muss. Unter Integrität versteht man, dass die Urkunde im Nachhinein nicht mehr veränderbar sein darf.
In § 371a, ZPO wird ausdrücklich geregelt, wann elektronische Dokumente die Beweiskraft einer Privaturkunde besitzen. Dies ist der Fall, wenn diese mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind. Nur eine solche bietet sowohl die geforderte Authentizität als auch Integrität für einen hohen Beweiswert und stellt eine rechtsgültige Unterschrift dar. Die technischen Anforderungen ergeben sich aus der Verordnung über „elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt“ (eIDAS-VO) i. V. m. dem eIDAS-Durchführungsgesetz.
Von der Rechtsprechung werden deshalb unmittelbar am PC/Tablet hergestellte Dateien, die mit einer solch qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind, wie Urkunden behandelt. Ihnen kommt somit der urkundenimmanente hohe Beweiswert zu und in einem solchen Fall können meiner Auffassung nach grundsätzlich auch keinerlei Nachteile gegenüber der schriftlichen Patientenakte hergeleitet werden. Denn nach § 371a Absatz 1 Satz 2 ZPO kann der Anschein der Echtheit einer in elektronischer Form vorliegenden Erklärung, der sich auf Grund der Prüfung der qualifizierten elektronischen Signatur nach Artikel 32 der VO ergibt, nur durch Tatsachen erschüttert werden, die ernstliche Zweifel daran begründen, dass die Erklärung von der verantwortenden Person abgegeben worden ist.
Es muss somit im Hinblick auf die Unterschriftsleistung des Patienten zwingend geprüft werden, ob tatsächlich eine solch qualifizierte elektronische Signatur auf dem Tablet erfolgt, wie eIDAS-VO i. V. m. Durchführungsgesetz sie definiert. Eine einfache oder eine fortgeschrittene elektronische Signatur sind jedenfalls aus meiner Sicht nicht ausreichend. Eine Rechtsprechung zur eIDAS-VO ist mir bislang nicht bekannt, sodass ich hier nur meine Rechtsaufassung darstelle, die nicht als abschließend gesichert betrachtet werden kann.
Es darf letztendlich aus meiner Sicht nicht möglich sein, eine elektronische Unterschrift zu fälschen oder zu manipulieren. Im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung muss ein Sachverständiger die biometrischen Daten der Unterschrift analysieren und deren Echtheit nachweisen können. Zudem muss sichergestellt werden, dass das Dokument bei der Archivierung nachträglich und unbemerkt nicht verändert oder manipuliert werden kann. Nur wenn diese hohen Sicherungsmaßnahmen erfüllt sind, kann einem digital signierten Aufklärungsbogen meiner Einschätzung nach kein geminderten Beweiswert gegenüber der handschriftlichen Dokumentation zukommen, solange dieser zumindest nicht durch ernstliche Zweifel, dass die Unterschrift vom Patienten stammt, nach § 371a Absatz 1 Satz 2 ZPO erschüttert werden kann.
Ute Pfeifer: Herr Professor Hüttl, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch
Publication History
Article published online:
21 February 2024
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Literatur
- 1 https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Ueber_uns/Statistik/AErztestatistik_2022_09062023.pdf (Zugriff 17.01.2024)
- 2 http://www.pflege-wandert-aus.de/